I

Bis zuletzt hatte ich gehofft, dass der Sängerin etwas zustößt. Nicht gleich ein tödlicher Unfall, eine Stimmbandentzündung hätte ja genügt. Bis kurz vor Konzertbeginn zog ich in Betracht, einen Herzanfall vorzutäuschen, wenn sie schon keiner heimsucht. Meine Mitbewohnerin zu verlassen, überhaupt die Stadt, schien mir etwas übertrieben zu sein, nur weil ich mit ihr ein Vonda Shepard-Konzert besuchen … ja, durfte. Außerdem hat es geregnet.

Ich war auf die anderen männlichen Konzertbesucher gespannt, die wir im Düsseldorfer „Savoy-Theater“ treffen würden. Können ja unmöglich Fans sein.

„Ich werde Frau Shepard bitten, etwas leiser als sonst zu singen, dann könnte ich ja vielleicht schlafen.“, informierte ich meine vorfreudige Mitbewohnerin, zumal ich unter einem deftigen Kater litt.

„Ich könnte Dich auch hier auf der Stelle bewusstlos schlagen.“, meinte sie dann, die ja Kampfsportlerin ist. Und ich zog das in Betracht, wusste aber, dass das mit Schmerzen verbunden sein könnte und knickte leicht ihren Daumen um:

„Wäre doch schade, wenn der jetzt bricht.“

Sie bog dann meinen kleinen Finger nach außen.

„Der kleine Finger tut mehr weh.“, warnte sie mich.

Also brachen wir uns weder Finger noch Daumen, was manchmal unsere Art ist und taperten zur Abendkasse, wo ich sehr leise sagte:

„Wir wollen zum Vonda Shepard-Konzert.“ Und sehr laut, damit jeder hören konnte, dass ich privilegiert war: „ICH STEHE AUF DER GÄSTELISTE!“

Und wir hatten tolle Sitzplätze, gar keine Frage.

Den Fans von Vonda Shepard sah man an, dass sie in ihren besten Zeiten „Ally McBeal“ geguckt haben, wo – für die Unwissenden – Frau Shepard stets am Klavier die Handlung besungen hatte. Und den Männern sah ich an, dass sie aus denselben Beweggründen wie ich da waren. An der Garderobe war vor uns ein Pärchen, dessen weiblicher Bestandteil sich bei ihrem Freund beklagte, dass er ihr nicht aus der Jacke geholfen habe, wie es das ältere Paar vor ihnen vorgemacht hatte.

„Hättest Du ja auch machen können!“, rief sie so laut, dass es jeder hören konnte. Schön den eigenen Freund bloßstellen.

Ich blickte zu meiner Mitbewohnerin, die allerdings schon aus ihrer Jacke gerutscht war und erfreute mich ihrer Selbständigkeit. Ich halte ja gerne Türen auf, aber Entjacken müsst Ihr Euch schon selber, das finde ich, ist eher etwas für ältere Menschen. Bei BHs und Höschen halte ich es allerdings anders, da helfe ich gern.

In Reihe sechs sitzend stelle ich fest, dass viele Männer bereits auf ihre Uhr gucken, bevor es überhaupt losgegangen ist. Sie rechnen. Sie rechnen wie ich. Wenn Frau Shepard um halb neun anfängt und etwa zwei Stunden singt, sind wir dann und dann zuhause … Aber nun ist da erst einmal der unterstützende Akt, ein Sänger/Schreiberling, der ganz seltsames Englisch spricht, sodass ich nur seinen Appell verstehe, dass man nach dem Konzert bitte nicht nur die CDs von Frau Shepard, sondern auch seine kauft. Er singt zweifellos gut, für mich etwas zu melancholisch, wofür ich viel zu anfällig bin und trinkt zwischen den Liedern „Becks“ mit Deppenapostroph. An Alkohol ist bei mir heute nicht zu denken.

Er ist so freundlich, lediglich fünf Lieder zu trällern, um dann irgend etwas zu erzählen, was meine Mitbewohnerin mir freundlicherweise übersetzt, da ich diesen englischen Dialekt so gar nicht verstehe:

„Er muss jetzt schnell zum Bahnhof, sagt er.“, sagt sie.

Und in der Tat, er packt recht zügig seine Sachen zusammen, um uns dann noch zu fragen, ob wir alle keinen Job hätten, da wir an einem Montagabend in einem Konzert säßen. Das sollte vermutlich ein Witz sein, den Erwerbslosen im Saale jedenfalls bleibt das Lachen im Halse stecken. Sie werden vermutlich keine CDs von ihm kaufen.

Frau Shepard betritt die Bühne und ich stelle abermals fest, dass man ihr Alter ihr überhaupt nicht ansieht. Sie könnte auch 30 sein, ist aber jenseits der 50. Sie spart sich Begrüßungsformeln und startet ihren Gesang.

„Zu laut. Dabei kann ich unmöglich einschlafen.“

Ich sehe begeisterte Frauen und Männer, die daneben sitzen. Hier und da wird mitgeklatscht, was ja den Deutschen immer vorgeworfen wird, aber Frau Shepard besteht darauf, dass wir klatschen. Sie droht, den Saal zu verlassen, wenn nicht geklatscht würde. Das ist meine Chance, denke ich, muss nur genügend dazu bringen, nicht zu klatschen. Vergebens. Die Frauen im Saal bewegen sich zu dem Klatschen noch rhythmisch im Sessel, die Männer sitzen daneben. Erst bietet man uns ruhigere, neue Lieder, später dann die „Ally McBeal“-Klassiker. Es gibt kein Halten mehr. Nun stehen die ersten Frauen auch auf, um im Stehen zu klatschen. Rechts vor mir stehen zwei Damen, die nicht klatschen. Sie stehen nur da, völlig unbeweglich. Nun merke auch ich, dass die Anteilslosigkeit zu stur wirkt. Außerdem stehen zunehmend auch Männer auf, die von ihrer weiblichen Begleitung dazu genötigt werden. Ich sehe mich um, um festzustellen, dass nur noch ich sitze. Ich gebe dem Gruppendruck nach zumal ich fürchte, dass auch Frau Shepard irgendwann mich auffordert, doch endlich aufzustehen, eine Schmach, die ich vermeiden will.

Beim Aufstehen kracht mir der Klappsessel an den Podex. Da ich wahnsinnig schreckhaft bin, kreische ich kurz auf, was von meinen Nachbarn als Ausruf der Begeisterung interpretiert wird. Allerdings stoße ich vor Schreck auch die Kola-Flasche meiner Mitbewohnerin um. Die Kola fließt ihr in den Schuh, sodass sie flucht, was von niemandem als Ausruf der Begeisterung interpretiert wird. Viel schlimmer ist, dass sie gerade ein Video machte, auf dem nun zu sehen ist, wie wir uns beide zur Flasche gen Boden bücken, wobei natürlich unsere Köpfe aneinander stoßen. Sie blickt mich böse an, dreht meinen kleinen Finger nach außen und so fühle ich mich gewarnt und gestraft.

„Du hast mein Video versaut!“, ist sie in dem Video zu hören.

„Ich kann doch nicht ahnen, dass ich hier aufstehen muss und da unten deine Kola steht. Du hättest die Flasche doch liegen lassen können.“

„Die Kola floss mir in den Schuh.“

Ich entschuldige mich also und klatsche weiter.

Es muss am Rest-Alkohol liegen, aber irgendwie passiert es mir gleich dreimal, dass ich Probleme mit dem Klatschen habe. Ständig denke ich darüber nach, was für eine Meisterleistung des Hirns es doch ist, nicht aus dem Takt zu geraten. Und vermutlich eben weil ich darüber sinniere, komme ich aus dem Takt und klatsche plötzlich gegen diesen. Ich werde freundlich und zurecht von meiner Mitbewohnerin ausgelacht, während ich versuche, wieder synchron zu den 399 anderen Gästen zu klatschen. Es gibt häufig Situationen, in denen ich mir doof vorkomme, dieses war so eine. Hoffentlich merkt Frau Shepard es nicht, die plötzlich ihr rechtes Bein hochreißt und mit dem Knie ihr Gesicht berührt. Was für eine Lady! Leider geht es zu schnell, um ihr unter den recht knappen Rock zu gucken.

Nun sucht sie das Gespräch mit dem Publikum. Es geht wohl darum, dass wir uns in ihren E-Mail-Verteiler eintragen müssen. Weil sie auch Rezepte schreibt und verschickt. Es folgt ein Standard-Scherz, bei dem es darum geht, dass die Deutschen bestimmt Bratwurst mit Erdnussbutter essen. Heiteres Gelächter im Saal, irgendein männlicher Fan ruft ihr etwas zu, was weder ich noch Frau Shepard verstehen und so antwortet sie geschickt mit

„Wie geyts?“

Heiteres Gelächter im Saal und Frau Shepard bedankt sich artig.

„Dankescheyn.“

„Dankeschön.“, korrigiere ich und ernte abermals einen bösen Blick von meiner Mitbewohnerin, die schon wieder an meinem kleinen Finger zieht.

Nun singt Frau Shepard ein Lied auf Deutsch. Das merke ich nur, weil sie vorher gesagt hat, dass es ein deutscher Text ist. Denn er hörte sich nicht deutsch an. Was aber okay ist. Der Wille zählt und ich staune überhaupt über ihre Textsicherheit. Eben war sie noch in den Niederlanden. Ob sie da auch ein niederländisches Lied gesungen hat? Toll. Dankescheyn. Überhaupt finde sie Germany wahnsinnig incredible. Hat auch schon der Vorakt gesagt. Dusseldorf sei incredible. Aber in wie fern incredible, lassen sie uns nicht wissen.

Natürlich freue ich mich die ganze Zeit. Weil sie sich freut. Also meine Mitbewohnerin. Auch wenn mein Magen bedrohliche Geräusche von sich gibt. Ich neige dazu, mir am Tag nach Trinkgelagen – es war eine Art Weihnachtsfeier am Vorabend – Unmengen an Dingen zu bestellen, die ich dann esse. Das wollte ich eigentlich an diesem Tag genau nicht tun, aber ich tat es dennoch. Mehrere Currywürste und Burger liegen somit zusammengepresst in meinem Magen und schieben sich nun offenbar durch den Darm. Mir wird also klar: Frau Shepard muss zum Ende kommen. Und dann ist es soweit, sie verlässt die Bühne. Ja, klar, dass nun alle „Zugabe“ rufen und so kommt Frau Shepard wieder und singt eine weitere halbe Stunde. Ausschließlich „Ally McBeal“-Lieder, die ich natürlich mehr oder weniger kenne.

Wieder verlässt sie die Bühne und ich weiß natürlich, die kommt wieder. Andere wissen das nicht. Einige Männer packen bereits ihre Sachen und können den Saal nicht schnell genug verlassen. Die ersten Reihen lichten sich, als Frau Shepard zurückkommt und wohl merkt, dass sie zu lange hinter dem Vorhang war, da einige wirklich naiv dachten, es sei vorbei. Also rennt sie zum Mikrofon-Ständer und verkündet, dass es noch weiter geht. Enttäuschte Herren am Ausgang, die von ihren Frauen genötigt werden, sich die zweite Zugabe auch noch anzusehen.

Und dann kommt der Vorakt auch nochmal rein, der mit dem meiner Meinung nach miesen Englisch, der doch eigentlich zum Zug musste.

„Hat er seinen Zug verpasst?!“, frage ich meine Mitbewohnerin.

„Das war ein Scherz von mir.“

„Die Witze in unserer Beziehung mache ich.“, gebe ich beleidigt zurück, weil ich darauf reingefallen war.

Selig singen nun alle zusammen, während ich natürlich den Text nicht kann und beim Klatschen wieder den Takt verlasse. Dabei denke ich an einen Typen, der bei einem „Die drei Fragezeichen“-Live-Auftritt einmal vor mir saß und wahnsinnig Raum einnehmend klatschte. Der Mann hat Präsenz, dachte ich, aber er hat zuviel. Wie kann man beim Klatschen denn dermaßen ausholen?! Vom Klatschen kann man defintiv auf die Persönlichkeit des Klatschenden schließen. Jener Typ war mir sofort unsympathisch, mir liegt da eher Zurückhaltung und Bescheidenheit. Und ich sehe auch noch verdammt gut dabei aus, dachte ich. Immer wenn ich einen Kater habe, halte ich mich für zumindest optisch unwiderstehlich. Ob Frau Shepard mit mir schlafen will, wenn sie mich sieht?

Nach etwa drei Stunden ist das Konzert durch. Natürlich schreibe ich dieses mit einem Augenzwinkern. Es war zweifellos ein schöner Abend. Als nächstes geht es zu Helge Schneider. Mehr mein Fall. Nichts gegen Vonda Shepard. Ich schätze ja die jung gebliebenen Menschen sehr.

Kurz vor dem Konzert schrieb mir eine Freundin aus den USA, die gerade ein Flugzeug bestieg und das wie ich nicht gerne tut. Ich tröstete sie mit den Worten, dass natürlich eine Restwahrscheinlichkeit bleibe, dass sie abtürze, aber sie immerhin nicht ein Vonda Shepard-Konzert besuchen müsse. Inzwischen weiß ich, dass sie gut gelandet ist.

Und jetzt aus IHRER Sicht!

Und da es eine Trilogie ist, das Ganze aus Sicht von Vonda Shepard!


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