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Bis gerade dachte ich, es sei Sonntag. Glück gehabt. Ich bin zu schnell. Nein, ich bin nicht zu schnell. Das Weltgeschehen ist schneller als ich und vermutlich schneller als wir alle. Und wir nehmen ja nicht einmal alles wahr, da medial selektiert wird. Was im Übrigen auch die legitime Aufgabe von Medien, von Journalismus, ist. Und natürlich, das was uns am ehesten angeht, hat Vorrang in der Wahrnehmung, was auch erklärt, warum immer erwähnt wird, wie viele Deutsche unter Opfern waren. Sind Deutsche wichtiger? Nein. Aber sie sind eben unser Gesellschaftskreis und da darf man schon einmal fragen, wie viele Opfer aus diesem stammen, aus seinem Umfeld eben. Und nun gab es gestern Nacht schon wieder Opfer. Man kommt nicht hinterher im Weltgeschehen. Während ich krank auf dem Sofa „Minions“ gucke, werden in Frankreich Leben zerstört. Grauenvoll. Es fängt immer so unwirklich an. Mit einer Eil-Meldung. Dann wird eine Tragödie daraus, innerhalb der nächsten Stunden. Das Ausmaß wird einem immer klarer. Und man fasst es dennoch nicht.

Am Dienstag verstarb Helmut Schmidt. Damit beschäftige ich mich gerade und lese jetzt erst das „Zeit Extra“, in dem mich ein Artikel beinahe zu Tränen gerührt hat. (Übrigens hätte die „Zeit“ ja ruhig mal kommunizieren können, dass man sich „Zeit Extra“ nicht extra kaufen muss, da es neben dem Einzelverkauf auch der „Zeit“ beiliegt. Ich habe nun zwei „Zeit Extra“!) Warum eigentlich?! Ich kannte ihn ja gar nicht persönlich. Genau so wenig wie so viele andere, die auf Facebook am Dienstag mit entsprechenden „Posts“ reagierten, als sei ein persönlicher Freund verstorben. Ich habe ein gespaltenes Verhältnis zu der Anteilnahme, die in sozialen Medien stattfindet. Weil sie übertrieben ist. Weil sie bei vielen nicht mehr als Show ist. Der Mann ist 96 geworden. Es ist nicht schön, dass er ging, aber nun auch keine Überraschung. Es ist kein menschliches Drama. Aber sicherlich ein Verlust eines Beobachters. Er selbst hat zuletzt gesagt: „Die nächste Attacke wird mich umhauen“, womit er leider Recht behielt. Geht jemand mit 30, dann ist das ein Drama. Aber gut, es ist müßig, die Anteilnahme für öffentliche Personen ist natürlich größer als für den Unbekannten. Der ist ja unbekannt.

Ich bin nicht grundsätzlich gegen Anteilnahme, wie mir hier bereits vorgeworfen wird. Schreibe ich auch an keiner Stelle. Das Ausmaß der Betroffenheit finde ich nur teilweise befremdlich. Die Art. Natürlich ist Schmidts Tod ein Verlust.

Für die düsteren Ereignisse in Paris gibt es bereits ein „Logo“, das nun bei vielen zum Profilbild wird. Weil es natürlich mit einem Klick erledigt ist. Es ist eben einfach. Aber deshalb nicht schlecht. Es ist alles extrem in sozialen Medien. Selbstdarstellung, Hass, Empathie. Daran wird es wohl liegen. Ich nehme mich nicht aus. Eben traf es noch ein Satire-Magazin, das plötzlich jeder schon immer gekannt haben will und sofort abonnierte. Und gar nicht des Französischen mächtig ist.

Dass ich nicht falsch verstanden werde: Natürlich nimmt man Anteil! Zurecht! Ich bin ebenfalls fassungslos! Und habe natürlich eine Meinung zu den Anschlägen. Zu so etwas Ultimativem hat das wohl jeder und zurecht.

 

Was das Weltgeschehen angeht, hänge ich immer etwas hinterher. Nicht, weil ich nicht weiß, wie ein Fernseher oder ein Browser zu bedienen sind. Sondern weil ich eben noch das Gedruckte zu schätzen weiß, das sich mehr Zeit nimmt für Hintergründiges. Mir sagen Menschen, es sei albern, papierene Nachrichten zu lesen, da Papier langsam sei. Das stimmt. Aber ich lese Zeitungen nicht, um Neuigkeiten zu erfahren. Das leisten sie seit Anbeginn der „Tagesschau“ nicht mehr. Schon das Radio war schneller. Es geht um Hintergründe. Das leistet das Gedruckte besser als alle anderen Medien, die auf Schnelligkeit abonniert sind. Das wissen aber nur die, die wirklich schon einmal eine Zeitung gelesen haben. Und ich meine keine popelige Lokalgazette.

So bleiben einem Spekulationen über Opferzahlen erspart. Eine Opferzahl verliert an Bedeutung, je mehr man mit ihr jongliert, sie wird trivial. Da wird dann irgendein Twitterer zitiert mit 40 Toten, während der Live-Ticker der „FAZ“ von 100 Toten spricht. Wenn wir sagen, die Höhe der Zahl spiele keine Rolle, dann lügen wir übrigens. Denn sie spielt schon in der philosophischen Frage des Abschusses eines Passagier-Flugzeuges mit 200 Insassen eine Rolle, wenn es darum geht, 2.000 Menschenleben dadurch zu retten. Juristisch ist das bis heute noch nicht geklärt, auch wenn es in Deutschland eine Regelung für diese Frage gibt. Die Moral ist hier überfordert. Wer will so eine Entscheidung treffen müssen? Schmidt übrigens traf eine ganz ähnliche Entscheidung, als es um Staatsräson ging.

Überhaupt: „Live-Ticker“. Man hat sich daran gewöhnt. Ich weiß aber auch gar nicht, ob es per se schlecht ist. Einfach mal keine Meinung zu etwas zu haben, finde ich nebenbei recht erfrischend. Es gibt Menschen, die haben zu allem eine Meinung. Viele von denen hauen sie auch sofort raus. Ungefragt. Ich habe zu den meisten Dingen keine Meinung. [Hier wurde mir bereits indirekt unterstellt, ich lehne eine Meinung zu den Anschlägen ab. Kapitaler Schwachsinn.] Wie auch?! Ich habe ja nicht zu jedem Sachverhalt alle notwendigen Informationen, um eine Meinung zu fundieren. Deshalb gehen mir Wutbürger auf den Sack, die ihre Meinung rausgröhlen, obwohl sie sie nicht begründen können. Euro-Hasser hasse ich mehr als die Euro-Hasser den Euro. Weil sie dumm argumentieren. Griechenland-Rettung. Ich hab‘ keine Ahnung, wie man es anstellen soll. Wie soll ich bewerten, was Merkel vorhat? Völlig unmöglich. Ich hab Wirtschaftspolitik studiert, kenne mich ein wenig aus mit Währungssystemen. Und natürlich ist eine Währungsunion ohne Finanzunion und ein Fehler. Mehr aber weiß ich nicht. Drachme wieder einführen, gröhlten soviele. Als wüssten sie um die Folgen!

Oder Freihandelsabkommen mit den USA. Grundsätzlich führen Freihandelsabkommen zu mehr Wohlstand auf beiden Seiten. Zölle, auch nicht-tarifäre Handelshemmnisse, sind immer schlecht, wenn nicht begründet durch Gefahr für Leib und Leben. Freihandel lenkt richtig. Und das Chlorhühnchen war nie eine Gefahr, aber die Gegner argumentieren noch immer damit. Auch Kultur ist inzwischen ausgeklammert. Aber okay, lasst uns warten, bis der Rest der Welt Freihandel hat, während wir noch debattieren. In Asien wird die EU inzwischen als absteigend bewertet. Sehr peinlich, würde ich mal sagen. Wir diskutieren zu lange. Weil jeder eine Meinung zu haben glaubt. Einfach mal die Fresse halten, wenn man Dinge nicht beurteilen kann. Ich komme mir komisch dabei vor, zu schreiben, dass ich zu den meisten Dingen keine Meinung habe. Möglicherweise, weil es nicht angesagt ist, zu etwas indifferent zu stehen.

Ich werde mich mit Paris erst dann ausführlich befassen, wenn überhaupt klar ist, was geschehen ist. Was nicht bedeutet, dass ich nicht gleich mal in die Nachrichten gucke. Bis dahin beschäftigt mich Helmut Schmidt, den natürlich alle toll finden. Auch die, die ihn erst bei Facebook durch seinen Tod „kennengelernt“ haben. Als Kanzler habe ich ihn natürlich nicht erlebt, nur zufällig als Leser der „Zeit“, in deren Magazin er oft Giovanni di Lorenzo zeitgenössische Interviews gab. Die Reihe hieß wohl „Auf eine Zigarette mit Schmidt“ oder so. Und natürlich, bei Maischberger, die ihn abonniert hatte, sah ich ihn auch. Man sah ihn überall. Einer der letzten Großen ist gegangen, heißt es immer. Zuletzt bei Egon Bahr. Eine hohle Phrase, denn auch die letzten Großen wachsen nach, wir merken es nur nicht. Schmidts Art stemmte sich gegen das, was wir wohl „Schnelllebigkeit“ nennen. Und: Er hat Punkte gesetzt. Kurze Sätze, die erst durch die Kürze prägnant wurden. Herrlich, diese peinliche Stille, weil er eben nicht ausschweifend geantwortet hatte und die nächste Frage noch nicht im Kopf des Interviewers formuliert war. Und natürlich kommt mir auch hier wieder Loriot in den Sinn:

„Schmidts Schnauze“ eben. Ich muss unbedingt zur Apotheke heute. Und die schließt in einer Stunde.

Und damit es kein Missverständnis gibt: Natürlich bin ich schockiert. Und völlig überfordert.

Und da es in den Kommentaren bereits eine Rolle spielt: Selbstredend verallgemeinere ich hier, da ich nicht jeden der vielen Milliarden Menschen persönlich kenne. Jedem ist es überlassen, seiner Trauer über welchen Vorfall auch immer freien Lauf zu lassen. Und jeder tut es eben auf andere Weise.


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