Pavel ist mir seit Schulzeiten, ja seit Kindergartenzeiten!, ein treuer Wegbegleiter. Er ist mir sogar bis nach Düsseldorf gefolgt, bilde ich mir ein, wobei er berufliche Gründe für diesen zweifelhaften Schritt – wir kommen beide aus Münster – anführt. Alles, was in unseren Leben schiefging, ließen wir gemeinsam schiefgehen, alles was gut ging, geschah unabhängig vom jeweils anderen. Es ist, so bilanzierte vor Jahren einmal meine Mutter, eine Freundschaft, die unmöglich gut für mich sein könne. Lustigerweise sieht es seine Mutter ähnlich; sie hasst mich. Und zeigt mir das ganz unverblümt. Aber der Mann hat einen derart güldenen Humor, dass ich ihm nicht widerstehen konnte und mich gerne verderben ließ. Unsere kriminelle Zusammenarbeit werde ich hier jedoch mitnichten ausbreiten, zumal sie stets ein böses, pekuniär verlustreiches Ende nahm. Inzwischen habe ich, anders als er, eine reine Weste.

„Vermutlich schläfst Du deshalb besser als ich, Seppo.“

Sofern er mich nicht unwissentlich zum Mittäter macht, liegt er damit richtig. Ich erfreue mich eines nur durch meine Kommunionsblase unterbrochenen qualitativ hochwertigen Schlafes. Allerdings auch erst seit wenigen Wochen wieder. Dazu ein anderes Mal mehr.

Ein Kollege von mir hat eine ähnlich große Blase wie die meine. Anders als ich war er mit seiner bei einer Urologin, die ihm ein pflanzliches Mittelchen verschrieb, auf das er seitdem schwört. „Seitdem gehe ich nur noch halb sooft schiffen!“ Mir genügte hingegen der Hinweis auf „pflanzlich“, denn dann kann es wohl kaum wirken. Und so beobachtete ich an einem Altstadt-Abend, wie der Mann nahezu sooft das WC aufsuchte wie ich. Also sehr oft.

Als Kind führte ich mal Buch über meine Toilettengänge, und wie es so meine Art ist, habe ich das „Buch“ noch:

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Ich gehe am liebsten alleine shoppen. Ich gehe oft shoppen, ich sag‘, wie’s ist. Vermutlich kompensiere ich etwas damit, was mir im Endeffekt allerdings egal ist, solange ich nicht weiß, was ich kompensiere. Gelegentlich kommt es aber vor, dass Pavel mit dabei ist, dem relativ egal ist, was er so am Leibe trägt. Er hat nichts zu kompensieren. Was mir Sorgen macht.

„Du musst doch etwas kompensieren! Jeder kompensiert! Du musst ja nicht gleich wie ich überkompensieren, aber ein bisschen Kompensation kann doch nicht zuviel verlangt sein!“

Er wolle sei Geld eben lieber sparen. Sein absolut legal verdientes Geld. Und er hat eine tolle Methode, wie man Einnahmen maximiert bei gleichzeitigem Verzicht auf Ausgaben. Er stiehlt.

In einem Deutschaufsatz in der sechsten Klasse – wir sollten irgendeine griechische Sage nacherzählen – benutzte ich ein mal die Vokabel „klauen“ und bekam dafür einen Strich an den Heftrand sowie ein „U“ für „umganssprachlich“. Nicht nur, dass mein Lehrer dieses messerscharf erkannt hatte, er kreidete es mir auch noch an. Seitdem kann ich das Wort „klauen“ einfach nicht mehr benutzen. Allerdings liest er hier nicht mit. Ich traf ihn mal nach Jahren in Münster wieder, als ich eine Umfrage für „Radio Antenne Münster“ machte. Ich erkannte ihn sofort! „Herr Oehler!“ Er blieb stehen und ahnte vermutlich, dass er wieder einmal von einem ehemaligen Schüler erkannt worden war. Er hingegen erkannte mich nicht, machte sich nicht einmal die Mühe, zumindest so zu tun. Ich nannte ihm Namen von Schulkameraden, um ihm auf die Sprünge zu helfen. Die kannte er alle noch. Er erinnerte sich sogar meines Bruders, den er nie unterrichtet hatte. Ich erzählte ihm die Nummer mit dem „klauen“. Und dann erinnerte er sich oder gab es zumindest vor, vermutlich, um sich so schneller aus der Affäre ziehen zu können, wofür ich absolutes Verständnis aufbringe. „Aus Dir ist ja scheinbar nichts geworden!“, sagte er mit Blick auf das Mikrofon, das ich in der Hand hielt. Ja, das war Herr Oehler, mein offenherziger Deutschlehrer mit Hang zu Sarkasmus. Ich habe diesen Mann verehrt. „Das war nicht sarkastisch, das war mein voller Ernst“, sagte er und ging weiter. „War das wieder sarkastisch?!“, rief ich hinterher, bekam aber keine Antwort. An meiner Umfrage wollte er offenbar nicht mehr teilnehmen, was ich ihm aber nicht verübeln konnte. Es ging um Fahrraddiebstahl in Münster. Fahrradklau gewissermaßen. Schade, das hätte er bestimmt lustig gefunden.

Pavel und ich also im Kaufhof in Düsseldorf. In dem für Proleten, nicht im „Kaufhof an der Kö“. Obwohl, das sei dem Nicht-Düsseldorfer hier mal verraten: Die „Kö“ lebt lediglich nur noch von einem Ruf, dem sie seit Jahren nicht mehr gerecht wird. Selten eine so ‚runtergekommene Prachtmeile gesehen. Wer einmal über den Prinzipalmarkt in Münster flaniert ist, wird die Königsallee für ein Outlet halten.

Trotz unseres innigen Verhältnisses teilen wir uns nach wie vor keine Umkleidekabinen oder „fitting rooms“, wie sie nun heißen, was absolut nachvollziehbar ist, da wir auf keinen Fall an unserer Muttersprache festhalten sollten. Es wäre zu einfach, wenn jeder auf Anhieb die Umkleiden finden würde. Pavel nahm zwei Jacken mit in die Umkleide und ich fragte nicht, warum er zum Anprobieren einer Jacke die Privatsphäre eines „fitting rooms“ brauche. Ich bekam auch so die Antwort. Als er rauskam.

„Pavel, Du bist mit zwei Jacken reingegangen und kommst mit einer wieder raus.“

„Sie hängt noch in der Kabine. Sollen sich die Verkäufer darum kümmern.“

„Du siehst seltsam dick aus.“

Es war nicht zu übersehen, dass Pavel zwei Jacken übereinander trug.

„Pavel, Du hast vergessen, die eine Jacke wieder auszuziehen.“

„Klappe. Hab‘ ich nicht. Das fällt nicht auf.“

Mir ist es aufgefallen.“

„Weil Du mich kennst. Andere denken, ich sei eben etwas dicker.“

„Pavel, das ist ein dermaßen billiger Trick. Und Du ziehst mich da mit rein.“

„Du weißt von nichts. Und die ältesten Tricks sind deshalb alt, weil sie sich bewährt haben.“

Innerlich werde ich sehr unruhig und habe das Gefühl, diverse Verkäufer begutachten uns bereits misstrauisch. Ich sehe vor meinem geistigen Auge (Man hat zwei physische Augen und nur ein geistiges?!) bereits einen Ladendetektiv, der uns über eine Kamera beobachtet und einen Kollegen alarmiert. „Young Fashion, zwei Typen, einer auffällig dicklich, der andere seltsam nervös. Bei den ‚fitting rooms‘. Guck‘ Dir die mal an!“ Überhaupt habe ich in Pavels Gegenwart stets das Gefühl, kriminell zu sein.

„Pavel, Du weißt, dass ich labil bin und das nervlich unmöglich überstehe. Dein Diebesgut wird doch mit Sicherheit an den Ausgängen piepen.“

Doch Pavel hat gar nicht vor, den Ausgang zu benutzen, er wolle mit dem Lastenaufzug in den Keller fahren, dort aussteigen und einen anderen Ausgang suchen, einen ohne die Lichtschranken.

„Wie teuer ist dein Diebesgut?“, will ich wissen.

„19 Euro 90.“

Na, das lohnt sich ja richtig, denke ich, während ich auf einer zweiten Ebene darüber nachdenke, ihm mit 20 Euro auszuhelfen. Soviel wäre mir das reine Gewissen wert, verwerfe aber diese Großzügigkeit und beschließe, den Laden zu verlassen.

„Pavel, wir treffen uns draußen. Ich warte vorne.“

Zusammen gehen wir also zur Rolltreppe, wo uns ein Schreck durch die Knochen fährt, als es fiept.

„Pavel, ich kenne Dich nicht. Viel Spaß.“, sage ich zu ihm, als ein Verkäufer hilfsbereit herbeigestürmt kommt, um meine Plastiktüten zu kontrollieren. Ein Kassierer habe wohl vergessen, das Sicherheitsetikett zu entfernen. Erwartungsgemäß findet er aber keines an meinen rechtmäßig erworbenen Textilien, sodass er mich bittet, abermals durch die Lichtschranken zu gehen.

Kein Piepen dieses Mal. Überraschung. Also ließ er mich gehen und blieb relativ ratlos zurück. Pavel hingegen steht unten an der Rolltreppe, leicht verschwitzt, aber erleichtert.

„Ist das Angstschweiß?“, frage ich ihn.

„Alter, ich trage gerade zwei Jacken, da ist es einfach warm!“

Seinen Plan, aus dem Laden zu entkommen, hat er derweil überarbeitet. Nun sollten wir das gleiche Spielchen noch einmal am Ausgang wiederholen, da es sich ja bewährt habe. Pavel greift nur auf Tricks zurück, die sich mindestens schon ein Mal bewährt haben. Beide gehen wir durch, es fiept, Verkäufer kontrolliert meine Tüten, findet nichts, spekuliert auf Fehlalarm und lässt uns gehen. Soweit sein Plan.

Mein Plan hingegen war ein völlig anderer. Beide gehen durch den Ausgang, es fiept und ich gehe weiter, in die Freiheit. Schön mit der Bahn nach Hause, nicht mit Pavels Auto. Und überlasse diesen seinem selbstgewählten Schicksal. Der jedoch hat nun ein anderes Problem.

„Seppo. Folgendes: Ich suche die Autoschlüssel. Sie sind aber in der anderen Jacke.“

„In welcher? In der oberen oder unteren?“

„In der in der Umkleide.“

„Im ‚fitting room‘?“

Ja. Er hatte seine Jacken vertauscht und seine ureigene dort vergessen.

„Wir müssen zurück.“

Ich verneine. Ich komme nicht mit. Er muss die Nummer alleine durchziehen, es ist mir zu doof. Ich und Ladendiebstahl. Ich habe als Zwölfjähriger einmal geklaut.

„Gestohlen!“

Danke, Herr Oehler. Gestohlen. Weingummis. Das war alles. Außerdem habe ich zuviele Kabel 1-Reportagen über Ladendiebe gesehen. Sie kriegen einen ja doch. Und ich will kein Hausverbot im Kaufhof. Dann müsste ich künftig immer in den „Kaufhof an der Kö“. Ich wäre gebrandmarkt.

Also lasse ich ihn alleine zurückgehen und beschließe, draußen auf ihn zu warten. Und so entging mir nicht ein fantastisches Schauspiel: Nach einer Viertelstunde etwa höre ich aus Richtung Eingang (meine Perspektive hat hier gewechselt, was eben noch Ausgang war, ist nun, da ich draußen verharre, Eingang, alles Frage der Betrachtungsweise) ein Fiepen, gefolgt von Rufen und einem aus dem Kaufhof stürmenden Pavel. Pavel ist leicht dicklich. Nur leicht. Und noch ungelenker als ich. Aber wenn es um was geht, kann der Mann unfassbar schnell rennen. Und so erkenne ich an seinem Lauftempo, dass es offenbar um was geht.

Ein älterer Herr in einem perfekt sitzenden Anzug stürmt aus dem Kaufhof. Bleibt draußen stehen und sieht Pavel hinterher. Seine Blicke interpretiere ich so, dass er sich schlechte Chancen ausrechnet, Pavel noch zu erwischen. Pavel hat’s geschafft! Ein Teufelskerl!

Und der rief mich am Abend an.

„Seppo, folgendes ist geschehen.“

Ich unterbrach. „Pavel, ich hab’s gesehen. Du kannst nie wieder in den Kaufhof, irgendeine Kamera wird Dich gesehen haben. Morgen steht dein Foto in der ‚Rheinischen Post‘, Rubrik ‚Blaulicht‘!“

„Seppo, halt inne. Ich habe gar nicht gestohlen.“

„Aber es hat gefiept an der Tür!“

„Ja. Zu meiner großen Überraschung. Ich hatte in der Umkleide, als ich meine alte Jacke holte, beschlossen, auf die Seite der Legalität zu wechseln. Also ging ich ohne Diebsgut und reinen Gewissens wieder raus. Dann fiepte es, dann rannte ich.“

„Erst fiepte es, dann rannte er.“

„Am Auto stellte ich dann fest, dass ich das abgetrennte Sicherheitsetikett in meiner Hosentasche hatte.“

„Pavel, du trennst das Etikett ab und steckst es in Deine Hosentasche?! Und für nur lächerliche 20 Euro hättest Du jetzt eine schicke Jacke. Ganz ohne diesen Stress. Ganz ohne meinen Stress.“

Pavels Wesen ist ein faszinierendes. Es kann alles noch so schiefgehen, am Ende betrachtet er die Dinge mit einer Gelassenheit, die mir leider nicht eigen ist. Während ich stets dramatisiere, spielt er Situationen herunter und verkennt ihren Ernst. Aber kann man es ihm vorwerfen? Er lebt deutlich besser mit dem Verkennen der Realität als ich.

 


 

Es ist sechs Uhr am Morgen, während ich diese Zeilen schreibe. Gestern wurden mir die Fäden meiner kleinen Naht, jetzt Narbe, etwa fünf Zentimeter lang gezogen. Ich kann mich wieder einigermaßen bewegen und finde daher im Bett keine Ruhe mehr, da ich die zurückgewonnene Freiheit 24 Stunden am Tag ausnutzen will. Wie herrlich ist diese Bewegungsfreiheit, man weiß sie nur zu schätzen, wenn man sie nicht hat.

Eine Facebook-Freundin von mir hat etwas Unsägliches zum irgendwie unsäglichen Flüchtlingsthema gepostet. Man weiß ja, dass da sehr viel Dummheit unterwegs ist im Netz. Es ist aber etwas anderes, wenn es von Leuten kommt, die man kennt. Ihre Äußerungen gingen in die Richtung „Das wird man doch mal sagen dürfen!“ und Verschwörungstheorie: „Wisst Ihr, warum der Personalausweis ‚Personalausweis‘ heißt? Weil wir alle Personal der Regierung sind. Und jetzt für die Flüchtlinge arbeiten sollen, die uns die Arbeitsplätze wegnehmen.“ Und außerdem sei in der DDR alles viel besser gewesen. Natürlich, ein Halbstaat, der unmittelbar vor dem Zusammenbruch stand, der Menschen bespitzelt und weggesperrt hat, der wirtschaftlich ein Misthaufen war. Ich habe überlegt, die „Freundschaft“ aufzukündigen. Aber dann entgingen mir ja künftig solch‘ geistige Ergüsse, die mich faszinieren. Aufregen und gleichzeitig belustigen. Weil sie so dumm und unreflektiert sind. „Diese Manipulation in Diesem Staat kotzt mich echt an, da soll mal noch jemand sagen, der Osten war scheiße!!!“, sagt sie und einer kommentiert „Du solltest in die Politik wechseln!“, was er aber nur ironisch meint (ich kenne ihn) und sie „liket“ diesen Kommentar. Weil sie doof ist. Und nun in die Politik wechselt.