wpid-2015-09-12-10.52.49.jpg.jpeg

Lara ist unsere neue Nachbarin und ein sehr kommunikativer Mensch. Es gibt kommunikative Menschen und kommunikative Menschen. Sie gehört zweifelsohne zur zweiten Gruppe.

Nun habe ich ja kein Geheimnis daraus gemacht, dass Lara mich, sagen wir mal als Frau, mindestens optisch interessiert. Ganz unverbindlich, denn gegessen wird zuhause, auch wenn ich derzeit leider nicht in der Lage zu essen bin, da ich momentan nicht mehr als fünf Kilogramm tragen darf; meine Mitbewohnerin ist (unwesentlich) schwerer. Nebenbei würde ich nicht unerwähnt lassen wollen, dass ich vor zwei Dingen große Angst habe: vor Niesen und vor sexueller Erregung.

Um mir ein ausführlicheres Bild von Lara machen zu können, suchte ich sie bei Facebook – jedoch vergebens. Sie firmiert dort weder als „Lara“ noch als „Blonder Engel“. In dieser Woche hatte ich jedoch ausreichend Möglichkeiten, sie näher kennenzulernen, da kaum ein Tag verging, an dem sie nicht vor meiner, unserer!, Tür stand.

(Wir haben hier einen Nachbarn, für den wir immer Pakete annehmen. Gewöhnlich kommt er in den Abendstunden, um diese abzuholen. Ich schicke dann immer meine Mitbewohnerin zur Tür, da die beiden sich ausgesprochen gut verstehen. Er heißt nicht Matthias, aber ich denke immer, dass er so heißt. Obwohl der richtige Name auf den Paketen steht, kann ich ihn mir nicht merken. Matthias schätzt offenbar die Gesellschaft meiner Mitbewohnerin, denn das Abholen seiner Pakete beansprucht selten weniger als eine halbe Stunde Zeit. Ich bin schon leicht unruhig, wenn ich höre, wie viel sich die beiden an unserer Tür zu erzählen haben. Aber ich habe ja nun auch eine Türfreundin.)

„Hallo Sebastian! Muss kurz stören.“

Sie will mich partout nicht „Seppo“ nennen. Lediglich meine Familie ruft mich noch „Sebastian“ und so sehe ich auch immer ein bisschen meine Mutter vor mir, wenn Lara da so steht und mich beim Rufnamen nennt.

„Sag‘ ruhig Seppo. Und Du störst nicht. Dann hätte ich die Tür nicht aufgemacht.“

So halte ich es immer. Ich gehe auch nicht ans Telefon, wenn ich meine Ruhe haben will. Das mit dem Telefon bei uns ist eh so eine Sache. Ich habe seit etwa acht Jahren einen Wackelkontakt zwischen Telefon und Telefonkabel. Es würde mich vielleicht zehn Euro kosten, ein neues Kabel zu kaufen. Aber vielleicht schätze ich den Umstand, dass man uns nur schwerlich anrufen kann, da das Kabel meist keine Verbindung zulässt. Ich würde behaupten, rund 90 Prozent der Anrufe bekommen wir gar nicht mit.

Wenn es bei uns an der Tür klingelt, ist es entweder die Briefpost, die Paketbost für Matthias, der gar nicht so heißt, oder seit einigen Wochen Lara.

„‚Sebastian‘ ist aber ein schöner Name! Ich bleib‘ dabei.“

Und ich diskutiere nicht mit ihr, ich rechne mir da keine Chancen aus. Überlege kurz, ihr mitzuteilen, dass „Sebastian“ soviel heißt wie „der von Gott gewollte“, was sich aber jedem unweigerlich erschließt, der mich kennt. Aber wer tut das schon.

Lara kommt nicht einfach so vorbei, sie hat immer einen Grund. Und sie weiß (leider), dass ich derzeit überwiegend zuhause mich in einer Phase der Reha befinde.

„Wie klappt’s mit den Socken?“

Anders als beim letzten Besuch trage ich zwei Socken, eine pro Fuß. OP-bedingt fällt mir das Anziehen noch etwas schwer.

„Läuft ganz gut, es geht voran.“ Und in Gedanken: Die Schwellung meines Hodensackes ist auch schon wieder zurückgegangen.

Dennoch stöhne ich noch bei der ein oder anderen Bewegung, um etwas Mitleid bei Lara zu erregen.

„Lara, komm‘ doch einfach rein.“

Völlig untypisch für mich: Ich bitte jemanden rein. Wenn das meine Mitbewohnerin wüsste, sie fiele vom Glauben ab. Aber mein Kontakt zu Menschen hält sich derzeit in Grenzen, da ich noch rekonvalesziere und die Ruhe genieße. Der Dichter im Elfenbeinturm eben. Allerdings wird man auch wunderlich in der Einsamkeit. Ich spreche zum Beispiel immer seltener mit mir. Wende ich mich von mir ab?! Habe das gestern mit meinem Plüsch-Teddy diskutiert. Er war der Meinung, dass ich mir selbst nicht mehr genug sei. Was aber nicht stimmen kann. Ich widersprach heftig, er zog sich beleidigt in sein Puppenhaus zurück, das ich ihm in meiner Einsamkeit, in meiner selbst gewählten Einsamkeit, gezimmert hatte. Er zog sogar die Vorhänge an der Tür zu, als sei er nicht zuhause, wenn ich klingel. Was er nicht weiß: Ich kann das Dach abnehmen und ihn sofort ausmachen. Also im Sinne von Sehen. Finden. Egal. Die Schmerzmittel scheinen zu wirken …

Lara und ich bewegen uns in die Küche, ich stöhne kurz dabei, sie will mich allen Ernstes stützen. Das wird mir dann doch etwas zu albern, denn so gebrechlich bin ich nicht. Heldenhaft: „Geht schon. Ich muss das alleine schaffen!“ Sie grinst, und ich merke, ich habe übertrieben.

Ich biete ihr einen tollen Espresso an und erzähle ihr diese wahnsinnig uninteressante Geschichte, wie ich zu meiner Kaffee-Pad-Maschine kam. Natürlich weist sie mich auf die Umweltproblematik hin, die diese Kaffee-Kapseln mit sich bringen und so erzähle ich ihr, dass ich zum Ausgleich Baumpate bin und einen Panda-Bären im Düsseldorfer Zoo betreue.

„Der Düsseldorfer Zoo hält Panda-Bären?! Das ist wohl kaum artgerecht!“

Nun weiß Lara nicht, dass man den Düsseldorfern ihren Zoo vor einigen Jahrzehnten weggebombt hat und hat damit keine Chance, meinen ironischen Scherz als solchen zu entlarven. Und ich verpasse wie sooft in diesen Momenten die Chance, die Sache aufzuklären. Sie:

„Wenn Du wieder gehen kannst, können wir ja mal in den Zoo gehen!“

Ich bejahe und gründete nach ihrem Besuch einen Verein zum schnellstmöglichen Wiederaufbau des Düsseldorfer Zoos, damit meine Lüge unerkannt bleibt. Lara, die erst vor Kurzem eingezogen ist, kommt zum Punkt:

„Ich habe jetzt einen Stromanbieter und ich soll den Zählerstand ablesen. Aber ich finde den Stromzählerstand nicht.“

„Der ist im Stromzähler.“

„Zeig‘ mal bei Dir.“

Die Stromzähler sind unten links der Eingangstür. Nein, rechts. Links sind die Briefkästen. Da kommen die Briefe rein. Wir verlassen also die Wohnung, als Lara an meinem Sicherungskasten stehenbleibt.

„So, da sehe ich bei Dir aber auch keine Zahlen!“

Ahhh! Verstehe!

„Lara, das ist der Sicherungskasten. Die Zähler sind unten.“

Ich sehe einen fragenden Blick in Laras Gesicht und freue mich über mein Pionierwissen, das sie nun sicherlich beeindruckt.

„Was Du alles weißt!“

Mein Bild von Lara erfährt hier eine weitere Erschütterung.

„Wenn man Deinen Namen mit ‚Ell punkt Ungern‘ abkürzt“, ihr Nachname ist „Ungern“, „dann erhält man ‚lungern‘!“

„Okay.“

Hm, findet sie deutlich weniger lustig als ich. Also gehen wir runter zu den Stromzählern, wo wir auf ein massives Problem stoßen.

„Lara, ich habe keine Ahnung, wo der Schlüssel ist, mit dem man diesen Schrank öffnet. Wir werden ihn aufbrechen müssen.“

„Darf man das denn?“

Ohje, ohje. Ich muss aufpassen, was ich sage, denn sie nimmt alles für bare Münze. Was für ein unschuldiger, naiver Mensch! Mir ist es nicht unwichtig, dass Frauen gelegentlich über meine Scherze lachen. Oder zumindest schmunzeln. Ich gleiche Defizite durch Humor aus, das ist oft meine einzige Chance bei Frauen. Bei ihr will es nicht gelingen. Also stöhne ich nochmal, während ich andeute, dass ich den Schrank aufbreche.

„Nein, besser nicht. Wenn das der Vermieter rausbekommt!“

„Der Vermieter steht neben Dir!“

Fragende Blicke.

„Ja, ein Scherz. Wir brechen natürlich nichts auf. Wir sollten den Kellerschlüssel testen.“

Also gehen wir wieder die Treppen hoch, während ich vor Schmerz stöhne.

„Geht’s denn?“, erkundigt sie sich und ich abermals heldenhaft: „Lara, für eine solch‘ schöne Nachbarin nehme ich den Post-OP-Schmerz gerne auf mich!“

Wir holen meinen Kellerschlüssel und siehe da, der Schrank mit den Zählern öffnet sich und ich erahne das nächste Problem.

„Hmm, Lara, welcher Zähler zählt nun Deinen Strom?!“

In der Tat ist das nicht auszumachen, ich weiß nicht einmal, welcher Zähler zu meiner Wohnung gehört.

„Ich kann ja mal bei mir oben alles ausschalten und wir gucken dann, wo sich das Rädchen nicht mehr dreht.“

Ui, Lara! Was für eine Idee!

„Alle Sicherungen einfach raus. Hauptschalter!“, befehle ich und hoffe, dass sie den Hauptschalter findet.

„Der im Keller?“

Hauptschalter im Keller? In diesem Moment wünschte ich, ich hätte mehr Schmerzmittel mitgenommen, um mein Hirn zu betäuben.

„Lass uns zu Dir hoch gehen.“

Wir also hoch, Strom abschalten, und wieder runter. Laras perfider Plan geht auf, ein Zähler bleibt stehen. Wie auch zwei weitere.

„Hab‘ ich drei Zähler?“

Während ich überlege, jede andere Mietpartei darum zu bitten, sämtliche Strom fressende Geräte einzuschalten, empfehle ich ihr, unseren Vermieter anzurufen.

„Können wir das zusammen machen?“

Also gehen wir wieder hoch und ich versuche, das wackelige Telefonkabel in eine stabile Lage zu bringen, um den Vermieter anzurufen. Gottseidank erreichen wir den nicht, sodass wir so verbleiben, das Unterfangen am Wochenende neu in Angriff zu nehmen.

Lara umarmt mich zum Abschied, wünscht zum hundertsten Male eine gute Besserung und verspricht, mich am nächsten Tag nochmal zu besuchen. Ich habe inzwischen Pavel, meinen besten Kumpel und eben Laras Vormieter angerufen und mich nach dem Stromzähler erkundigt. Wenn Lara also wiederkommt, werde ich sie angenehm überraschen mit meiner detektivischen Arbeit.

„Bist Du eigentlich bei Facebook? Wollte Dich stalken, aber fand Dich nicht.“

„Nein. Ich hatte mal einen Stalker, darum lasse ich das.“

Ah, Fettnäpchen. Toll!

„Ja, also ich wollte Dich ja nicht im Wortsinne stalken.“

Sondern mir Fotos reinziehen. Sage ich das jetzt? So leicht scherzhaft?

„Und mir Fotos von Dir angucken!“

Fragende Blicke. Ob sie jemals wieder kommt? Und was finde ich an der Frau? Ich werde meine Mitbewohnerin fragen.