Foto am 26.01.15 um 16.39(Spießer bei der Arbeit, Kupferstich 2015, habe kein anderes Beitragsbild zur Hand)

Der Begriff des Spießers ist absolut negativ behaftet, sieht man sich die genauere Defintion einmal an: Der Jäger schießt dann einen Spießer, wenn er einen Elch mit Spießen oder einen Hirsch getroffen hat. Glückwunsch, Jagd muss sein. Er erschießt aber auch dann einen Spießer, wenn er einen geistig unbeweglichen, engstirnigen und gesellschaftskonformen Menschen erschießt. Klingt alles sehr negativ, würde ich so nicht bei mir beobachten, aber wem gelingt schon eine zutreffende Beschreibung seiner selbst?!

Dennoch höre ich oft, ich sei ein Spießer. Bislang hielt ich Tugenden wie Pünktlichkeit, Berechenbarkeit, Planungsfähigkeit und Ordentlichkeit für Dinge, die einen Spießer bereits ausmachen. So gesehen bin ich ein Spießer, vor allem wenn ich mich mit meiner Mitbewohnerin vergleiche, bei der es mir ein Rätsel ist, warum sie mich anziehend findet, da sie in vielen Dingen mein Negativ ist, wobei es ja so schlau heißt, Gegensätze zögen sich an. Ich habe inzwischen begriffen, dass nicht Charaktereigenschaften sich anziehen, sondern dass das auf einer Ebene geschieht, die wir bewusst nicht wahrnehmen. Darum ist auch die Frage „Was findest Du an Deinem Partner so anziehend oder liebenswert?“ nicht zielführend, denn natürlich gibt es da anziehende Eigenschaften, die jedoch auch zehn andere in meinem Umfeld besitzen, mit denen ich dann aber nicht in die Kiste hüpfe. Wobei, da ist schon die ein … egal. Also es passiert woanders. Das aber nur so nebenbei und auch nur meine Meinung. Meine Mitbewohnerin ist, vorsichtig ausgedrückt, eher nicht sooo ordentlich. Keine Chaotin, aber im Vergleich zu mir und nur zu mir vielleicht doch eine Chaotin. Nicht in Bezug auf Lebensführung, sondern eher auf die Utensilien, die man zum Leben so braucht. Beispiel Backofen: Ich würde ihn am liebsten gar nicht benutzen, weil er ja dreckig werden könnte. In der Folge putze ich mindestens einmal pro Woche den Backofen. Stichwort Suchen: Ich suche nicht. Jedweder Gegenstand bei mir hat seinen festen und vor allem logischen Platz. Während ich also den Backofen putze, ist meine Mitbewohnerin mit Suchen irgendwelcher Dinge beschäftigt. Gelegentlich findet sie auch. Für diese Zeilen bekomme ich Ärger.

Diese Ordnung bezieht sich auch auf meinen Rechner und ich hatte bereits befürchtet, das Upgrade auf Windows 10 würde für Chaos sorgen, doch chaotisch war nur das neue Startmenü. Das nutze ich natürlich nicht, denn das Wesentliche liegt auf der Taskleiste. Dennoch räume ich das Startmenü auf und beschäftige mich sogar mit einer ansprechenden Anordnung der Kacheln in verschiedenen Kachelgrößen. Nie werde ich eine Kachel anklicken. Vom Hersteller festgelegte Partitionen auf der Festplatte mit Wiederherstellungsbackups werden rigoros gelöscht, damit ich eigene anlegen kann. Und ich kotze ob der „Bibliotheken“, die sich nur mit Eingriffen in die Registrierung abschalten lassen. Spießer gegen Microsoft. Ist aber recht technisch heute … Wir bleiben kurz mal dabei, da mir die Google-Foto-App „Google Fotos“ auf meinem Android ein Dorn im Auge ist. Stellt man es nicht ab, lädt sie alle vom Handy geschossenen Fotos hoch. Hoch auf irgendwas. Google Drive? Früher war’s Google+. So oder so versuchen sie sich dort, meiner Ordnerstruktur zu entziehen und irgendwann weiß ich nicht mehr, wo welche Fotos sind, denn synchron ist es nie. Das raubt mir dann Schlaf. Genauso wie mein Auto, das immer möglichst nahe am Bordstein geparkt wird. Zwei Fußbreiten kann ich schon nicht akzeptieren und muss neu einparken. Seitwärst einparken ist meine Sache nicht, die Lücke muss schon recht groß sein, damit ich es überhaupt versuche. Unzählige Lücken habe ich schon liegengelassen, weil es mir nicht machbar schien unter Einbezug der Zweifußbreitenregel.

Was nun wirklich nicht unspießig ist, sind meine Rituale. Ich gehe grundsätzlich nicht mit Plänen durchs Leben, was mir alle paar Jahre zum Verhängnis wird, aber ich denke mir oft „Wird schon gutgehen“. Meist ist das so. Mit bald 36 Jahren lehne ich Zukunftsangst ab, es wird schon gutgehen. Bald übrigens fällt mir diese Einstellung wieder vor oder auf die Füße … Doch kleine Rituale ziehen sich durch mein Leben, wie es vermutlich bei jedem der Fall ist. Das beginnt schon beim Stuhlgang. Den habe ich in soweit im Griff, als dass dieser nach dem zweiten Schluck des ersten Kaffees am Morgen, aber nicht vor 07.30 Uhr, zu erfolgen hat. Nach der Lektüre der spießigen „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“, die nur von solchen als spießig beschrieben wird, die sie gar nicht kennen, erfolgen diverse Hausarbeiten (Ordnung schaffen!) und traditionell erfolgt vor dem Laufen das Zurechtlegen der Kleidung für den Tag. Das klingt natürlich jetzt wirklich spießig, aber vor dem Anziehen steht doch immer das Entnehmen der Kleidung aus dem Schrank. Schreib‘ „Entnahme“, ist besser. Du sollst nicht die Meta-Informationen mitschreiben! Schreib‘ weiter. Also, Kleidung immer rauslegen – immerhin nicht am Abend vorher, denn auf dem Diener (ein mir geschenkter und an die Wand gedübelter Stuhl) lüftet ja noch die getragene Vortagskleidung -, bevor ich Laufen gehe. Ist wahnsinnig kompliziert, merke ich gerade.

Ein für meine Mitbewohnerin sehr schlimmes Ritual ist Weihnachten. Es gilt, an jedem 24.12. mehr Fotos als im Vorjahr zu machen. Ich bin bei etwa 400 im vergangenen Jahr angelangt, dieses Jahr müssen es also mehr sein. Dabei ganz wichtig: Jedes Motiv muss jedes Jahr aufs Neue fotografiert werden. Ob das der Esel aus dem Stall der Krippe ist, oder das Engelchen mit der Kerze, das meine Mutter inzwischen nur noch wegen mir aufstellt. Tut sie das nicht, stelle ich es raus, mache das Foto und stelle es wieder weg. Es ist ein Drang, gegen den ich mich weder wehren will noch kann. Was war es für ein Debakel für mich, als wir Heiligabend vor zwei Jahren das erste Mal nicht bei meinen Eltern zelebriert hatten, sondern bei meinem Bruder mit Frau und Kind (Er weiß nicht, dass es eigentlich meine Kinder sind. Zumindest das eine, das spießige …). Um mich durchzusetzen, findet die Bescherung nun immer zunächst bei meinen Eltern statt (weil es ja schon so war, als ich Kind war) gefolgt von einer zweiten bei meinem Bruder. Und damit sind wir bei einer für den Spießer ganz wesentlichen Eigenschaft angekommen: die Abneigung gegenüber Veränderungen. Somit hab‘ ich mich nun doch als Spießer entlarvt. Fazit des Ganzen hier sollte sein, dass ich gar keiner bin. Nun, die Dinge liegen offenbar anders.

Ein anderer Punkt ist mein Sicherheitsdenken. Das betrifft sei rund zwanzig Jahren etwaige Schuhe vor meinem Bett. Gerne dürfen da Schuhe liegen und auch gerne der rechte links neben dem linken. Doch mit einem Sicherheitsabstand vom Bett. Weil ich mir schon vor zwanzig Jahren dachte, dass wenn ich mal nachts raus muss, damals musste ich das noch nicht, dann könntest du ja schlaftrunken über die Schuhe stolpern. Nie passiert. Warum? Wegen des Sicherheitsabstandes. Vor einigen Tagen geschah es, dass ich nachts schiffen musste und tatsächlich über falsch abgestellte Schuhe (von mir!) gestolpert bin. Ich sehe mich dann immer schon mit dem Kopf gegen die (mir) nahestehende Kommode krachen und verbluten. Wir wissen, viele Todesfälle genau wegen solch ungünstiger Konstellationen. Meine Schuhe-Regel wurde also verschärft, Schuhe haben auf dem Weg zwischen Bett und Klo nichts mehr verloren. Aber ist das spießig? Es ist ein Überlebenskampf.

Stelle ich mir das Gegenteil eines Spießers vor, sehe ich zum einen meine Mitbewohnerin, die inzwischen die ein oder andere Eigenschaft von mir adaptiert hat, aber eben auch solche Menschen, die viel Energie darauf verwenden, andere Menschen zu klassifizieren, was wir ja unbewusst ohnehin tun. Sie zum Beispiel in die Kategorie Spießer einordnen. Ich meine damit keinen bestimmten Menschen, möchte ich betonen. Aber sowas soll’s ja geben. Sie grenzen sich also partout ab von Menschen, denen sie vorwerfen, sie grenzten sich ab. Hat was spießiges. Wie diese Weihnachtshasser. Ich bin nicht unbedingt gläubig, zelebriere dieses Fest aber jedes Jahr gerne aufs Neue, wobei mir der Ursprung egal ist (Dennoch steht auch bei uns zuhause eine Krippe, die jedes Jahr erweitert wird, bis irgendwann ganz Jerusalem bei uns im Wohnzimmer steht.) Dann gibt es da diese Leute, die ab Oktober betonen, wie sehr ihnen der Weihnachtsrummel auf den Sack geht. Sie betonen es jedes Jahr aufs Neue und zwar intensiver als die Freunde von Weihnachten betonen, dass sie Weihnachten schätzen. Ich kann mich auch nicht darüber aufregen, dass in einigen Wochen wieder Lebkuchen im Supermarkt rumstehen, denn da stehen ganzjährig ja auch Binden rum, die ich ja auch sehr gut ignorieren kann. Ich finde es eher spießig, sich über Weihnachten aufzuregen, einem Fest, dem man sehr wohl aus dem Weg gehen kann (man muss ja nicht an den Adventssamstagen shoppen gehen), als besinnlich das Fest zu begehen. Das wird übrigens ein ebensolches, wenn ich darüber blogge, sofern mir die notwendige Lebenszeit noch vergönnt ist und mich das seppolog nicht anödet, was irgendwann kommen wird.

Das Thema Pünktlichkeit hatte ich hier schon, da hat sich auch nichts geändert, auch bei meiner vergangenen professionellen Zahnreinigung war ich eine knappe halbe Stunde zu früh, kam aber auch direkt dran, sodass ich die Praxis verließ, als mein eigentlicher Termin anstand.

Berechnebarkeit bleibt noch als Wesenszug des Spießers. Das müssen allerdings andere beurteilen, aber für große Überraschungen sorge ich nicht, würde ich behaupten und nach zehn Jahren kann meine Mitbewohnerin mich sehr genau einschätzen, was aber auch umgekehrt gilt. Es wäre unmöglich für mich, mit jemandem zusammen zu leben oder gar zusammenzuleben, der unberechenbar ist, sofern er mich mit in seine Unberechenbarkeit hineinzieht. Eine Überraschungsparty beispielsweise wäre ein Trennungsgrund. Somit kenne ich auch kaum unberechenbare Menschen und der Fehler liegt dabei natürlich bei mir, nicht bei dem Unberechenbaren. Allerdings kann ich mit Unberechenbarkeit insofern umgehen, als dass Unberechenbarkeit berechenbarer ist als Berechenbarkeit.

Konformität mit gesellschaftlichen Normen. Auch noch so ein Kriterium. Die wenigsten können sich davon freisprechen und warum auch?! Denn eine Gesellschaft ist nun mal durch Normen geprägt, sie machen sie aus. Wer aus der Norm fällt, hat ein Problem. Im Großen! wohlgemerkt, denn ich würde ja nicht die totale Anpassung predigen, das ging gerade in der deutschen Geschichte schonmal nach hinten los und die Helden waren zurecht die, die aus der Norm gefallen sind. Aber es beginnt ja schon beim Strafrecht oder noch besser im Grundgesetz, das endlich Verfassung heißen sollte. Bereits da werden Normen gesetzt und wem’s nicht passt, der soll gehen oder eine Partei gründen mit dem Ziel, die Verfassung umzuschreiben. Da sei Gott vor.

Kleider machen Leute, Wenzel Strapinski hat es vorgemacht. Ich kleide mich absolut konform, ein lustiger Hut ist bei mir das höchste der Gefühle, um mich von anderen Köpfen abzusetzen. Als ich vor rund zwanzig Jahren meinen Schädel rasiert hatte, schimpften mich einige „Nazi“. Recht kurz gedacht, sehr spießig, würde ich fast sagen.

Da ich die zurückliegenden 1.722 Wörter, die gelesen zu Worten werden, nicht mehr im Kopf habe, spare ich mir meine Bilanz, ob ich nun Spießer bin oder nicht. Vermutlich ein bisschen und möglicherweise schafft meine Mitbewohnerin mir einen Ausgleich – und umgekehrt. Gewaschene Socken hänge ich übrigens paarweise auf, Boxershorts werden gruppiert gehängt, Handtücher ebenfalls paarweise, da ich sie auch nur paarweise kaufe. Hemden und sogar Jeanshosen bügele ich. Heute Morgen noch. Ist das schon spießig?!