„Ich wurde operiert!“ Das war mein Satz der vergangenen Woche. Den einigermaßen gekonnt leidend zum Besten gebend, bekam ich von meiner Mitbewohnerin alles. Sie war mir eine außerordentlich gute Krankenschwester, die froh ist, dass mein kleiner Eingriff mit seinen Folgen nun weitestgehend hinter ihr uns liegt.

Im Rückblick war es schön. Für mich. Ich lag überwiegend auf dem Sofa, ließ mich von „Netflix“ zu Tode berieseln und achtete stets darauf, dass alles in meiner Reichweite liegt. Mehrere Fernbedienungen, Handy, Tablet, Laptop und Kühlakku. Es war ein Drama, wenn ich mich in die liegende Position gehievt hatte, um dann festzustellen, dass eine Fernbedienung, ausgerechnet die, die ich nun dringend brauchte, außerhalb meiner Reichweite lag. Das Aufrichten meines Körpers – unmöglich, daran überhaupt nur zu denken, ein geschwollener Hodensack ließ den rechten Winkel meines Leibes nicht zu. Also musste ich zur Seite rollen. Das aber funktionierte nur über die linke Seite, was mich von der fernen Fernbedienung noch weiter entfernt hätte. Also blieb mir nur, auf die Heimkehr meiner Krankenschwester zu warten, um sie noch vor der Begrüßung über die Problematik ins Bilde zu setzen. Und da sie ein wahnsinnig mitfühlender Mensch ist, brachte sie umgehend die Fernbedienung in meine Reichweite, sodass ich „Im Angesicht des Verbrechens“ weitergucken konnte. Es geht da um Zigaretten und Sex im weitesten Sinne; alles hab‘ ich nicht verstanden, aber wie gesagt, es ging um Sex. Ein außerordentlich gutes Stück deutschen Fernsehens, finanziert von dem fantastischen Rundfunk-Beitrag!

Nahrungsmittel wurden mir ans Sofa gebracht, da ich andernfalls verhungert wäre, was sie in Erklärungsnöte gebracht hätte. Fielen mir Dinge zu Boden, konnte ich sie liegenlassen, denn an Aufheben war nicht zu denken (rechter Winkel!). „Kannst Du das aufheben, bitte? Ich wurde operiert!“

Ich war gespannt, wie lange dieser Satz bei ihr ziehen würde. Nun weiß ich es. Etwa eine Woche. Gestern wurden die Fäden gezogen und plötzlich kann ich mich nahezu schmerzfrei bewegen. Ich erlebe dabei einen ganz neuen Bewegungsdrang! Den vor meiner Mitbewohnerin zu verbergen, ist mir nicht gelungen und ich stelle fest, sie entlässt mich nahtlos in meine Selbständigkeit. Seitdem allerdings fällt mir auch nichts mehr auf den Boden.

Und sie rächt sich. Sie kämpft derzeit mit dem Ausbruch einer unangenehmen Erkältung. Ich ahne, dass ich aus der komfortablen Patientenrolle in die des Pflegers rutschen werde mit all dessen unangenehmen Pflichten. Ich glaube, sie hat sich nur erkältet, um es mir heimzuzahlen! Ich muss gleich zur Apotheke für sie! Ich! Ein frisch Operierter! Werde auf die Straße geschickt für Botengänge! „Ich wurde operiert!“, sage ich ihr.

„Der Spruch zieht nicht mehr, seit gestern bewegst Du Dich auffällig gut!“

Auffällig gut?! Ja unterstellt mir hier die beste Mitbewohnerin von allen, dass ich meine dramatische Situation ausgenutzt habe?! Mir, der ihr die Mir vom Himmel geholt hätte, wären mir die Russen nicht zuvorgekommen (Andere holen für ihre Mitbewohnerin Sterne vom Himmel, mir scheint das aus kosmischer Sicht zu riskant …)?

Mehrere Stunden habe ich heute putzen müssen. Ich habe ja leider diesen Hygiene- und Ordnungsfimmel. Eine Woche lang war mir dieser egal. Aber ganze Mahlzeiten lagen bei uns in der Küche auf dem Boden. Wer hätte es putzen sollen?! Ich? Ich wurde operiert. Und sie hat gearbeitet.

Sie hat einen sehr lebendigen Schlaf, meine Mitbewohnerin. Sie erzählt viel und bewegt sich dabei. Anfangs glaubte ich noch, dass es völlig normal sei, dass Frauen einen nachts um drei Uhr gerne mal in ein Gespräch verwickeln. Also gehe ich auch jedes Mal darauf ein, um dann festzustellen: falscher Alarm, sie spricht nur im Schlaf. Dabei kam es schon gelegentlich vor, dass tolle Dinge meinen Mund verließen, und ich meine nicht vergoldeten Speichel, sondern tolle Repliken, die einen wachen Zuhörer verdient und erstaunt hätten.

Heute Nacht war es wieder soweit. Sie bewegte sich im Schlaf. Mit viel Energie. Und versetzte mir dabei einen Tritt in meine rechte Seite. Regelrecht empört wurde ich davon wach und beklagte ihren gewaltsamen Schlaf. Und es dünkte mich oder mir (beides ist hier möglich), dass sie es mit voller Absicht getan hat! Rachegelüste. „Heute Nacht versetze ich ihm einen ordentlichen Tritt“, wird sie schon beim Zubettgehen gedacht haben. „Wenn er schläft, kriegt er eine in seine operierte Seite!“

„‚Tschuldigung.“

Kam, als ich mich beschwerte. Mehr nicht. ‚Tschuldigung und weiterschlafen. Ich sprach sie heute Morgen auf die nächtliche Schlägerei an. Und sie konnte sich bestens erinnern.

„Ich habe mich halt ungünstig gedreht, ich konnte ja nicht wissen, dass Du da liegst!“

Nicht wissen, dass ich da liege?! Seit drei Jahren liege ich da. Mit Unterbrechungen natürlich. Wir liegen beide dort überwiegend nachts.

Heute muss ich eigenständig zur Packstation gehen, da mich dort eine Großlieferung von Bartpflege-Produkten erwartet. Beispielsweise ein Kamm, den man sich an den Schlüsselanhänger dengeln kann. Ich frage mich, wie ich bis heute ohne so ein Ding klargekommen bin.

Ich trage an meiner Hose eine Kette, die mit meinem Portemmonaie verbunden ist. An dieser Kette hängt seit einigen Monaten auch die sinnvollste aller meiner Anschaffungen der vergangenen Jahrzehnte. Eine Taschenuhr!

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Ich habe ein Faible für Uhren. Warum auch immer, inzwischen habe ich eine kleine Sammlung und erwarb jüngst ein weiteres Exemplar mit so genanntem „Butterfly“-Armband, das wahnsinnig kompliziert anzulegen ist. Daher lege ich die Uhr erst gar nicht mehr ab. Aber diese Taschenuhr ist so dermaßen überflüssig, da sie stets in der Tasche steckt und man sie nicht herausholt, solange man gleichzeitig eine Armbanduhr trägt. Die geht schneller. Aber ich dachte mir, andere holen ihr Handy aus der Tasche, um die Uhrzeit zu erfragen, da kann ich doch eine stilvolle Taschenuhr herausholen! Das jedoch ist gar nicht so einfach, denn meist hole ich sie so aus der Tasche, dass der Knopf zum Öffnen auf der falschen Seite liegt und/oder die Uhr ohnehin falsch herum in der Hand liegt. Dann denkt man, es ist halb sechs, dabei fühlt es sich eher wie zwölf an. Man dreht und wendet, drückt auf dem Penöckel herum, weil man noch immer nicht ‚raushat, wie das Ding aufgeht und so vergehen wertvolle Minuten, die mir auf der Uhr zu beobachten nicht vergönnt sind. Eine sinnlose, aber stilvolle Anschaffung.

Ich also heute zur Packstation, obwohl ich operiert wurde! Ich wusste vergangene Woche ja schon, dass ich mich nun nicht mein Leben lang auf diese OP werde berufen können, um meine neu entdeckte Faulheit rechtzufertigen. Also versuchte ich es gestern Abend mit Anschauungsmaterial. Mit meiner Narbe, die rund fünf Zentimeter lang ist und eine kleine Wurst auf meiner Haut bildet.

„Ich finde die sexy!“, teilte meine Mitbewohnerin mir mit.

„Hm, ich finde Leistenbruch unsexy. Ich weiß nicht, von einer Messerstecherei, das wäre sexy! Aber so?“

„Du musst ja nicht jedem von Deinem Leistenbruch erzählen!“

„Hm, der Zug dürfte schon mehr als abgefahren sein.“

„Abgesehen davon sehe doch nur ich die Narbe.“

Ja, damit hat sie wohl (vorläufig) Recht, solange sich meine Lebenssituation nicht (ungünstig!) entwickelt.

Männern wird gerne vorgehalten, dass sie sich gerne bemuttern lassen. Ich will das gar nicht in Abrede stellen und weise Neuleser auch gerne daraufhin, dass Geburten und Nierensteine viel schlimmer sind als ein Leistenbruch. Aber ihre Fürsorge war doch mal ein schöner Liebesbeweis, den ich ihr nun gerne zurückgebe, wenn ihre Erkältung zur Grippe wird.