seppo90v.r.n.l.: Ich, im Jahr 2069

Gelegentlich denkt man ja über seine ferne Zukunft nach. An die Zeit, in der man seine goldenen Neunziger erlebt. 90 ist ja vermutlich das neue 85. Meine Vorfahren der vergangenen drei Generationen sind im Grunde alle 90 und älter geworden, ich nehme also eine gute genetische Voraussetzung für mich in Anspruch, klopfe aber auf Holz, denn meine Eltern müssen dazu noch rund 20 Jahre durchhalten. Dann wäre ich 56 oder 57. Und noch immer nicht alt. Denn 57 ist das neue 55. Neu ist das neue Neuer.

Es bringt nichts, darüber nachzudenken, wo man sich mit 90 befindet. Altenheim wäre schlecht, könnte man leichtsinnig glauben, und da ich drei Jahre in einem Seniorenheim gearbeitet habe, weiß ich, wie unschön der Lebensabend dort sein kann. Aber es gibt nur wenige schönere Alternativen. Das Modell, im Kreise der Familie gepflegt zu werden, gibt es in der Breite nicht mehr und schon vor, sagen wir mal, hundert Jahren wurde alte Menschen auch nicht unbedingt mit Leidenschaft im Familienkreis gepflegt, sondern auch mitunter nur ertragen und missmutig am Leben erhalten. Die Ältesten waren schon immer eine Last. Man sollte nicht so tun, als wäre das eine neuzeitliche Entwicklung, die aber im Einzelfall von dem jeweiligen Zustand des Älteren abhängt. Meine Oma starb vor zwei Jahren und war nahezu bis zum Ende geistig auf der Höhe, lediglich das letzte, das Leben abschließende Jahr, verbrachte sie in einem grottigen Altenheim und erkannte mich auch nicht mehr wieder, ahnte aber wohl, dass sie mich irgendwie kennen müsse.

„Du bist der doch der von dem Foto!“, sagte sie an ihrem 90. Geburtstag und ich dachte, ja, auf irgendeinem Foto werde ich wohl abgelichtet sein. Allerdings deutete sie auf ein Foto, das ihren Bruder zeigte. Nun gut, dann war ich eben ihr junggebliebener Bruder, der zu Ehren ihrer Geburstagssause noch einmal auf Erden erschien. Ich habe ihren Bruder nie gekannt, da er im Kriege gefallen war. Komisch, man schreibt sofort „Kriege“ und nicht „Krieg“ ohne „E“; man verfällt in den Duktus von Omas Kriegsgeschichten.

Das Altenheim war eine große Kacke. Die Bewohner, wie wir sie dort nannten, mussten teilweise betteln, bevor sich ein Pfleger fand, der sie aufs Klo setzte. Aber ich will die Zustände dort gar nicht kritisieren, denn es geht vermutlich noch schlimmer. Und die Frage ist, wie schlecht es um unsere Versorgung steht, wenn wir alt sind. Gut möglich, dass sich bis dahin andere Modelle durchgesetzt haben werden, die einen nur so wünschen lassen, endlich alt zu werden. Ich bin da großer Freund von Senioren-Wohnkommunen, obwohl ich eher der Typ bin, der lieber alleine wohnt. Wir werden es erleben, ich gehe davon aus, in 50 Jahren an dieser Stelle darüber zu bloggen. Freuen wir uns auf „Die Schlaganfall-Chroniken“ anstelle der „Leistenbruch-Chroniken„. Solche Scherze mache ich ungern, denn nun fürchte ich, noch heute einen Schlaganfall zu erleiden. Und je nach Folgeschäden könnte sich das mit dem Bloggen dann auch erledigt haben. Ich klopfe also abermals auf Holz. Wir merken: Unsere Zukunft haben wir nicht in der Hand. Darum das permanente Klopfen auf Holz. Der Tisch unter mir ist aus echtem Holz, es müsste also funktionieren und gestern überfuhr ich fast eine schwarze Katze, die aber von rechts kam. Das bringt Glück.

Ich bin also 90 Jahre alt und habe mir den Wunsch erfüllt, in dem Seniorenheim ein Zimmer zu bekommen, in dem ich vor etwa 70 Jahren gearbeitet habe. Weil ich nach wie vor jogge, allerdings in einem gemählichen Tempo, bin ich nicht auf den Rollstuhl angewiesen, nutze den aus Faulheit aber sehr gerne, zumal in diesem Jahr, 2069, ausschließlich Elektro-Rollstühle, betrieben durch einen Fusionsreaktor, die aber sehr wartungsintensiv sind, unterwegs sind. Dass die kalte Fusion alltagstauglich geworden ist, ist zufälligerweise mir zu verdanken. 2056 hatte ich eine tolle Idee, obwohl ich von Physik keine Ahnung habe. In meinem Zimmer liegt in einer Schublade die Urkunde zu meinem Physik-Nobelpreis. Ich prahle nicht damit, weil ich nicht besser behandelt werden will als die anderen Bewohner.

Neben mir wohnt eine alte Dame mit dem wunderschönen Namen „Lara“. Das ist allerdings eher eine tragische Geschichte, denn an sich wollte ich Lara loswerden. Ich versuche das seit etwa 50 Jahren. Auch darum ließ ich bereits 2030 mir ein Zimmer im Altenheim in Münster-Hiltrup reservieren (was ich schneller bekam, da ich dort wie gesagt gearbeitet hatte), damit ich möglichst weit weg von Lara bin. Und so war es eine große Überraschung, als eines Tages neben mir die neue Bewohnerin einzog und sich mir vorstellte:

„Seppo, ich bin’s! Lara!“

Ich bekam in dem Moment meinen ersten kleinen Schlaganfall. Ich hatte sie nicht wieder erkannt. Von der einstigen Sex-Göttin ist nur noch eine Ruinenlandschaft übrig geblieben. Was bei mir natürlich überhaupt nicht der Fall ist. Frauen haben es da schwerer. Das sage ich, weil es mir Frauen gesagt haben. Dass das Altern für Frauen schwieriger sei. Ja. Das stimmt wohl auch. Was soll ich dazu sagen?! Ich kann mich nur entschuldigen, aber es ist nicht meine Schuld. Falten werden beim Mann eher akzeptiert als bei Frauen. Demütig entschuldige ich mich dafür. Viel schlimmer ist, dass selbst seppo90 kaum eine Falte hat. Seit dem 70. Lebensjahr runzele ich sogar mehrfach am Tag die Stirn, um endlich nicht mehr wie 60 auszusehen. Das Schicksal meinte es gut mit mir. Neue Pfleger schätzen mich sogar meist auf 80! Ich bin hier im Heim so etwas wie der unverbesserliche Jungspund, der den Frauen nachstellt. Wobei, das klingt so negativ. Drehen wir es. Die Frauen stellen mir nach. Gerade diese jungen Dinger. Die aus der zweiten Etage, Frau Abnicker. 78 Jahre alt. Kann die Finger nicht von mir lassen. Sitze im Speisesaal neben ihr. Es ist die Hölle. Jetzt sitzt zu allem Überfluss auch noch Lara mir gegenüber beim Essen. Und redet ohne Unterbrechung, was aber den Vorteil hat, dass Frau Abnicker, die permanent ihre Hand auf meinem Oberschenkel liegen hat, nicht zu Wort kommt.

Zum Mittagessen gibt es auch immer unsere Tabletten. Ich habe mal als Zivi versehentlich Tabletten vertauscht. Das geht wahnsinnig schnell und es hat seinen Grund, warum Zivis eigentlich nicht die Tabletten ausgeben dürfen. Damals bekam Frau S. durch meine Tölpelhaftigkeit die Beruhigungstabletten von Frau H. In der Folge saß Frau S. den ganzen Tag schläfrig im Aufenthaltsraum. Meine Kollegen damals waren in großer Sorge, während Frau H. mangels ihrer Beruhigungstabletten schwerste Halluzinationen hatte. Ein aufregender Tag damals für alle Beteiligten.

Weil ich mich auch mit 90 noch an diesen Fehlgriff erinnere, jubel ich Lara gelegentlich Schlaftabletten unter, damit sie endlich mal Ruhe gibt. Vor etwa zwei Wochen übertrieb ich es heftig, Lara wäre fast in den ewigen Schlaf gefallen. Und sie hatte sich einen denkbar ungünstigen Zeitpunkt dafür ausgesucht.

„Seppo, darf ich mal eine Runde mit deinem Fusions-Rollstuhl drehen?“, fragte sie.

Großer Gott, ich weiß noch, wie sie früher in Düsseldorf Auto fuhr. Aber gut, ich gönnte ihr den Spaß und als sie mit etwa 12 Kilometern pro Stunde im angeschlossenen Park unterwegs war, setzte die Wirkung der Tabletten ein. Sie sackte zusammen, stieß natürlich mit dem Kopf gegen den Hebel zur Beschleunigung und drehte nun unkontrollierte Runden mit 20 Kilometern pro Stunde. Als sie Kurs auf den Teich nahm, wurden die ersten Pfleger aufmerksam und spekulierten über ihren Tod. Das kenne ich noch aus meiner Altenheim-Zeit. Weil Frau Grundhövel einmal in einen sehr festen Schlaf fiel, ich sie nicht wecken konnte, rannte ich voller Panik zur „Bereichsleiterin“ und rief: „Frau Grundhövel ist tot!“ Es war gut, dass man mich keine Totenscheine ausstellen ließ.

Drei Pfleger, darunter ein Roboter-Pfleger, nahmen also die Verfolgung auf, um Lara in meinem Rollstuhl zu stoppen. Ich hab‘ gebetet, dass Lara im Teich landet, bevor die Pfleger sie erreichen, aber das Glück war nicht mit mir, sondern mit Lara. Man riss sie vom Rollstuhl, der dann weiter in den Teich fuhr.

Ich habe einen neuen beantragt. Die Regierung aus „AfD“ und den „Grünen/BündnisSPD“ haben ein tolles Gesundheitssystem geschaffen, das aber nur für Inländer Gültigkeit hat.


Lara, verzeih‘ mir diesen kleinen Spaß! Ich würde Dir niemals Tabletten unterjubeln!

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