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Ein Turnbeutel ist ein Beutel, der zum Transport von Turnschuhen, Turnhose und -hemd sowie Trainingsanzug dient. -wikipedia

Turnbeutelverlierer gilt als Schimpfwort für Männer mit weiblicher Körpersprache. -ebd.

Über meine Körpersprache müssen andere urteilen, meine Mitbewohnerin findet sie mitunter „sexy“, aber ich fürchte, sie will mir nur schmeicheln. Denn meiner motorischen Fähigkeiten bin ich mir eigentlich bewusst. Ich erinnere mich aus gutem Grund an meine letzte Schulsportstunde gegen Ende der Oberstufe. Neun Jahre des Leidens, des wirklichen Leidens, hatten ein Ende gefunden. Neun Jahre der Demütigungen nach Stundenplan. Zweimal pro Woche, eine Einzel- sowie eine Doppelstunde, voller Entwürdigungen. Ein komplexes Thema für mich, an dem ich mich eigentlich abgearbeitet habe, das aber heute wieder Wunden aufreißen wird.

Mein Hirn scheint in der Lage zu sein, den Alltag im Großen und Ganzen in Zusammenarbeit mit Händen und Füßen zu bewältigen; die notwendigsten Herausforderungen wie Bordsteinkanten oder Ecken des Bettes führen nur selten zu kleineren Unfällen (Wer ist noch nicht mit seinem äußersten Zeh gegen das Bett gestoßen?). Doch kommt ein Ball ins Spiel, schalten sich ganze Hirnregionen aus.

Schulsport war für mich die Hölle und das permanente Vergessen des Turnbeutels war nicht nur auffällig, sondern irgendwann auch nicht mehr zielführend, da unsere Schule für solche Fälle irgendwann einen Ersatzturnbeutel bereitstellte mit Klamotten, die man noch weniger tragen wollte, als gar nicht am Sportunterricht teilzunehmen. Und neben dem Klischee des vergessenen Turnbeutels gibt es noch das des Auswählens von Mannschaften, bei denen ein bis zwei Schüler bis zuletzt auf der Bank verweilen durften – wie auf einer Viehauktion, bei der niemand bereit ist, für einen zu bieten. Es ist so ein billiges Klischee, und doch bin ich es in personifizierter Ausgabe. Und ich hatte vollstes Verständnis für das Zögern meiner sportlichen Mitschüler, mich in ihre Mannschaft zu wählen. Noch vor dem eigentlichen Wettkampf fand ein Wettbewerb darum statt, welche Mannschaft mich nicht als schwächstes Mitglied aufnehmen muss.

Egal, ob Fußball, Handball oder Basketball: kommt ein Ball auf mich zu, reagiere ich entweder gar nicht (so mache ich es heute) oder mit unauffälligen Fluchtbewegungen (früher). „Oh, ich muss mir mal kurz den Schuh zubinden“, funktionierte als Ausrede ganz gut, wurde aber von der Schuhindustrie vereitelt, als sie Klettverschlüsse als Trend festlegte. Irgendwie konnte ich die Bälle ja durchaus annehmen, nur stand ich dann vor der Frage: Wohin damit? Ins Tor?! Haha, aussichtslos, dazu müsste ich ja gegen den Ball treten und ihm dabei eine bestimmte Richtung mit auf den Weg geben. Das hat bei mir noch nie funktioniert. Ich konnte zwei Meter vor dem Tor stehen (in diese Verlegenheit sollte man sich aber auf keinen Fall bringen), der Ball landete trotzdem am anderen Ende der Halle. Wenn ich denn überhaupt getroffen habe. Und weil mir damals schon so überaus bewusst war, wie albern es aussieht, wenn man am Ball vorbei tritt, wurde die Sache nur noch unangenehmer. Und nicht immer konnte ich einen Herzanfall im entscheidenden Moment vortäuschen.

Für mich unvergessen ist eine Szene, in der wir (vielleicht in der zehnten Klasse) „Kastenfußball“ gespielt haben. Ich stand im Tor, also vor dem der Länge nach gekippten Kasten, und ließ keinen Ball rein. Ein Erfolg! Auf Kosten meiner feinen Gesichtszüge, denn dreimal in Folge traf mich der Ball mit voller Wucht im Gesicht. Was beim ersten Mal ja noch lustig war, führte bei der dritten AUsführung zu leichten Schwindelgefühlen. Und klar, alle anderen hatte Spaß an meiner unfreiwilligen Slapstick-Einlage, wofür ich absolutes Verständnis hatte, ich mag’s ja wenn ich den ein oder anderen zum Lachen bringe. Den größten Spaß hatte aber Herr Nolte, unser Sportlehrer. Natürlich nannten wir ihn Nick Nolte und er war bekannt dafür, dass er im Muscleshirt von „Wolfskin“ durch die Halle flanierte. Es war so seine Art, die Mädels im Sport nicht ganz ernst zu nehmen und mich zählte er dazu. Beim Basketball war ich ebenfalls ein hoffnungsloser Verlierer. Diese Drei-Schritte-Regel unmittelbar vor dem Korb habe ich samt Sternschritt nie verinnerlichen können. Klar, drei Schritte bekam ich gebacken, jedoch stand ich da bereits schon vor der Wand, der Korb längst hinter mir. Dann den Ball noch zu werfen, ist unsinnig, aber ich tat’s trotzdem. Er traf die Wand, prallte zurück und traf mich. Heiteres Schmunzeln bei den Mitschülern. Ich bekam für Basketball – völlig zurecht! – ein „Ungenügend“, eine Sechs. Da wurde mir deutlich, dass Noten motivieren könnten. Aber ein „Ungenügend“ vermag das nicht zu leisten.

Die Blamage vor den anderen Jungs ist das eine. Und es ist eben die ganz große Frage, wie man sich selbst in so einem Moment verkauft. Man muss in dem Moment den Kasper spielen und zumindest eine gewisse Kühle ausstrahlen. Ganz wichtig: den anderen den Wind aus den Segeln nehmen, alle denkbaren Scherze, die da auf einen zukommen könnten, selber vorwegnehmen. Ich hatte im Reigen der männlichen Mitschüler also wenig Probleme und mit meinem Unvermögen bis zum Erbrechen kokettiert. Mache ich heute noch so.

Anders dagegen verhält es sich gerade in dieser Phase der Spätpubertät gegenüber den Mädels. Wir gehen zurück in die neunte Klasse, als Jungs und Mädchen wieder zusammen Sport machen durften. Leider verhielt es sich nun so, dass meine absolute Traumfrau von damals (aus der 9c) zusammen mit uns, der 9a, Sport machen durfte; die Klassen wurden da aus irgendeinem Grunde gemischt. Weil aber Nick Nolte nie Frauen gegen Männer spielen ließ, saßen die Damen auf der Bank, während schwitzende Männer sich mit den Bällen bespaßten, was im Englischen jetzt einen mageren Wortwitz hergegeben hätte. Ich auf dem Spielfeld – nein, am Spielfeldrand, die Schuhe mal wieder zubindend – und die schöne Mareike auf der Bank, sich das Spektakel anschauend. Ein irrer Mitspieler wirft mir allen Ernstes den Ball zu, obwohl er doch ganz genau weiß, dass ich das ablehne, ich fange ihn, blicke zu der außerordentlich attraktiven Mareike mit ihrem lockigen braunen Haar und ihren ansehnlichen Brüsten und verfalle in eine Schockstarre und weiß nicht mal mehr, welchen Korb ich überhaupt ins Visier nehmen muss, da ich mich mit der genauen Spielsituationen nicht auseinandergesetzt hatte. Und wie das so bei Fünfzigfünfzig-Chancen ist, kann man sich eben auch falsch entscheiden und so warf ich den Ball am falschen Korb vorbei. Riesennummer, im Nachhinein wirklich sehr lustig, Hut ab, Respekt, Seppo, aber in dem Moment sah ich meine Chancen bei sexy Mareike dahinfließen (Ich darf verraten, dass wir Monate später romantisch auf einer Kuhweide sabbernde Küsse austauschten, es für eine Beziehung allerdings nicht ausreichte. Von ihrer Seite aus, ich selber sah eigentlich keinen Hinderungsgrund. Verdammt. Frauen!) Das Blamieren vor Frauen also besiegelte letztlich mein Trauma, das ich eigentlich mit Ende der Schulzeit hinter mir lassen wollte.

Gegen Ende hatten wir einen Sportlehrer, dem ich relativ sympathisch war, was meinem ungleich sportlicheren Bruder zu verdanken ist, den er auch unterrichtete. Nicht auszuschließen, dass er uns verwechselt hat, denn von einem „Ungenügend“ kam ich auf eine schöne geschmeichelte Zweiplus. Und das, obwohl ich zu der Zeit mehr als 25 Prozent der Stunden nicht anwesend war (das war jene Hürde, deren Überschreiten zu einer Sechs auf dem Zeugnis führen würde). Ich hatte Rechnungen angestellt, wie viele Stunden ich pro Halbjahr fehlen kann, damit ich diese 25 Prozent nicht überschreite. Ich habe sie massiv überschritten, obwohl Prozentrechnung genau mein Ding war. Und da gab es jene Stunden, die wir, weil wir so wahnsinnig witzig waren, versteckt hinter dem Mattenwagen verbracht haben. Riesengag, als wir gegen Ende der Stunde uns dann nach und nach in das Auslaufen geschmuggelt hatten, aber Herr Rath nicht gemerkt hatte, dass sich seine Schüleranzahl plötzlich verdoppelt hatte. Vielleicht war er aber auch mental schon in der Kabine.

Mit größter Genugtuung darf ich heute feststellen, dass gerade die Über-Sportler, die damals große Fresse hatten, als ich mir den Speer beim Speerwerfen in den Fuß gerammt hatte, oder ich von einem Medizinball erschlagen worden war, heute fett und glatzköpfig sind, während ich völlig ohne Probleme immerhin Halbmarathons absolviere. Wie immer gilt auch hier: Hochmut kommt vor dem Fall, was ich aus eigener Erfahrung natürlich allzugut kenne. Jetzt bin eben ich mal dran mit Lachen.

Aus beruflichen Gründen, man mag es kaum glauben, muss ich heute „Dribbeln“. Abgesehen davon, dass ich bislang immer dachte, das Dribbeln ist ein Zusammenspiel aus Hand und Ball, ist hier aber etwas anderes gemeint, nämlich das zwischen Fuß und Ball im Slalom um Pömpel herum. Ich werde mich wieder nach so vielen Jahren vor einer ungleich größeren Öffentlichkeit demütigen lassen müssen. Werde wieder den Kasper spielen, um die Schmach zu überspielen. Ich werde, das fällt mir jetzt gerade ein, mir im Parcours die Schuhe zubinden. Kracher, freue ich mich jetzt schon drauf. Und das Ganze tue ich einem Kollegen zuliebe, der zu allem Überfluss nicht nur unfassbar sportlich und nicht nur Absolvent der Kölner Sporthochschule ist, sondern auch noch zwischenzeitlich als Sportlehrer tätig war. Das Schicksal erlaubt sich, mich zu ficken. Sehr gerne, ich lache ihm entgegen.

Gestern hörte ich von zwei Todesfällen aus meiner näheren Umgebung. Der eine war leider absehbar, der andere äußerst schockierend. Angesichts solcher Ereignisse relativiert sich alles. Es kann jederzeit kommen, ich kann gleich beim Duschen ausrutschen in meiner Nivea-Indusch-Body-Lotion und mit dem Kopf auf die Fliesen krachen. Ich kann aber auch ganz konservativ mit dem Auto auf dem Weg zur Arbeit verunglücken, sofern ich nicht vorher im Treppenhaus eine Stufe unglücklich erwische. Darüber wollte ich eigentlich schreiben, werde das aber nachholen. Ich wünsche dennoch einen angenehmen Tag, denn es ist ja nicht neu, dass der Tod ständiger Begleiter ist. Man muss nur drauf vorbereitet sein.