tod

Zwei Dinge vorab: Zum einen sollte es mehr Menschen geben, die im richtigen Moment einfach mal die Fresse halten. Zum Zweiten dieses:

Meine Mitbewohnerin schrieb mir gerade eine (nicht mir gegenüber) böse „Threema“-Nachricht. Offenbar war sie heute Morgen noch ein Käsebrötchen kaufen, das eine von ihr nun sehr verhasste Kassiererin wie folgt zu kommentieren meinte zu müssen:

„Alles Käse! Hihi!“

Ich urteile ja gerne über das Humorverständnis anderer, obwohl das natürlich eine Geschmacksfrage ist, aber wenn ich an vergangene Woche zurückdenke, als eben diese Verkäuferin unseren Kauf von Waschmittel kommentierte mit:

„Oh, Vollwaschtag heute?“

… verstehe ich den irgendwie sexy Unmut meiner Mitbewohnerin. (Das Schlimme ist, wir hatten tatsächlich mehrere Ladungen Urlaubswäsche zu bewältigen, die Kassiererin lag also nicht einmal falsch!) Diese Kassiererin reiht sich ein in weitere Erfahrungen. Als ich beispielsweise ein Baguette und einen Weißwein in einem zufälligerweise Bioladen kaufte, obwohl mir Bio am Arsch vorbeigeht, hieß es:

„Oh, ein französischer Abend?“ – „Ich geb‘ Dir gleich Französisch!“ (letzteres nur gedacht)

Oder als ich aus beruflichen Gründen eine Gesichtsmaske kaufte der Sorte „Kaschmir“, hieß es:

„Ui, Katschmir!“

Kassieren ist womöglich auf Dauer langweilig und man sucht das Gespräch. Erwischt man meine Mitbewohnerin aber auf dem falschen Fuße, fängt man sich böse (aber sexy!) Blicke.

Zum eigentlichen. Gestern Abend fiel mir ausgerechnet im Bett etwas ein. Was, wenn jemand auf dem Sterbebett liegt und doch partout nicht stirbt? Wenn einem solche Ideen im Bett kommen, fängt man an, im Kopf bereits die Sätze zu formulieren, die man dann morgens aufzuschreiben gedenkt. Und das hält vom Schlafen ab. Dann kommt einem plötzlich auch noch ein vermeintlich genialer Satz in den Kopf und man tippt ihn schnell noch in die Handy-Memo-App ein, weil einen sonst die Furcht, ihn zu vergessen, am Einschlafen hindert. Zu meinem großen Unglück finde ich das vermutlich nicht gespeicherte Memo nicht mehr, sodass der geniale Einstiegssatz leider entfällt.

Unterstellen wir dem göttlichen Plan, dass ich erst relativ spät mit 96 auf dem Sterbebett im Kreise der Familie abzuleben gedenke. Die Verwandtschaft rückt an, nachdem meine Kinder sie telefonisch zusammengetrommelt haben:

„Es ist soweit. Er liegt im Sterben.“

Es kommen dann beispielsweise mein Neffe und meine Nichte, mit denen ich am Wochenende noch die Winterreifen aufzog. Die beiden schätzen mich nicht zuletzt, weil ich ihnen das Wort „Scheiße“ beigebracht habe und weil ich mir im Fernsehen lustige Hüte aufgesetzt habe. Sie also würden kommen.

Ich kenne Sterbebett-Situationen, die im Kreise der Familie ablaufen. Der oder die Sterbende liegt im Bett, kriegt noch das ein oder andere mit. Nach und nach kommt die Verwandtschaft rein ins Zimmer, möglichst leise. Warum eigentlich leise? Was kann denn noch passieren? Dass der Sterbende sich erschrickt und stirbt? Es sind natürlich der Respekt, die Angst und die Unsicherheit, die einen leise werden lassen. Bei mir war es Oma #1, die da so im Bett lag, während alle um dieses herumstanden.

In 60 Jahren liege also ich da. Die Tür öffnet sich langsam und die Erben kommen herein.

„Sebastian, wir sind’s. X und Y sind auch gekommen. Rechts steht X, links Y.“

„Ich mag zwar sterben, aber ich kann noch sehen!“, röchele ich, feststellend, dass ich wie ein Sterbender behandelt werde.

Was tut man in so einer Situation? Als Besucher? Man steht da und guckt? In meiner Zeit im Altenheim habe ich es erlebt, dass die Verwandtschaft am Bett des Sterbenden bereits über die Aufteilung des Erbes diskutierte. Wenn man das sieht, kann man nur schwer an sich halten.

Ich liege noch immer da. Mein Sohn verlässt mit meiner Tochter den Raum und im Flur diskutieren sie leise:

„Ich muss eigentlich gleich zu einem Termin.“, mein Sohn.

„Du wusstest doch, dass es heute zuende gehen kann. Warte noch etwas. Er ist Dein Vater!“

„Ich habe das Gefühl, es zieht sich aber noch in die Länge. Er atmet noch viel zu kräftig.“

Die beiden kommen wieder zu mir ins Zimmer.

„Was habt Ihr zu bereden, das ein Sterbender nicht mehr hören darf?“, will ich wissen.

„Schon Dich, Papa!“, sagt meine Tochter.

Wofür denn schonen?!

„Wo ist Mama?“, frage ich, meine natürlich meine Mitbewohnerin, die man als Ehemann vor den Kindern irgendwann „Mama“ nennt.

„Die ist doch schon lange tot!“

„Weiß ich. Ein kleiner Scherz von mir.“

„Er ist verwirrt!“, flüstert mein Sohn meiner Tochter zu.

„Nein, er hat Dich wirklich verarscht.“, diese.

Weitere zwei Stunden vergehen. Es herrscht gähnende Langeweile im Zimmer, bereits die zweite Garnitur Kerzen wurde entzündet. Ich erhebe das Wort.

„Ich kann mich nur entschuldigen, aber ich versuche ja, mich zu beeilen. Aber ich habe keinen Einfluss auf mein Dahinsiechen.“

„Papa, macht doch nichts. Wir haben Zeit!“, beruhigt meine Tochter.

Mein Sohn: „Naja, also bei mir ist es terminlich eher ungünstig.“

„Ich wollte ja am Wochenende sterben, damit es Dir besser passt“, erwidere ich und fühle plötzlich, wie ich überraschend erstarke, „Ich hab‘ gerade eher das Gefühl, ich könnte noch ’ne Runde walken gehen! Da denkt man, der Sensemann holt einen und plötzlich fühlt man sich topfit!“

„Verarscht er mich wieder?“, verunsichert mein Sohn.

„Ich bin gerade selber nicht so sicher. Der Arzt war heute Morgen der festen Meinung, dass er jetzt stirbt. Ich hab‘ schon den Totenschein!“, sagt meine Tochter.

Mein Neffe wird unruhig: „Ich habe mir das aber nicht so zäh vorgestellt. Ich komme den weiten Weg sicher nicht noch ein zweites Mal!“

Sein Vater, also mein Bruder: „Keine Sorge, der stirbt gleich.“

Meine Verwandtschaft verlässt den Raum und diskutiert. Ich höre Fetzen wie „Nachhelfen?“, „Kissen ins Gesicht!“ und „Ich erbe bestimmt nur Schulden.“

Ich liege da, höre mir das an und plane wieder ein Abendessen über meine Magensonde zu mir zu nehmen. Ich rufe meine Tochter: „Ich bin zum Abendessen vielleicht doch noch da! Haben wir noch was?“

Sie kommen wieder rein. Ich entschuldige mich:

„Das tut mir jetzt tatsächlich etwas leid, dass sich das so zieht. Vielleicht lachen wir da mal alle drüber?“

Mein Sohn: „Ich werde nicht darüber lachen, wenn ich mein Meeting verpasse …“

„Dann sag‘ Deinem Boss, dass Dein alter Herr sich weigerte zu sterben. Ich schreib‘ Dir auch gerne ’ne Entschuldigung: ‚Leider ergab es sich, dass trotz der schlechten Aussichten am Morgen ich gegen Abend wieder erstarkte und mein Tod sich in die Länge zog. Daher bitte ich, meinen Sohn vom Meeting zu entschuldigen.'“

Betretendes Schweigen, während ich meinem Sohn ansehe, dass er über diese Möglichkeit nachdenkt.

„Er hat Dich verarscht.“, klärt meine Tochter ihren Bruder auf.

„Für mich ist das hier auch ’ne zähe Nummer. Ich hatte schon mit allem meinen Frieden gemacht und jetzt lieg ich hier und sterbe nicht. Ich fürchte, heute Nacht deshalb nicht einschlafen zu können und wenn ich dann morgen sterbe, sterbe ich völlig unausgeschlafen.“

Ich nehme meinen Hologramm-Laptop und blogge: „Der zähe Tod II“.