Rinder

Man spricht – natürlich nicht aus inhaltlichen Gründen – hierzulande ja nicht mehr von Essen, sondern von „Food“. Weil es selbstverständlich cooler ist. Und so gibt es auch zahlreiche „Food-Blogs“, während mein Lieblings-Lebensmittelgeschäft in Düsseldorf auch schlicht „Food“ heißt. „Food“ drückt aber auch bereits eine ganz neue Kultur um das Essen aus, die man sich in einer Gesellschaft dann leisten kann, wenn man keine anderen Probleme hat, die wir allerdings wieder zunehmend bekommen. Doch bis es soweit ist, bin ich vor einiger Zeit für 24 Stunden auf diesen Zug aufgesprungen. Denn ich wollte dazu gehören. Dazu später mehr.

Zunächst einmal ist es sehr wichtig, dass man mindestens eine  Lebensmittelunverträglichkeit an sich selbst diagnostiziert. Einen Arzt benötigt man zu diesem Zwecke nicht mehr, da man alles nachlesen kann. Und man hört ja soviel! Und ja, jetzt, da ich darüber nachdachte und überdies viel dazu las, wurde mir klar: Ich bin laktoseintolerant. Klarer Fall. Irgendwie vertrage ich Milch auch nicht. Ich hab‘ immer gewusst, dass da etwas nicht stimmen kann. Zu meinem Glück kann ich ab sofort überteuerte Produkte kaufen, die mit Laktose-Abstinenz werben. So ein „minus L“ macht sich auf Verpackungen ohnehin ganz gut und wenn man diese kauft, kommt man schnell mit Gleichgesinnten am Lebensmittelregal ins Gespräch:

„Sie auch laktoseintolerant?“

„Ja, schlimmer Durchfall.“

„Schon immer?“

„Erst, als ich darüber gelesen hab‘.“

Laktoseintoleranz gibt es und ist auch sicherlich kein schönes Leiden, doch können die meisten derer, die sich für betroffen halten, Laktose durchaus vertragen. Es ist (auch!) eine Mode-Erscheinung, laktoseintolerant zu sein, es ist hip.

Der Begriff „Food“ transportiert einen ganz neuen Umgang mit Nahrungsmitteln. Einen, den ich absolut ablehne. Es wird nicht mehr um des Essens willen gegessen, sondern es wird ein überzogener Kult daraus gemacht. Natürlich, Essen war schon immer Kultur, das Kochen eine Kulturtechnik, aber jeder ist plötzlich Experte auf dem Gebiet des Foods und jeder kennt folgende Verhaltensregeln, die er gerne ungefragt bei jeder Gelegenheit weitergibt:

  • Nie nach 18.00 Uhr essen!
  • Schon gar nicht Kohlenhydrate!
  • 20 Minuten lang essen, länger nicht!
  • Und alles 20 Mal kauen!
  • Frühstück ist die wichtigste Mahlzeit des Tages!
  • Lieber viele kleine Snacks statt Hauptmahlzeiten!
  • Ballaststoffreich essen!
  • Einfach und mehrfach ungesättigte Fettsäuren zu sich nehmen!
  • Kein Salat, keine Rohkost am Abend!
  • Zwei Liter Wasser trinken!

Bla. Es wird zerredet, jeder wiederholt unreflektiert, was gerade Trend ist und überall geschrieben wird ungeachtet dessen, dass in zwei Jahren das jeweils Gegenteilige geschrieben wird. Gerade die Zwei-Liter-Wasser-Regel hat überhaupt keinen Hintergrund, irgendwann wurde diese Zahl willkürlich festgelegt. Schon lange überholt, wird sie noch immer propagiert. Ich selber trinke übrigens, ohne dass ich groß darauf achte, deutlich mehr als zwei Liter Wasser.

Wer abnehmen möchte, sollte einfach mal weniger essen. Der (ungenaue) Kalorienwert ist das Entscheidende. Zumindest für mich. Wenn ich nach vor dem Schlafengehen noch gerne ein Pfund Kartoffeln essen will, dann tue ich das, wenn ich meinen Grundumsatz an Kalorien nicht übertreffe.

Wenn ich so esse, esse ich das, wonach mir gerade ist und denke nicht über ungesättigte Fettsäuren oder Farben des Essens nach. Bei mir hat Essen zum Glück noch mit Geschmack und Genuss zu tun. Wenn ich meine, wie gestern um 22 Uhr, noch Burger und Pommes essen zu müssen, dann tue ich das, ohne mich dabei schlecht zu fühlen. Weil es schmeckt. Frühstück gibt es bei mir nur an den Wochenenden, da es dann so etwas wie ein Ritual meiner Mitbewohnerin und mir ist, unter der Woche habe ich einfach mal keinen Hunger morgens. Ich esse meist erst gegen Abend das erste Mal am Tage überhaupt und viele Mitmenschen haben mir bereits den nahen Tod prognostiziert. Ich missioniere niemanden mit meinem Ess-Verhalten, ich werde stets von den anderen darauf angesprochen und muss mich immer wieder erklären. Nein, es ist kein Prinzip von mir, das geschieht einfach, weil ich dann esse, wenn ich Hunger habe. Essgestört wurde ich auch bereits genannt, was ich für eine gewagte These halte. Mein Gewicht ist bis auf weihnachtliche Ausrutscher erschreckend konstant, meine Blutwerte sind ein Knaller. Auf die Signale des Körpers hören? Tue ich. Er sagt: „Bloß nicht frühstücken!“

Jeder darf natürlich essen, was er will. Und natürlich darf jeder auch einen Kult und groß Aufhebens um seine Ernährung machen und seine Mitmenschen damit behelligen. Ich beobachte aber oft und schmunzelnd, wie viele inzwischen völlig verkrampfen in ihrer Ernährung, weil sie versuchen, möglichst vielen Regel, die sich ja gerne auch mal widersprechen, zu folgen. „Smoothies“ sind derzeit im Trend, auch ich hab‘ mir die Dinger schon gekauft, denn sie schmecken ja mitunter auch köstlich. Aber sie sind aberwitzig, denn es ist natürlich viel einfacher, beispielsweise einen Apfel und eine Banane zu essen, statt beide vorher zu pürieren. Zudem sind diese Trend-Getränke, die ja irgendwie keine Getränke sind, unfassbare Kalorienbomben. Ich esse ja nur Kalorien aus der Region.

Chia-Samen werden gerade in Brote eingearbeitet, weil viele sie für gesünder halten, als sie sind und bereit sind, dafür mehr zu zahlen, was die Industrie, wer will es ihr verübeln?, gerne aufgreift. Ein wissenschaftlicher Nachweis steht aus, aber die Maya schworen ja schon darauf, dann muss es stimmen. Mit den Maya kann man ja alles begründen. Ich erzähle demnächst einfach, dass schon die Maya nur abends gegessen haben, dann bin ich rehabilitiert. Den Bäckern kommt der Chia-Trend übrigens gerade Recht, da der Eiweiß-Brot-Trend bereits abflaut, sodass es eines neuen bedarf.

Seit einigen Jahren fühle ich mich zunehmend von Veganern bedroht. Über Vegetarier spricht man erst gar nicht mehr, diese unentschlossene und inkonsequente Daseinsform überspringt, wer etwas auf sich hält direkt und steigt aus der Nahrungskette aus. Ich habe den Test gewagt und ernährte mich 24 Stunden vegan. Das Protokoll eines Selbstversuches:

06.00 Uhr – Der Tag beginnt

Ich stehe auf und ahne, dass der Tag nicht leicht wird. Freue mich, dass ich ohnehin nicht frühstücke, aber ein Schnitzel außer der Reihe und frisch eingeflogen vom anderen Ende der Welt könnte ich jetzt durchaus vertragen. Ich werde nervös. Und gehe in die Küche, wo meine Mitbewohnerin ein Brot mit Schinken isst. Ich als Veganer fühle mich dadurch angegriffen und pöble sie an:

„Der Schinken ist aber hoffentlich aus der Region, oder?! Mörder!“

„Mörderin!“

So sind sie, die Fleischesser, sie wissen um ihre Sünden, sind aber schwach. Ich beschließe, sie zu missionieren oder den Kontakt abzubrechen. Es widert mich an, wie sie genussvoll in das mit Fleisch belegte Brot beißt. Kein Mensch mehr, eine Bestie. Ich erkenne sie kaum wieder.

09.00 Uhr

Meine Mitbewohnerin ist aus dem Haus. Ich gehe zum Kühlschrank, begutachte den Vorrat an Schinken. Er verbreitet einen feinen Duft von industriell gefertigtem Fleisch. Werde ich schwach? Breche ich den Test jetzt schon ab? Nein, ich bleibe standhaft und trinke einen Schluck Olivenöl. Jetzt ein Stück Käse dazu! Aber auch das verbietet sich mir in diesem einzigartigen Selbstversuch. Ich leere die Flasche Öl.

10.00 Uhr

Habe den Eindruck, dass mir Vitamin B12 fehlt. Ich logge mich bei Facebook ein und kontaktiere Lara, Freundin und Nachbarin.

moin lara! es geht mir nicht gut.

was ist los?!

ich lebe vegan.

seit wann?

seit gestern abend. nichts tierisches. krass, oder?

merkst du schon was?

ja, ich merke, dass mein krebsrisiko bereits verringert ist. aber ich habe mangelerscheinungen. hast du ein schwein da? ich komme am besten sofort hoch!

Ohne eine Einladung ihrerseits abzuwarten ging ich zwei Etagen höher, wo Lara residiert. Sie steht bereits an der Tür und ist völlig aufgelöst, weil sie glaubt, ich hätte den Verstand verloren, was ich aus ihrer ersten Frage herauslas:

„Hast du den Verstand verloren?“

„Nein, nein. Nur Mangelerscheinungen. Ich esse kein Fleisch mehr. Nicht einmal aus der Region. Hast du ein Schwein oder ein Rind bei dir?“

„Wie kommst du darauf? Nein. Ein lebendes?!“

„Ob tot oder lebendig, egal. Ich breche den Test ab.“

„Welchen Test?! Seppo, ich hab‘ jetzt keine Zeit.“, sagt sie sichtlich verängstigt ob meines schweißgebadeten Angesichts. Also gehe ich wieder zurück und beschließe, erst einmal laufen zu gehen, um mich abzulenken. Vermutlich ist das nur die erste krasse Entzugsphase. Werde ich überhaupt die körperliche Kraft für einen anständigen Dauerlauf aufbringen können?!

11.00 Uhr

Schon seit 13 Stunden ohne tierische Produkte. Wie gerne hab‘ ich früher Eier gegessen. Sogar roh! Und aus hühnerfreundlichster Haltung! Was gäb ich für ein Ei. Für ein Huhn! Für eine Hühnersuppe. Mit Eierstich! Ich laufe an einer Kuhweide vorbei. Bleibe stehen. Ja, da grasen sie, die Kühe und Rinder, die sich extra für mich aufgehübscht haben. Prachtvolle Hinterteile sehe ich, starke Schinken. Weit und breit niemand zu sehen. Wenn ich jetzt einfach herzhaft zubeißen würde? Ob verarbeitet oder roh – es ist mir egal. Hauptsache Fleisch. Aber zuerst melke ich sie. Erst melken, dann essen. Ist es denn moralisch verwerflich, die lebende Kuh zu essen? Ja, vermutlich. Ich müsste das Tier erst human erschlagen und dann mich zu den Gedärmen durchknabbern. Wikinger-Schach ist Kubb, denke ich völlig zusammenhangslos und verwickle das Tier, das direkt am Zaun vor mir steht in ein unverfängliches Gespräch:

„Hallo! Du bist vermutlich eine Milch-Kuh?“

„Ja.“

„Schon mal daran gedacht, dass man aus deinem Fell wärmende Pantoffel machen könnte?“

„Nein.“

Ein Rind kommt zu uns und fragt bedrohlich:

„Gibt es hier ein Problem?“

Ich: „Nein, alles in bester Ordnung. Wir unterhalten uns nur.“

Kuh: „Er will Pantoffel aus mir machen.“

Ich: „Und dich könnte ich essen. Lecker Rind. Hack geht ja irgendwie immer.“

Rind: „Du sollstest jetzt gehen. Wir mögen hier keine Fremden.“

13.00 Uhr

Völlig geschwächt komme ich wieder zuhause an. Diese verdammte Blutarmut! Das ist der Eisenmangel. Mein Körper baut ab. Aber mir hilft, moralisch auf der richtigen Seite zu stehen. Ich beschließe, mich ins Auto zu setzen und meinen Kumpel Hercules zu belästigen. Diesen Eier fressenden Bodybuilder. Als er mir die Tür öffnet:

„Hey Seppo! Komm‘ rein, ich mache gerade Omelette!“

„Du Schwein!“

„Was?!“

„Was würdest du sagen, wenn ich die Eier deiner Freundin essen würde? Niemand hat das Recht, irgend jemandes Eier, nein, irgend jemandens Eier … also die Eier von irgend jemandem zu stehlen und zu essen!“

„Ich habe sie nicht gestohlen, ich habe sie bezahlt! Und da ich schwul bin, habe ich auch keine Freundin, deren Eier du essen könntest. Was ich übrigens sehr widerlich finde!“

„Ja, der Vergleich hinkt irgendwie. Aber wenn du ein Huhn als Haustier hättest und jeder käme hier vorbei und würde die Eier deines Huhns, nein, warte, wenn du eine Kuh hier halten würdest mit einem Kalb und alle kämen hier vorbei und würden dem Kalb die Milch wegmelken, dann … und das Huhn steht da ohne Ei und brütet dummnaiv weiter.“

„Du redest so wirr, Seppo. Hast du heute noch kein Fleisch gegessen?! Ich hab‘ Steaks da.“

„Aus der Region?“

„Aus einer argentinischen Region, ja.“

Wortlos drehe ich mich um und gehe. Mit so einer Bestie will ich nichts mehr zu tun haben.

16.00 Uhr

Nachdem ich mir bei McDonald’s noch einen „McVeggie TS“ geholt hatte, weil ich meinen geliebten „McRösti“ während meines großen Selbstversuches nicht essen darf, komme ich völlig kraftlos zuhause an und esse eine meiner Zimmerpflanzen. Moralisch okay, denn es handelte sich um eine Fleisch fressende Pflanze.

18.00 Uhr

Zurück aus der Notaufnahme mit dem Rat des Arztes, keine exotischen Zimmerpflanzen mehr zu essen, treffe ich auf meine Mitbewohnerin, die Frikadellen mitgebracht hat.

„Wir hatten heute ’ne Geburtstagsfeier im Büro, es gab Frikadellen. Ich hab‘ ein paar mitgehen lassen.“

Ich erkenne sie kaum wieder und wende mich ab, wie ich mich heute schon von so vielen abgewandt habe. Nehme die Platte mit den Frikadellen und schmeiße sie aus dem Fenster.

„Was soll das?! Du hättest sie wenigstens der Pflanze geben können!“

„Pflanzentechnisch hat sich die Situation etwas geändert. Kamen die Frikadellen wenigstens aus der Region?!“

Ich schließe mich im Schlafzimmer ein und ramme meinen Kopf gegen die Wand, bis das Blut spritzt. Noch vier Stunden ohne Fleisch liegen vor mir.

20.00 Uhr

Ich bedanke mich bei meiner Mitbewohnerin für den Kopfverband, der etwas eng sitzt, und gemeinsam schauen wir bei „Netflix“ eine Doku über Fleischverarbeitung. Ich bin ganz ernsthaft angewidert angesichts der Bilder, die ich dort sehe. Leider zeigen sie aber auch immer wieder zubereitetes Fleisch jener Tiere, die unter verwerflichsten Umständen, was ich hier ganz ernst meine, umgebracht worden sind. Ich bekomme Appetit auf ein saftiges Stück Fleisch, zu „functional food“ mit Antibiotika an Bord verarbeitet. Ich blicke meine Mitbewohnerin an und empfinde Fleischeslust. Aber nicht jene Fleischeslust, die sie zu Freudenschreie veranlasst, sondern die Lust, sie zu essen. Ist Kannibalismus vielleicht der Ausweg für Veganer? Ich beiße ihr in den Arm.

„Seppo, jetzt nicht.“

„Wie, jetzt nicht?! Jetzt nicht essen?!“

„Wir essen keine Menschen, nur Tiere.“

„Stellen wir uns über das Tier?“

„Ja, vermutlich. Alles andere wäre jetzt scheinheilig.“

Sie ist Kampfsportlerin und versetzt mir einen gezielten Schlag ins Gesicht. Ich schlafe einen tiefen Schlaf und träume vom Leben als Rind. Ein kräftiger Mann kommt auf mich zu und setzt das Bolzenschussgerät an meine Stirn. Ich werde ein Schnitzel.


Beschimpfen können Verganer mich auch auf meiner Facebook-Seite! Aber ich bin sicher, dass selbst Veganer über ein gewisses Humorverständnis verfügen. 

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