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„Urlaub vom Ich.“ War mal so eine Floskel – durchaus aus dem Volksmund stammend – von Pavel, meinem besten Kumpel, und mir.

„Seppo, ich brauche Urlaub vom Ich!“

„Ich komm‘ mit.“

Derzeit halte ich mich einerseits an einem mysteriösen Ort auf, andererseits war ich nie so zuhause wie derzeit. Der Urlaub vom Ich bedeutet auch, sehr Ich zu sein. Was in meinem Fall eine wahre Wonne ist.

Kennt man sich selbst eigentlich gut? Kennt man sein Ich? Für mich ist die Frage banal, ich kenne es sehr gut, ich bin mir gegenüber erschreckend berechenbar. Das ist schon einmal gut. Wie gut kennen andere das Ich eines Menschen? Für andere kann ich nicht sprechen, aber ich habe gerade in den zurückliegenden Monaten festgestellt, dass ich mein Ich wahnsinnig kontrolliert preisgebe. Und noch mehr verberge. Es gibt möglicherweise lediglich ein bis zwei Menschen, die mein Ich wirklich vollumfänglich kennen. Denn es setzt Vertrauen voraus und damit bin ich zurückhaltend. Aus gutem Grund.

Da ist zweifellos meine Mitbewohnerin, die dieses Ich nicht nur erträgt, sondern gerade zu aufsaugt, was ich ihr nicht verübeln kann, sauge ich ja auch ihr Ich auf, und da ist jene Person auf einem anderen Kontinent, die auf Grund meiner Ergüsse ihr Gegenüber doch so ziemlich einiges über mich weiß.

Sitzt man gerade feuchtfröhlich im Freundeskreis zusammen und ein Kumpel wird von seiner Freundin angerufen, kann man, so er den Raum nicht telefonierend verlässt, feststellen, wie sich allein der Klang seiner Stimme verändert, während er mit seiner Liebsten spricht. Die eben noch grölende Männerstimme verwandelt sich in ein süßes Etwas. Ein anderes Ich tritt zutage. Gerülpst wird nicht gegenüber der Freundin, gerülpst wird im Freundeskreis. Was bei mir aus kosmisch unerfindlichen Gründen sich genau andersherum verhält. Ich schätze es sehr, mit meinem „Soda Stream“-Wassersprudler das Leitungswasser derart mit CO2 zu penetrieren, dass es mir bereits beim ersten Schluck die Speiseröhre wegätzt, ich dafür aber schon innerhalb der ersten Sekunden ein bewundernswert männliches Dröhnen von mir geben kann, das aus meinem tiefsten Inneren kommt, wofür ich Bewunderung seitens meiner Mitbewohnerin einfordere, die sich damit aber zurückhält, besonders dann, wenn ich vorher Salami gegessen habe, die einen erstaunlich intensiven Geruch während der Verdauung von sich gibt. Die Salami, nicht die Mitbewohnerin. Die wiederum duftet nach einer Mischung aus Rosen und Früchten. Und das ist wirklich so. Welch‘ zartes Geschöpf ich da an meiner Seite habe, das aber auch, sofern erwünscht, zuschlagen kann.

Je nach dem, wen man vor sich hat, präsentiert man ein anderes Ich. Das ist nun wahrlich keine neue Erkenntnis von mir, aber seitdem man mir jüngst eine Fülle verschiedener Persönlichkeiten beschied, wurde mir klar: Es sind nicht verschiedene Persönlichkeiten, es sind verschiedene Facetten ein und derselben. Es scheint Mode zu sein, mit Persönlichkeiten zu arbeiten.

Gelegentlich komme ich montags bis freitags in die Verlegenheit, sofern ich nicht gerade einen intensiven Urlaub mache, wie derzeit, was auch das zurückhaltende Veröffentlichen an dieser Stelle erklärt (das ich aber offenbar nicht durchhalten kann, VERDAMMT!), mich im Fernsehen vor drei Kameras wiederzufinden. Oder vier. Es sind vier Kameras. Da ist es doch klar, dass der Zuschauer dort nicht mein Ich präsentiert bekommt. Nicht aus Scham, sondern wen interessiert schon mein Ich?! Außerdem habe ich doch die einmalige Gelegenheit, eine Maske aufzusetzen (Ah, hier wird der Beitragstitel endlich auch dem Letzten klar!), hinter der ich mich bestens verstecken kann. So würden es Küchenpsychologen analysieren. Weil es so einfach und nahe liegend ist. Aber was so einfach und nahe liegend ist, ist gerne auch mal falsch. Denn ein Osterei versteckt man ja auch nicht dort, wo es sofort jeder ohne zu suchen zu finden vermag. Gut, wenn man für Dreijährige versteckt, dann vielleicht.

Eine öffentliche Bühne ermöglicht vielmehr, statt eines maskierten Ichs eine andere Facette des Ichs zu zeigen, die möglicherweise auch auf Überspitzung fußt, aber dennoch wahrhaftig ist und eben nichts mit einer Maske zu tun hat und Teil des Ichs ist. Dasselbe gilt für Blogs, die überwiegend narzisstisch daherkommen, woraus ich keinen Hehl mache (Erst kürzlich wurde mir das vorgeworfen. Ich sehe den Vorwurf gar nicht! Ich kann nur darüber schmunzeln. Ich schreie es doch geradezu hinaus. Ich kann es nicht mehr hören. Also mich schon. Aber diesen Vorwurf nicht. Erzählt mir was Neues! Klar stelle ich mich selber dar! Das kann ich am zweitbesten!), denn auch dieser Blog ist natürlich eine Ausgeburt an Selbstdarstellung. Ich tue niemandem damit weh. Ich könnte. Hehe. Nun gut. Also, man könnte meinen, das seppolog sei also der Spiegel meines Ichs. Stimmt nicht. Es spiegelt einen Teil meines Ichs wider. Übrigens den, den ich am meisten schätze. Was natürlich wieder wahnsinnig selbstverliebt ist, was ich aber dem Selbsthass vorziehe, den ich übrigens nicht ansatzweise praktiziere. Wer will mir nun das vorwerfen? Kritisch bin ich mit mir durchaus. Im Übermaß. Was sehr, sehr anstrengend ist, aber zu Optimierungsprozessen führt. Ja, klingt komisch, ich bin optimierbar. Man möchte meinen, ich verkörpere geradezu ein Optimum. Kleiner Scherz, ich schreib’s besser dazu. Unruhige Zeiten derzeit im Netz; alles wird so ernst genommen.

(Sandra, wann kommt Dein nächster Patient?)

Ich habe einmal einen Menschen persönlich kennengelernt, den ich vorher lange Zeit nur über die Kommunikation im Netz kannte. Das war eine riesen Überraschung, leider eine unangenehme, die eines sehr deutlich macht: Ohnehin projizieren wir ja auf Menschen schon unsere eigenen Wünsche. Auch der Liebe wird das unterstellt und ich teile diese These in Teilen. In Teilen teilen. Diese Projektion eignet sich besonders, wenn man nur schriftlich mit jemandem kommuniziert, ohne denjenigen jemals auch nur gesehen zu haben. Der schriftlichen Kommunikation geht leider eines ab: Mimik. Intonation. Sind zwei Dinge. Verdammt, verzählt. Diese Aspekte interpretiert man unweigerlich, behaupte ich, in die schriftlichen Äußerungen des Gegenübers hinein. Und dann trifft man denjenigen. Und stellt fest, dass man sehr, sehr, sehr falsch lag. Und dass jeder Zauber dahin ist. Ich habe da selber schon einen kosmischen Fehler erlebt. Nein, nicht erlebt; mir erlaubt.

Ihr lest diese Texte mit Sicherheit anders, als ich sie beim Schreiben innerlich – gerade auch tatsächlich akustisch vernehmbar (nur, dass niemand hier ist, der mir zuhören würde) – ausspreche. Es beginnt beim Klang der Stimme. Ich selber nehme meine eher als hoch wahr, andere sagen mir, sie sei eher tief. Keine Ahnung, wer Recht hat. Meist ich. Hehe. Aber die Sprachmelodie? Hört Ihr nicht. Bedauerlich. Ein Ohrwurm geradezu ;) Ihr lest es also ganz anders, als ich es vielleicht meine. Vielleicht besser. Oder auch schlechter. Hängt von Eurer Stimmung ab, aber auch von meiner.

Lange Zeit las ich eine Kolumne von Axel Hacke („Das Beste aus aller Welt“, Süddeutsche Zeitung). Dann sah und erlebte ich ihn in einer Talkshow. Seitdem überblättere ich seine Texte, da ich völlig desillusioniert war. Sogar schockiert. Der Mann wirkt in seinen Texten deutlich witziger und ironischer, als er als Komplettausgabe im Fernsehen herüberkam. Auch deshalb gab ich im seppolog schon früh Ablichtungen von mir preis, damit da erst gar keine Illusionen aufkommen können. Vor vielen Jahren las ich mal ein Interview mit dem Off-Sprecher der Sendung „Das perfekte Dinner“. Er erzählte, dass er sehr viel Post von Frauen bekommen habe, ehe man sein Gesicht im Fernsehen gezeigt habe. Er sehe (und sieht!) nicht aus wie seine Stimme, was in seinem Fall und für das Aufkommen an weiblicher Fanpost sehr bedauerlich und abträglich sei. Und auch ist. Man hört eine Stimme, stellt sich den Menschen dazu vor und wird möglicherweise überrascht bis enttäuscht. So ist es auch beim Lesen. Mich über diese Texte hier kennenzulernen: unmöglich. Aber: Einige Facetten meines Ichs sind hier durchaus, in extremer Dosis allerdings, rauslesbar. Vielleicht sogar maßgebliche Grundzüge meines Ichs. Ja, doch. Letzteres stimmt vollkommen.

Nur meine Mitbewohnerin, die kennt sie alle. Mehr als meine Eltern, die aber besser als alle anderen die ersten Epochen meines Ichs kennen, vielleicht aber bereits verklärt haben.

Egal, wo ich in Erscheinung trete, es ist immer wieder eine andere Variation meines Ichs. Wenn ich mit meinem Kiosk-Mann rede, rede ich anders, als stünde ein Kollege vor mir oder meine Nichte. Mitnichten bin ich dann ein völlig anderer Mensch, aber man hat so seine Rollen im Leben und ich schreibe bewusst nicht „spielt“. Obwohl es ja so ist, auch wenn ich denke, man tut es nicht bewusst. Jedes Gegenüber trifft mit einer Erwartungshaltung auf uns, die wir in vielen Fällen nicht unbedingt enttäuschen wollen. Und auch bei anderen erlebe ich das natürlich. Da tritt jemand mir gegenüber anders auf als in einer Gruppe oder wenn auch nur eine dritte Person zugegen ist.

Wir tragen überall Masken. Aber nicht, um uns zu verstecken, sondern um Teile des Ichs zu verbergen und andere Teile zu betonen. So, wie es uns gerade passt. Ich sehe das also nicht ansatzweise negativ, dass wir Rollen einnehmen. Sie gehören ja eben zum Ich.

Das Schöne am Ich ist, dass es uns gehört. Es sei denn, wir kommen nicht damit klar, dann hilft ein Psychotherapeut weiter. Oder wer auch immer. Daher halte ich mit meinem Ich gerne hinterm Berg, denn ich habe schon erlebt, dass es gegen mich verwendet wurde, ein Risiko, dass ich mit Sicherheit nicht mehr eingehen werde. Und umso exklusiver für die engen Menschen, die in den vollen Genuss kommen. Damit auch in den Genuss von den eigentlichen Problemen, die einen so beschäftigen. Und dafür gibt es gute Freundinnen – in meinem Fall – und eben Mitbewohnerinnen. Also eine. Da bin ich ganz monogam.


Eines habe ich festgestellt: Das Schreiben kann ich nicht lassen. Ich las eben über das drohende Ende des Schengen-Raumes und formulierte doch im Innern diesen Text, der lediglich als Test dient, ob ich’s noch kann. Die heitere Serie um den Bachelor 2017 wird am Wochenende fortgesetzt, wenn der Urlaub vom Ich sein Ende findet. Übrigens haben mich die zahlreichen Nachfragen nach einer Fortsetzung sehr gefreut! Sie wird kommen.


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