aasee(Bildquelle: Google Earth)

Bei einem Matcha-Tee und unter dem Eindruck eines herrlichen 16-Kilometer-Laufes gestern schreibe ich diese Zeilen. Obiges Bild zeigt den Aasee, die nächste Station meiner Laufkarriere.

2002 kam ich in die Verlegenheit zu studieren und zog zu diesem Anlass aus einem Vorort Münsters in die Innenstadt. Wobei Innenstadt blanker Hohn ist, lag das inzwischen zurecht abgerissene Studentenwohnheim doch eher am Rande, und zwar am Süd-Ende des Aasees. So war klar, dass ich meine Lauf-Fortschritte dort ausbauen würde. Natürlich habe ich keine Ahnung mehr, wie viel Kilometer eine Umrundung umfasst. 5,8? Diese Zahl schwebt mir noch vor, doch anfänglich bin ich nur um den halben Aasee gelaufen, was eine Brücke möglich machte. Im zweiten Teil dieser aufregenden Serie schrieb ich bereits von Monotonie, die sich beim Laufen ergibt, tut man eben dieses immer im Kreis. Ich tat dies monatelang. Jeden verdammten Tag um den halben Aasee. Ohne zu merken, dass ich immer langsamer wurde.

Monoton war es einmal allerdings nicht. Rund 17 Quadratmeter hatte ich im Studentenwohnheim, das liebevoll und euphemistisch „Boeselburg“ genannt wurde und nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 gelegentlich von Polizeirazzien heimgesucht wurde, zur Verfügung. Die kommen einem, wenn man betrunken ist, nicht größer vor, sind aber erträglicher. Und so ergab es sich, dass ich mich mit meinem besten Kumpel Pavel, heute noch mein Nachbar, dort einmal herrschaftlich betrank. Tief in der Nacht, Pavel war schon zurück in sein Zimmer gestolpert, beschloss ich, laufen zu gehen. So muss es gewesen sein, denn ich konnte und kann es nur rekonstruieren, da mein Verstand sich bereits dem Wein versprochen hatte. Rekonstruieren mit Pavels Hilfe am nächsten Tag, denn sein Zimmer lag über dem Haupteingang des Gebäudes. Und offenkundig hatte ich gekleidet im Laufanzug das Bedürfnis der Welt unten im Hof (also vor Pavels Fenster) mitzuteilen, dass ich a) betrunken und b) bereit für einen Lauf bin. Nachts um vier Uhr. Von wegen, Alkohol macht müde. Ich verfiel einem gewissen Aktionismus.

Ich selber weiß von der anschließenden Halbumrundung des Aasees nicht mehr viel. Ich habe nur eine Szene vor Augen, in der ich feststelle, dass es um vier Uhr nachts noch recht dunkel ist. Aus dieser Erinnerung konnte ich schließen, dass ich den See tatsächlich halb umrundete. Wie effizient, das weiß nur Gott. Und Pavel, denn auch meine Rückkehr verkündete ich wohl gröhlend vor seinem Fenster, wie er mir tags darauf zu berichten wusste. Und natürlich war ich nicht unstolz und vielleicht auch erleichtert darüber, dass ich nicht in den See geriet und ertrank.

Ein anderes Mal beschloss ich auf einer eher langweiligen Party, laufen zu gehen. Grund war mein Wochen-Soll, das ich sonst nicht erreicht hätte. Ich war nicht betrunken genug, denn ich stellte beim Laufen in Zivilkleidung (dicker Woll-Pulli) fest, dass es irgendwie nicht geht. So lief ich letztlich vielleicht einen Kilometer. In Straßenschuhen. Leider weiß ich nicht mehr, ob ich diesen Lauf mitzählte und das Wochen-Soll damit erfüllt sah. Ich las heute noch einen Artikel über die Planwirtschaft in der DDR. Die VEBs haben mit ähnlichen Tricks gearbeitet, um das Plansoll zu erfüllen. Ich Sozialist!

Um nicht weiterhin mit Details zu langweilen, springe ich ein Jahr weiter. Die Komplettumrundung des Sees war Standard und langweilig geworden. Es war Frühjahr und optimales Laufwetter ähnlich dem gestrigen. Schön heiß, aber nicht schwül. Und ich kam aus dem Nichts heraus auf die Idee, einfach mal ziellos irgendwo hin zu laufen. Ich nenne diese Läufe noch heute „Entdeckungsläufe“. Düsseldorf, wo ich seit sieben Jahren lebe, habe ich auf diese Weise bis in jeden Winkel kennengelernt. Ob Benrath im Süden oder Lohausen im Norden – die Stadt ist gerade noch klein genug, um alles laufend erreichen zu können. Der Reiz dieser Läufe, die bei mir 15 bis 36 Kilometer umfassen, liegt darin, sich zwischendurch zu verirren. Ist mir jüngst gestern passiert. Wollte nur den Unterbacher See in Düsseldorf umrunden, lief dann aber noch um einen zweiten See, um einen dritten zu entdecken. Bei dem verlief ich mich dann, sodass ich kurz panisch wurde, weil ich noch nicht bereit für 30 Kilometer in diesem Jahr bin, und Passanten nach dem Weg fragen musste. Der Umweg hat mir zwei Kilometer gebracht und ein heiteres Lachen über die eigene Doofheit. Ist dann immer nett, zuhause am Rechner zu sehen, wo man sich wie verlaufen hat. Aber das macht es aus und das erlebte ich damals oft in und um Münster. Das so genannte runner’s high ist meines Wissenstands nach nicht wissenschaftlich untermauert, aber ich habe es damals zum ersten Mal erlebt. Diesen Moment, wo man glaubt, man könne ewig so weiterlaufen. Das kippt natürlich irgendwann, zumal man unfassbaren Durst verpürt. Aber auch der macht es aus. Der Moment, wo man zuhause die Flasche an den Mund setzt und literweise trinkt.

In der Folge setzte ich mir zum Ziel, von zuhause aus laufend jeden Stadtteil zu erlaufen. In Münster liegen die Stadtteile oftmals mehrere Kilometer von der Innenstadt entfernt. Man läuft durch Felder und anderes Grün, was es wirklich zu einem Erlebnis macht.

Damals, wir hatten ja nicht viel, hatte GPS noch nicht die Massen erreicht und so gehörte es dazu, nach einem mehrstündigen Lauf auf Falk-Karten die Läufe nachzuzeichen und zu vermessen. Hat so lange gedauert wie der Lauf selbst. Dann kam Google Earth, eine Sensation. Aber auch da musste man den Weg mit der Maus nachvollziehen, um eine grobe Messung zu erhalten. Und das abgespeichert als JPEG sah dann so aus:

Großer Lauf nach Coerde (über Schleuse) 23.04.06

Lauf durch Kinderhaus (Google Earth 13,6 km) 26.11.06

Oben ein zusammengebastelter Falk-Plan, unten dann Google Earth. Das habe ich bis vor 1,5 Jahren auf diese Weise getan, bis ich dann meine TomTom-GPS-Uhr hatte, die das übernimmt.

DSCN2605Gerade noch dieses „Selfie“ gefunden. Es zeigt drei wesentliche Dinge: meinen ersten vernünftigen Laufanzug, den ich zehn Jahre trug. Pooh, den Bären, der verhindern sollte, dass beim Sex diese Bettstange gegen die Wand kracht (Er tut es heute noch! Immer wieder unpassend lustig, wenn man ihm – oben liegend – ins Gesicht guckt. Oder wenn er runterfällt und sich in das Treiben einmischt. Da steht dann nichts mehr.) und eben die Karte Münsters, auf der ich Läufe nachvollzog.

Die Tasse Matcha-Tees geht zuneige. Zum Schluss bleibt immer ein bitterer Rest Matcha-Satzes, den ich runterwürgen muss.

Wegen einer gewissen Umstellung meines Laufstils hatte ich gestern nach langer Zeit wieder einen solchen Lauf, eben um die oben erwähnten drei Seen:

Drei-Seen-Lauf (Unterbacher See, Elbsee, Menzelsee) 16km 08.06.15

Im Südwesten seht Ihr die kleine Schlaufe; dort hab‘ ich mich dezent verlaufen. Aber es hat mich zurückerinnert (man erinnert sich ja meist „zurück“) an die gute alte Laufzeit, als es noch neu für einen war. Wo man feststellt, dass es albern ist, jeden Tag dieselbe Strecke zu laufen. 2004 war mein Erweckungsjahr, was das anging und seitdem pflege ich jedes Frühjahr bis zum Herbst diese Tradition der „Entdeckungsläufe“, für die ich mir, sofern nicht eh Wochenende ist, sogar frei nehme. Weil’s geht. Und man muss sich frei nehmen, weil es zeitintensiv werden kann, wie vor zwei Jahren, als ich beschloss, zum Düsseldorfer Flughafen zu laufen. Das an sich ist schon mal recht weit, vor allem, wenn man sich zwischendurch verirrt (es geht ja beim Laufen nicht um den kürzesten Weg). Schlimm verirrt hatte ich mich allerdings auf dem Flughafen-Gelände selbst: Es ist das eine, ihn mit dem Auto zu verlassen, aber zu Fuß gibt es nur zwei Wege. Über den einen war ich gekommen, den anderen fand ich erst nach einer Stunde des Rumirrens. Ich lief letztlich 36 Kilometer an diesem Tag. Solche Läufe bleiben unvergessen.