faulheit(Pieter Brueghel der Älteste, 1526/1530-1569, Sieben Laster: Trägheit, Sonnenstich)

Die fröhliche Serie der sieben Todsünden findet nun ihren ersehnten Fortgang und bis zuletzt werde ich mich drücken vor der Last der Wollust, da ich da vermutlich noch privater als ohnehin schon werden müsste. Aber das interessante ist ja, dass sich die sieben Hauptlaster auf verschiedenste Weise definieren lassen, je nachdem, wie wir den lateinischen Begriff übersetzen.

Bislang sieht meine Bilanz der vier besprochenen Hauptlaster gar nicht so übel aus. Zornig bin ich gelegentlich, aber immer mit gutem Grund! Neid habe ich mir ebenfalls abgesprochen und die Völlerei auf die gesellschaftlichen Umstände geschoben, in denen ich mich konzipiere, während Hochmut ganz offenbar meine Sache ist, wobei ich da rumlaviert habe, sodass ich eher von Eitelkeit als von Hochmut bei mir sprechen würde.

Drei zu eins zwischen mir und Gott also, und da er nicht Leser des seppologs ist – zumindest hat er noch nie kommentiert – weiß er das vielleicht nicht mal. Aber man sagt, er sehe alles. Hat er auch gesehen, dass ich heute bei der Blutabnahme beim Arzt zwischendurch nach Hause geschickt wurde, um da zu warten?! Schreitet der Mann da nicht ein? Und ich bin sicher, er ist ein Mann, anders ist der lange graue Bart nicht zu erklären. Aber man darf sich ja kein Bild machen. Aber mal ehrlich: Gott eine Frau?! Und wenn ich abends eine Latte habe, ist das dann eine Abendlatte? „Latte“ ist ein unmögliches Wort für Erektion. „Latte“ klingt irgendwie so dünn.

Der lateinische Begriff der diesmaligen Todsünde lässt sich mehrdeutig übersetzen:

acedia – Faulheit

Oder eben zu übersetzen mit „Sorglosigkeit“ oder „Nachlässigkeit“. Bleiben wir zunächst bei Faulheit, womit ich mich nicht lange aufhalten will. Bei „Faulheit“ denke ich an die Folgen eben dieser, die ein zu hoher Preis für Faulheit sind und ich entsinne mich meines Deutsch-LK-Lehrers, der wirklich ein absolut mieser Lehrer war. Ich hatte ihn schon ab der siebenten Klasse und er tat nichts anderes, als uns Stoffe vorzulegen, die wir zu „interpretieren“ hatten. Und jeder interpretiert ja anders, sodass es eben nicht darum geht, die Absicht des Autors des Textes zu entschlüsseln. So wurde uns gepredigt, doch in der Praxis sah es so aus, dass nur die Interpretation Herrn Vogels, so nennen wir ihn jetzt mal, die zutreffende war, weil mit der des Autors deckungsgleich. Und so gab es nach Jahren des Deutsch-Unterrichtes kein Grimm’sches Märchen mehr, das wir nicht durchinterpretiert hatten. Ein Apfel in diesen Märchen war grundsätzlich Symbol der weiblichen Fruchtbarkeit und ohnehin gehe es in diesen Märchen nur um Sex. Ich bin ja eher der Meinung, dass es zunächst mündlich, dann schriftlich überlieferte Geschichten waren. Mehr nicht. Wo kam denn dieser Apfel nochmal vor?! Schneewitchen? – Rotkäppchen und der Wolf: Es ging nur um Sex. Sodomie und Kindesmissbrauch in einem. Sage nicht ich, sagte Herr Vogel. Grundsätzliche Hausaufgabe damals war: „Versucht einmal …“ So begann er die Verkündung der Hausaufgaben. In dem Augenblick brach eine ganze Schulklasse innerlich zusammen. Herr Vogel sprach durchgehend im Unterricht (Schülerbeteiligung gab es nicht) und das sehr leise. Und dann am Ende der Stunde dieses „Versucht einmal … diese Geschichte zu interpretieren. Es ist egal, wie viel ihr schreibt.“ Das war nie egal. Unter sechs DIN-A4-Seiten akzeptierte er nichts und so sah man sich zuhause sitzen, irgendwie sechs Seiten füllend. Damals noch handschriftlich. Da wir nur dreimal pro Woche Deutsch hatten, schoben wir die entsprechende Hausaufgabe natürlich – faul wie wir waren – auf die lange Bank. Die ganz harten schrieben in der großen Pause unmittelbar vor der Stunde von einem anderen ab. „Aber schreib‘ das bitte um!“ sagte dann immer der Spender seiner Hausaufgaben. Irgendwann kam ich auf den Trichter, die Last dieser nervigen Hausaufgabe direkt am selben Tag noch nach der Schule zu erledigen. Was für ein Gefühl, diese Kacke direkt hinter sich gebracht zu haben, während andere am nächsten Tag noch diskutierten, was man da verdammt nochmal schreiben solle. Herr Vogel war ein Problemfall. Es gab tolle Elternkonferenzen mit dem Direktor zusammen, der uns dann schon in der siebten Klasse versprach, dass wir Herrn Vogel nie im LK bekommen würden. Es kam freilich anders. Doch der ungeheure Respekt, den wir diesem kranken Mann entgegenbrachten, schwand, als wir erfuhren, dass er von dem katholischen Gymnasium nebenan wegen einer Affäre flog und überdies ein Toupet trug. Toupet-Witze waren danach an der Tagesordung. Männer, steht doch zu Eurer Glatze! Was ich also sagen will: Schon da wurde mir als Nebeneffekt gelehrt, dass es nichts bringt, etwas auf die lange Bank zu schieben, was eh erledigt werden muss; es quält einen ja nur.

Ich habe erst seit heute einen Hausarzt. Weil ich musste. Wegen einer Blutabnahme.  Ein Chirurg fragte mich letztens anlässlich meines Leistenbruches, wer mein Hausarzt sei. „Ich hab‘ keinen.“ – „Ich muss hier irgendeinen Namen in die Überweisung schreiben, Herr Flotho!“ – „Schreiben Sie meinen rein! Ich hatte nie einen!“ Der Grund ist, dass ich zu faul bin, um zum Arzt zu gehen. Wer tut das schon gerne. Die Diagnosen stelle ich mir selbst. Wenn ich huste, hab‘ ich ’nen Husten. Wenn ich Fieber habe und huste, hab‘ ich Husten mit Fieber. Kommt Schnupfen dazu, ist es eine Grippe. Oder ein grippaler Infekt. Rezepte stelle ich mir selber aus, ich habe eine Stammapotheke, die akzeptiert das inzwischen. Krankschreiben lassen muss ich mich wegen eines interessanten Arbeitgebers nicht.

Seit heute habe ich also nun einen Arzt und auch hier schob ich nichts auf die lange Bank. Die Leistenbruch-OP hätte ich auch im Winter oder nächsten Jahr machen können, aber wie mich die Deutsch-Hausaufgaben gelehrt hatten, bringt Aufschieben nichts. Gerade Unangenehmes erledige ich gerne sofort. So lernt man in der Schule durchaus für’s Leben, auch wenn ich jetzt beim Märchenlesen immer erregt bin. Das hat Herr Vogel verhunzt.

Und dass ich jetzt hier nicht über Faulheit im Job rede, dürfte ja einleuchten.

Acedia als Sorglosigkeit betrifft mich auf gar keinen Fall. Wenn ich mir etwas nicht vorwerfen kann, dann das. 40 Prozent meines Hirnes sind mit Sorgen beschäftigt. Das wurde bei einer Computertomographie festgestellt. Der Arzt damals: „Sie machen sich offenbar gerade viel Sorgen, kann das sein? Alles violett in ihrem ausgeprägten Sorgen-Areal.“

Ich stand mal als Kind in der Dusche und betrachtete meinen Hoden. Der hing da so schlaff und teilnahmslos zwischen meinen Beinen herunter und ich erkannte das Ausmaß der Unästhetik dieses Zustandes und war überzeugt – ich war vielleicht zehn oder elf -, ich sei dem Hodenkrebs anheim gefallen. Nun, dem war nicht so, wir können alle aufatmen. Ich habe mir selbst schon diverse Mal eine Krebsdiagnose ausgestellt. Speiseröhrenkrebs hatte ich vor etwa drei Jahren mal. Arschkrebs auch, war aber nur ein verunglückter Riesenpickel. Also, im Kleinen durchaus besorgt, Optimismus kenne ich nur im Großen. Da allerdings ist er ausgesprochen hilfreich, es wird alles schon gutgehen. Da bin ich fest von überzeugt. Die Geschichte ist voll entsprechender Beispiele. Sollte dieser Grundsatz erschüttert werden, werde ich mich in Suizid flüchten müssen.

Nun streitet die Theologie über die Übertragung des Begriffes acedia ins Deutsche. Konsens scheint zu sein, dass vielmehr die „Trägheit des Herzens“ gemeint ist, also Traurigkeit und Melancholie. Joa, also da erkenne ich mich dann doch eher wieder. Melancholie ist mein Ding. Vielleicht aber auch Nostalgie, ich bin noch nicht dahintergekommen. Mein Neffe wurde jüngst eingeschult. Ich erinnere mich an meinen ersten Schultag, ich trug rote Adidas-Schuhe mit Klettverschluss, eine blaue Jeans und einen weißen Pullover, was meiner Gesichtsfarbe übrigens alles andere als schmeichelt. Obwohl ich weiß, dass es sich da um mich handelt, bei dem kleinen Bub mit Schultüte gefüllt mit Ziegelsteinen (Scherz von meinem Vater damals), kann ich es nicht nachfühlen. Es ist dreißig Jahre her. Was für eine lange Zeit. Ich war kürzlich aus Nostalgie-Gründen an meiner alter Grundschule. Ein unwirkliches Gefühl: Man weiß, man war hier vier Jahre lang, aber es ist nur noch das Wissen um die Erinnerung, nicht die Erinnerung selbst. Und das erschüttert mich irgendwie. Da wird mein Herz dann träge. Kann das irgendeiner von Euch nachempfinden, was ich meine?! Derselbe Mensch, drei Jahrzehnte jünger. Eben nicht derselbe Mensch. Ich werde philosophisch und bemühe den deutschen Kollegen Josef Pieper. Mit dem Namen kann man nur Philosoph werden. Er sieht in der acedia das Verweigern des Anspruches des Menschen, dass er seinem eigenen Sein letztlich nicht zustimme. Verdammt! Der Mann hat Recht. Ich sollte bedeutend mehr von ihm lesen.

Und ich habe offenbar gesündigt. Gott bekommt einen Punkt, er holt auf. Drei zu zwei. Und ich ahne, wie ich bei der Todsünde der Wollust abschneiden werde. Die Pforte des Himmels ist noch geöffnet für mich, ein Zwischenstopp im Fegefeuer nicht ausgeschlossen.

Dieses war der 98. Beitrag im seppolog. Der einhunderste wird übrigens ein kleiner Jubiläumsbeitrag werden!