meyerbohde

Ich bin ein Kind der „Sesamstraße“. Im Wesentlichen eher meiner Eltern, aber dann kommt bereits die Sesamstraße. Zu meiner Zeit, die ja an sich noch gar nicht abgelaufen ist, kam sie, wenn ich mich recht entsinne, auf „West 3“ um 18.00 Uhr zu einer Zeit, als wir noch kein Kabelfernsehen hatten, die ersten Kabel in unserer Straße aber bereits verlegt wurden. Unvergessen, wie ein Bauarbeiter einst bei uns klingelte und unsere Toilette benutzen wollte. „Für was?“, fragte damals meine Mutter etwas naiv, da sie den Abriss unseres Gäste-WCs fürchtete. Noch heute eine heitere Anekdote, sobald es an der Tür meiner Eltern klingelt. „Ist es der Bauarbeiter?“

(Noch unvergessener, wie unser Nachbar einen extrem hartnäckigen Tür-Verkäufer mit einem Baseball-Schläger aus unserem Haus vertrieb, als meine Mutter alleine zuhause war.)

Inzwischen wird die Sesamstraße in den frühen Morgenstunden gesendet, was ich erschreckend finde. Die Sesamstraßen-Hochphase war für mich die Ära von Horst, Uwe und Lilo. Die waren echt. Anders als Tiffy (tatsächlich ein Vogel), Samson und Herr von Bödefeld, der mit Vornamen Uli hieß, als Negativcharakter ausgelegt und ein Meerschweinchen war. Ein ziemlich hässliches. Und übernatürlich großes. Aber auch die Schnecke, Finchen, war viel zu groß geraten. Kann es sein, dass Finchen immer leicht depressiv war? Bewegungstherapie als Abhilfe fällt bei Schnecken natürlich auch aus … Mit weniger Auftritten beschenkt waren Rumpel in der Tonne sowie dieser große, gelbe Vogel, dessen Name mir gerade einfach nicht einfallen will. Ich mochte ihn auch nicht. Ich mochte auch Samson nicht. Wen mochte ich eigentlich? Tiffy war auch unerträglich. Offenbar mochte ich die Realpersonen. Uwe mit seinen Fahrrad-Tipps. Und Lilo, diese Frohnatur! Sabrina, Du erinnerst mich ein wenig an Lilo, wenn ich jetzt mal so darüber nachdenke.

Ich liebte die Folgen, in denen Samson aus unerfindlichen Gründen auf einer einsamen Insel hockte und alle anderen vorbeikamen. Alles vor einer grünen Wand und einer Plastikplane, die das Meer darstellen sollte.

Dann bekamen auch wir Kabelfernsehen und damit den Segen, dass im Anschluss an die Sesamstraße auf „Nord 3“, was wir nun empfingen, eine weitere Folge der Sesamstraße lief.

Fast noch besser, ich kann mich einfach nicht festlegen, war „Hallo Spencer“, was freitags um 18.30 Uhr kam. Und ich meine die alten „Runddorf“-Folgen. Das hätte mir Spaß gemacht; diese vielen Charaktere bis hin zum schwulen Elvis, in dem ich mich bis auf die sexuelle Orientierung, die ich ihm lediglich unterstelle (denn da war ja seine Freundin dingens, komme nicht auf den Namen, die blonde aufgedrehte), absolut wieder erkenne. Lulu! So hieß sie. Sie hatte eine Schwester, die hier und da vorbeikam, die Peggy. Wohnten in einem Bauwagen Eisenbahnwagon. Dann die Schwestern Mona und Lisa, wohnhaft auf einem Hausboot. Kasimir, der auf einem Baum samt Aufzug lebte. War so ein Feigling. Hatte Angst vor Nepomuk, residierend in einem Schloss. Lexi, der Besserwisser, von ich ich nicht weiß, was er darstellen sollte. (Wir bekamen dann auch Farbfernsehen und ich realisierte, dass Lexi wirklich bunt war!) Wohnte in einem Pilz. Die Qutietschbeus, die ich hasste, Nero, eine Negativfigur, die entfernt wurde, dieser unerträgliche Drache Poldi und, und, und. Es waren soviele. Irgendwann brannte die Kulisse, das „Runddorf“, ab, danach wurden die Folgen aus einer neuen Kulisse irgendwie völlig kacke und/oder ich zu alt.

Zurück zur Sesamstraße, auch wenn ich gerne noch über die „Bettkantengeschichten“ geschrieben hätte. Auch so eine sonntägliche Serie, die meist aus Nachkriegsgeschichten bestand. Sowas fehlt heute, hat es die negativen Seiten eines Krieges (und mir fallen partout keine positiven ein, aber es gibt ja immer wieder Generationen, die sich gerne in Kriege stürzen und sie werden wieder kommen) schon den Kleinsten auf humane Weise nahelegt. Hatte was leicht deprimierendes, war aber eine gute Schule. In der wirklichen Schule zeigte man uns in der vierten Klasse erstmals Bilder aus Konzentrationslagern. Eltern unter Euch? Wird das heute noch gemacht oder verschont man fälschlicherweise die Jüngsten davon?

Ich spare mir „Biene Maja“ und „Heidi“. Und „Anderland“ (eine Mysterie-Serie für Kinder!) und komme abermals zurück zur Sesamstraße. Denn besonders aufmerksame Fans der Serie werden bemerkt haben, dass ich eine ganz besondere Figur bislang noch nicht aufgezählt habe: „Meyer-Bohde“. Die kennt nämlich kaum jemand, da es die einzige Puppe war, die nicht sprechen, ja nicht einmal einen Laut von sich geben durfte. Sie wurde auch nie in die Rahmenhandlung mit einbezogen. Sie ist in einigen Folgen ganz hinten in der Kulisse, noch weit hinter Herrn von Bödelfeld (der ursprünglich „von Blödelfeld“ heißen sollte), in einer Art Fenster zu sehen. Sitzt da und guckt. Nahezu bewegungslos. Ich habe auf Fan-Seiten recherchiert und gesucht, aber niemand kann dort genau sagen, was es mit Meyer-Bohde auf sich hat. Einige halten ihn für einen running gag, einen Scherz der Macher. Und einer kann da gar nicht drüber lachen: der Puppenspieler, dessen Hand viele Jahre lang in Meyer-Bohde steckte, der übrigens auch seine Namensrechte im Nachhinein (und zu spät) verletzt sieht, trägt er nämlich selber den Namen Meyer-Bohde. Und Puppenspieler-Freaks kennen den Namen natürlich, war Meyer-Bohde doch schon in den Siebzigerjahren ein ganz großer seiner Zunft. Der irgendwie plötzlich an die falsche Puppe geriet. Heute scheut er die Öffentlichkeit, lehnt Interview-Anfragen kategorisch ab. Und das, obwohl er noch aktiv ist in einer Zeit, wo es Puppenspieler schwer haben.

Nun ist vor einigen Monaten etwas äußerst Kurioses geschehen. Ohne Witz, ich habe den Mann getroffen. Im Urlaub auf Malta. Er fiel meiner Mitbewohnerin und mir am Strand auf, wo er – wortlos! – Kinder mit seiner Puppe bespaßte. Einer Bademeister-Puppe. Wortlos aus zwei Gründen: so kann er internationales Publikum bedienen, das man am Strand Maltas nun einmal vorfindet, und weil er seine Stimme verloren hat. Ob nach oder bereits vor seinem Mord an seiner Frau, kann er nicht mehr sagen. Er war der Mörder und saß neun Jahre in der Haftanstalt – weiterer Zufall! – Münster. Über meine Heimatstadt Münster kamen wir ins Gespräch.

Seitdem ist einiges passiert. Ich fragte ihn natürlich, ob ich über ihn schreiben dürfe. Er war extrem skeptisch und ablehnend. Und auch ich war mir nicht sicher, denn wenn man mit Meyer-Bohde spricht, spricht man mit einer seiner Puppen. Denn er hat stets eine auf seiner Hand. Nur seinen Puppen kann er eine Stimme geben, nicht sich selber.

Unser Kontakt schlief einige Wochen nach dem Urlaub ein. Bis ich einen Ausschnitt der Sesamstraße bei Youtube sah. Mit seinem Namen im Abspann. Ich kontaktierte ihn erneut. Über allen Ernstes „ICQ“ (Habe meine alter Nummer reaktiviert und es trudelten tatsächlich noch uralte Nachrichten ein …)! Ich bat ihn um ein Interview via ICQ. Das kam im Oktober auch tatsächlich zustande, doch er entschied sich, dieses nicht freizugeben, worüber ich mich hätte hinwegsetzen können, davon aber absah. Ich bin ja nur in Teilen ein Arschloch.

Dezember. Während der Weihnachtsfeiertage nahm Meyer-Bohde wieder Kontakt auf. Er wolle reden. Über die Zustände hinter den Kulissen der Sesamstraße der Siebziger- und Achtzigerjahre. Ich fühlte mich plötzlich überfordert, da ich lediglich einen launigen Blog betreibe und mehr nicht. Warum er sich nicht an die Kinder-Ausgabe des „Spiegels“ („Dein Spiegel“) richte. Oder an „Geolino“ oder an das Boulevard-Blatt „Focus“.

„Weil die Angst haben.“

„Wovor Angst?“

„Vor meinen Enthüllungen.“

In den kommenden Tagen werde ich hier im seppolog das Interview mit Meyer-Bohde veröffentlichen, das ich gegen Ende vergangenen Jahres mit ihm geführt habe. Und habe jetzt schon Angst vor den Reaktionen. Das deutsche Kinderfernsehen, das unschuldige Programm der Achtziger, in einem ganz neuen Licht – hier im seppolog.


Zunehmende Aktivität meinerseits ist bei Twitter festzustellen, auch wenn die Börse Twitter nun aufgegeben hat: www.twitter.com/SebastianFlotho bzw. @SebastianFlotho.

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