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Beim Blick aus dem Fenster stelle ich fest, dass der Asi da nach wie vor steht. Nicht, dass es mir Angst machen würde, aber langsam aber sicher mache ich mir aus allen Rohren in die Hose. Da kommt mir gerade recht, dass ein an die Wand gedübelter Stuhl, der uns als Diener dient, denn Diener dienen, unter der Last meiner Taschenuhr von der Wand kracht. Als Wurfgeschoss genutzt, kann dieser antike Stuhl, den wir aufwändig mit Nagellack-Entferner von altem Lack befreit haben, immensen Schaden anrichten. Also öffne ich das bereits geöffnete Fenster und rufe dem Mittdreißiger zu:

„Brauchst Du einen Stuhl? Willst Du Dich vielleicht setzen?“

Ich würde ja behaupten, dass der Typ verdutzt guckt, aber wegen seiner tief ins Gesicht gezogenen Kapuze erkenne ich seine Mimik nicht. Außerdem steht er hinter einem Baum. Ich ahne also nur, dass da überhaupt jemand ist. Ich frage:

„Guckst Du nun verdutzt?“

Keine Antwort.

„Soll ich Dir ein Telegramm schicken?!“

Wieder keine Antwort. Weil selbst ein Telegramm zu lange dauern würde, hole ich Zettel und Stift und schreibe: „Guckst Du nun verdutzt?!“ Befestige den Stuhl mit Klebeband am Zettel und werfe Zettel anhänglich Stuhl nach dem Belagerer.

Natürlich treffe ich nicht, weil ich nie treffe. Werfe ich Bälle, koppelt sich deren Flugbahn von sämtlichen physikalischen Gesetzen ab, sodass sie im Grunde überall landen können. Nur nicht am Ziel. Ich war naiv, wenn ich glaubte, es mit Stühlen besser zu können.

So landet der Stuhl mitten auf der Straße, zerbricht natürlich dabei und der Zettel löst sich und wird weggeweht. Der Finder dieses Zettels wird vermutlich wirklich verdutzt gucken, wenn der Zettel sich bei ihm nach seinem Gesichtsausdruck erkundigt.

Ich gehe vom Fenster weg, um nicht mit dem Stuhl-Vorfall in Verbindung gebracht zu werden. Beim Gang durch den Flur überlege ich, ob ich geschichtsvergessen sei, gehe schnell ein paar Daten durch

1789, 1848, 1932, 1939, 1945, 1952, 1979, 1989, 1990 …

Nein, alles noch da. Oder war es 1933?! Verdammt. Also rufe ich an diesem 76. Tag die Auskunft an, wo man mir mitteilt:

„Es war 1933.“

„Verdammich, da war ich doch für einen kurzen Moment geschichtsvergessen!“, sage ich und lege auf und bemerke das Fehlen der Telefon-Gabel und bestaune den technischen Fortschritt. Telefonieren ohne Gabel. Was für eine grenzenlose Welt!

Ich beschließe, den Müll runterzubringen, da er sich hier schon stapelt. Und da ich schonmal unten bin, gucke ich unauffällig aus der Tür, um mich nach dem Verbleib des Typen zu erkundigen. Da der Baum in der Zwischenzeit offensichtlich gefällt worden ist, habe ich freie Sicht auf den Mann, der Ohrenschützer trägt. Es ist zwar kalt geworden inzwischen, aber Ohrenschützer halte ich für übertrieben. Also frage ich:

„Mittelohrentzündung?“

„Nein, lärmempfindlich. Und das Aufkrachen des Stuhles auf der Straße hätte mich um den Verstand gebracht.“

„Sie stehen hier seit 76 Tagen, und da ich sehr ich-bezogen bin, beziehe ich Ihren Aufenthalt auf meine Person. Liege ich damit richtig?“

„Ja, natürlich.“

Und so erzählt er, wie er von 76 Tagen des Weges kam und ich rechne im Kopf zurück, wodurch mir allerdings wesentliche Aspekte seiner Geschichte entgehen. Weiß aber nun, dass er seit dem neunten September hier steht.

„Seit dem neunten September?“

„Ja, ganz recht.“

Mir wird nun klar, wer er ist. Denn der neunte September bleibt für mich unvergessen. Von wegen geschichtsvergessen, denn was meine eigene Geschichte angeht, bin ich immer auf dem neuesten Stand.

„Und wie sieht es mit der Zukunft aus?“, will er wissen.

„Nun, ich habe da weitreichende Pläne.“

„Mehr wollte ich gar nicht wissen.“, sagt er und steigt in den VW 1600, den ich jetzt erst bemerke.

Und wieder wird mir etwas klar. Es ist genau der VW 1600, den ich nie hatte! Da das Modell meines Wissens nicht mehr gebaut wird. Ich stelle fest, dass Tag 76 nichts mit Zufall zu tun hat. Es scheint exakt der Tag zu sein, an dem viele Handlungsstränge meiner Vergangenheit wieder aufeinandertreffen. Und als sei das noch nicht genug, transportiert der VW 1600 einen 3D-Druck meines verschollenen Bruders im Kofferraum. Spätestens hier ist mir klar, dass sich zwar nicht die Welt, so aber doch vereinzelte Ereignisse um mich drehen.

Da mir kalt wird und ich gerade erst eine Verkühlung hinter mich gebracht habe, gehe ich wieder in die Wohnung, wo mich im Flur ein Rednerpult erwartet. Ich frage erst gar nicht, wo es herkommt, besteige es und halte die vorbereitete Rede. Innerlich spüre ich Genugtuung, denn ich habe immer gesagt, dass es von entscheidender Relevanz sein kann, immer eine vorgefertigte Rede bei sich zu haben, da man jederzeit in die Verlegenheit kommt, eine solche halten zu müssen. Also setze ich an:

Beim Blick aus dem Fenster stelle ich fest, dass der Asi da nach wie vor steht. Nicht, dass es mir Angst machen würde, aber langsam aber sicher mache ich mir aus allen Rohren in die Hose. Da kommt mir gerade recht, dass ein an die Wand gedübelter Stuhl, der uns als Diener dient, denn Diener dienen, unter der Last meiner Taschenuhr von der Wand kracht. Als Wurfgeschoss genutzt, kann dieser antike Stuhl, den wir aufwändig mit Nagellack-Entferner von altem Lack befreit haben, immensen Schaden anrichten. Also öffne ich das bereits geöffnete Fenster und rufe dem Mittfdreißiger zu:

„Brauchst Du einen Stuhl? Willst Du Dich vielleicht setzen?“

Ich würde ja behaupten, dass der Typ verdutzt guckt, aber wegen seiner tief ins Gesicht gezogenen Kapuze erkenne ich seine Mimik nicht. Außerdem steht er hinter einem Baum. Ich ahne also nur, dass da überhaupt jemand ist. Ich frage:

„Guckst Du nun verdutzt?“

Keine Antwort.

„Soll ich Dir ein Telegramm schicken?!“

Wieder keine Antwort. Weil selbst ein Telegramm zu lange dauern würde, hole ich Zettel und Stift und schreibe: „Guckst Du nun verdutzt?!“ Befestige den Stuhl mit Klebeband am Zettel und werfe Zettel anhänglich Stuhl nach dem Belagerer.

Natürlich treffe ich nicht, weil ich nie treffe. Werfe ich Bälle, koppelt sich deren Flugbahn von sämtlichen physikalischen Gesetzen ab, sodass sie im Grunde überall landen können. Nur nicht am Ziel. Ich war naiv, wenn ich glaubte, es mit Stühlen besser zu können.

So landet der Stuhl mitten auf der Straße, zerbricht natürlich dabei und der Zettel löst sich und wird weggeweht. Der Finder dieses Zettels wird vermutlich wirklich verdutzt gucken, wenn der Zettel sich bei ihm nach seinem Gesichtsausdruck erkundigt.

Ich gehe vom Fenster weg, um nicht mit dem Stuhl-Vorfall in Verbindung gebracht zu werden. Beim Gang durch den Flur überlege ich, ob ich geschichtsvergessen sei, gehe schnell ein paar Daten durch

1789, 1848, 1932, 1939, 1945, 1952, 1979, 1989, 1990 …

Nein, alles noch da. Oder war es 1933?! Verdammt. Also rufe ich an diesem 76. Tag die Auskunft an, wo man mir mitteilt:

„Es war 1933.“

„Verdammich, da war ich doch für einen kurzen Moment geschichtsvergessen!“, sage ich und lege auf und bemerke das Fehlen der Telefon-Gabel und bestaune den technischen Fortschritt. Telefonieren ohne Gabel. Was für eine grenzenlose Welt!

Ich beschließe, den Müll runterzubringen, da er sich hier schon stapelt. Und da ich schonmal unten bin, gucke ich unauffällig aus der Tür, um mich nach dem Verbleib des Typen zu erkundigen. Da der Baum in der Zwischenzeit offensichtlich gefällt worden ist, habe ich freie Sicht auf den Mann, der Ohrenschützer trägt. Es ist zwar kalt geworden inzwischen, aber Ohrenschützer halte ich für übertrieben. Also frage ich:

„Mittelohrentzündung?“

„Nein, lärmempfindlich. Und das Aufkrachen des Stuhles auf der Straße hätte mich um den Verstand gebracht.“

„Sie stehen hier seit 76 Tagen, und da ich sehr ich-bezogen bin, beziehe ich Ihren Aufenthalt auf meine Person. Liege ich damit richtig?“

„Ja, natürlich.“

Und so erzählt er, wie er von 76 Tagen des Weges kam und ich rechne im Kopf zurück, wodurch mir allerdings wesentliche Aspekte seiner Geschichte entgehen. Weiß aber nun, dass er seit dem neunten September hier steht.

„Seit dem neunten September?“

„Ja, ganz recht.“

Mir wird nun klar, wer er ist. Denn der neunte September bleibt für mich unvergessen. Von wegen geschichtsvergessen, denn was meine eigene Geschichte angeht, bin ich immer auf dem neuesten Stand.

„Und wie sieht es mit der Zukunft aus?“, will er wissen.

„Nun, ich habe da weitreichende Pläne.“

„Mehr wollte ich gar nicht wissen.“, sagt er und steigt in den VW 1600, den ich jetzt erst bemerke.

Und wieder wird mir etwas klar. Es ist genau der VW 1600, den ich nie hatte! Da das Modell meines Wissens nicht mehr gebaut wird. Ich stelle fest, dass Tag 76 nichts mit Zufall zu tun hat. Es scheint exakt der Tag zu sein, an dem viele Handlungsstränge meiner Vergangenheit wieder aufeinandertreffen. Und als sei das noch nicht genug, transportiert der VW 1600 einen 3D-Druck meines verschollenen Bruders im Kofferraum. Spätestens hier ist mir klar, dass sich zwar nicht die Welt, so aber doch vereinzelte Ereignisse um mich drehen.

Da mir kalt wird und ich gerade erst eine Verkühlung hinter mich gebracht habe, gehe ich wieder in die Wohnung, wo mich im Flur ein Rednerpult erwartet. Ich frage erst gar nicht, wo es herkommt, besteige es und halte die vorbereitete Rede. Innerlich spüre ich Genugtuung, denn ich habe immer gesagt, dass es von entscheidender Relevanz sein kann, immer eine vorgefertigte Rede bei sich zu haben, da man jederzeit in die Verlegenheit kommt, eine solche halten zu müssen. Also setze ich an, während irgendwo auf der Welt jemand ein Krustenbrot backt.


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