Welcher Teufel ritt mich heute Morgen, etwas zu schreiben und die Anschläge von Paris zu thematisieren? Futter für die Erregungskultur. Was denken Freunde, wenn sie das lesen?! Sie halten Dich für unsensibel. Das ist echt ein Problem, wenn man sich in eine wenn auch überschaubare Öffentlichkeit begibt, man wird festgenagelt. Gesagtes, Geschriebenes erhält plötzlich mehr Gewicht, als ihm zugedacht war. Wie käme beispielsweise jetzt ein Hitler-Scherz hier an?! Es wäre so vorausschaubar wie auch meine sich dann anschließende Rechtfertigung. Alles Muster, die schon da waren. Darum ja auch „Muster“. Also, kam Hitler zum Arzt. Sagte der Arzt: „Heil Hitler!“ Hitler darauf: „Genau das ist Ihre Aufgabe“. Dafür, dass der jetzt ganz spontan kam, gar nicht schlecht. Aber nicht intelligent. Nicht tiefgründig. Egal. Denn es geht um den „Lidl“.

„Lidl“ am Samstag ist für mich der ultimative Belastungstest gewesen, der mir zeigen sollte, ob ich heute Abend trotz leichter Grippe einen Wein-Abend begehen kann. Ich kann nicht. Schade. Überhaupt ist es natürlich eine dumme Idee, am Samstag einzukaufen. Doch es ist Teil meiner neuen Haushaltspolitik; ganz klassisch kaufen meine Mitbewohnerin und ich ab sofort jeden Samstag für die komplette Woche ein. Das hat einen ernsten Hintergrund, der an dieser Stelle keine Rolle spielen soll.

Ich bin kein Freund von „Lidl“, das ist wohl niemand. Aber heute feiere ich den Laden, denn offenbar hat er in den Jahren meines Boykotts ein Problem gelöst, das mich immer an den Back-Stationen in den Wahnsinn getrieben hat: die Herausnahme von Brötchen mit einer Zange während gleichzeitigen Offenhaltens der Klappe. Eine Hand bedient die Zange, die andere Hand hält die Klappe. Für die Brötchen-Tüte bleibt da keine mehr. Ich hasse es. Aber „Lidl“ hat die Lösung! Was für ein Erweckungserlebnis und so freut es mich, dass dieser Billo-Laden nun auch Großbritannien überschwemmt!

Direkt am Eingang verliere ich meine Mitbewohnerin, die auch die Einkaufsliste bei sich führt. Das entledigt mich einer gewissen Verantwortung, sodass ich mich unbelastet eines Planes vom Angebot des Diskonts inspirieren lassen kann.

Ich stehe vor den Handzahnbürsten und stelle fest, dass es zwar „soft“ und „medium“ gibt, ich aber „hart“ oder „fest“ vergebens suche. Denn die brauche ich für meine Zunge. Ich putze meine Zunge stets mit einer harten Zahnbürste. Nun, die alte bleibt wohl noch in Diensten, denke ich, während ich mich umdrehe und die Schlagzeile der „Bild“ lese: „Terror-Krieg“. Zwei verschiedene Dinge an sich, aber da wir es alle nicht einordnen können, gehen wir wohl auf Nummer sicher. Wir brauchen vermutlich neue Begriffe für das Unbegreifliche.

Ah, ich treffe meine Mitbewohnerin wieder!

„Ich finde den Blätterteig nicht! Kannst Du kurz hier warten?“, sagt sie.

Sie stellt mich samt Einkaufswagen bei den Eiern ab. Ich stelle vergnügt fest, dass es eine der wenigen Stellen im Markt ist, an denen man verharren kann, ohne jemandem im Weg zu stehen. Fünf Minuten vorher, als ich beim Löwensenf kollabierte, blieb mir keine Zeit zum Verschnaufen nach einem irren Hustenanfall, da ein Markt-Mitarbeiter offenbar zum Fegen verdonnert war und natürlich exakt unter meinen Schuhsohlen zu fegen vorhatte.

„Kann ich ma?!“, fragte er.

„Momentchen, ich kollabiere gerade. Danach gerne.“

Zurück zu den Eiern, wo ich samt Wagen warte. Meine Mitbewohnerin kehrt zurück – ohne Blätterteig. Sie bittet mich, mein Glück zu versuchen. Das motiviert mich! Die wird Augen machen, wenn ausgerechnet ich jetzt etwas finde, was sie vergeblich gesucht hat!

Ich gehe also die Tiefkühltruhen ab und schmunzele ob des Begriffes „Frischfleisch“, der die Truhe ziert, denn als Heranwachsender hatte ich mal einen Porno auf VHS, der sich „Frischfleisch 19“ nannte. Das klingt jetzt irgendwie nach Unter-18, war aber nicht der Fall. Und wenn ich näher darüber nachdenke, war der Titel auch „Frisches Fleisch 19“. Wie dem auch sei, ich werde auch in der Fisch-Theke natürlich nicht fündig und kehre enttäuscht zu meiner Mitbewohnerin zurück, doch sie steht gar nicht mehr bei den Eiern. Sie ist weg. Verschollen im gnadenlos überfüllten „Lidl“.

Derweil komme ich ein zweites Mal an der Back-Station vorbei und greife zu einem Baguette, das zum heutigen Chili passt. Ich recke es in die Höhe, damit sie mich besser sehen kann. Wenn sie denn noch irgendwo ist. Mein Baguette und ich bilden für einige Sekunden den höchsten Punkt im Laden. Bis mir das Baguette aus der Folie rutscht, da die Öffnung natürlich nach unten ragt. Nun bin ich bei so etwas schmerzfrei, ein bisschen Dreck wird mich schon nicht umbringen. Ich warte noch sechs Sekunden, damit ich die so genannte „Fünf-Sekunden-Regel“ breche, hebe es auf und schiebe es zurück in die Folie.

Ich finde mich am Wühltisch wieder. Eine für mich gefährliche Ecke. Meist ist etwas dabei, das mich in irgendeiner Form reizt.

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Dieses zum Beispiel. Man hängt es irgendwie an die Wand und es leuchtet. Ich bin fasziniert. Für einige Sekunden höre ich den Einkaufstrubel um mich herum nicht mehr. Vor meinem geistigen Auge sehe ich mich im Wohnzimmer unter dieser „Lampe“ sitzend, vollkommen entspannt. – Rumms.

Meine Mitbewohnerin rammt mich mit dem Einkaufswagen.

„Entschuldigung. Aber Du kannst hier unmöglich einfach irgendwo stehen bleiben!“, sagt sie.

„Aber bei den Eiern ging’s doch auch!“

„Aber am allerwenigsten am Wühltisch! Und nein, diese Lampe kaufen wir nicht!“

Ich beschließe zu schmollen und mich an der Kasse zu rächen.

„Wir brauchen Sauce für die Tortillas!“, erwähnt sie. Und ich sehe die Sauce! Ich blicke diagonal durch den kompletten Laden und sehe am anderen Ende die Sauce!

„Ich kann sie sehen! Aber sie ist dahinten! Das dauert, bis man da ist!“, gebe ich zu bedenken.

„Tortillas heute ohne Sauce?“

„Ja.“

Wir gehen zur Kasse. Und es ertönt ein Ausruf: „Die Geschäftsleitung bitte ins Büro!“

„Die Geschäftsleitung“, denke ich. Hier wird man nicht mit Namen, sondern mit der Funktion angesprochen. Offenbar ist die Durchsage auch nicht live gewesen, sonderen vom Band gekommen. Krass, alles automatisiert. Kein „32, 14 einmal die 39, bitte!“ mehr.

Neben dem Kassenband stehend greife ich zwei „Mini-Salamis“ aus dem Regal und schmeiße sie zu unserem Einkauf. Wenn ich schon die Lampe nicht bekomme. Meine Mitbewohnerin schüttelt den Kopf. Und dann:

„Verdammt! Salami! Wir brauchen noch Salami!“

Sie rennt los. Lässt mich samt Einkauf auf dem Kassenband zurück. Nichts für mich. Ich sehe es kommen: Ich werde abkassiert und sie kommt nicht rechtzeitig mit Gebirgsjäger-Salami zurück! Das kann sie gar nicht schaffen! Nervös blicke ich ihr hinterher. Sie ist bereits beim Aufschnitt. Doch, sie kann es schaffen. Sie hat die Salami. Aber?! Was?! Warum biegt sie ab?! Wohin geht sie!? Zur Tortillas-Sauce! Sie geht volles Risiko! Der Kassierer ist beim letzten Viertel unseres Einkaufs angekommen, zieht nun auch das über den Scanner. Ich verliere sie aus den Augen. Verschüttgegangen?! Bange Sekunden der Ungewissheit … WIE AUS DEM NICHTS! Taucht sie hinter mir auf! Das Teufelsweib hat eine Abkürzung genommen!


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