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„Du bist aber unangenehm emotional heute.“, sagt mir meine Mitbewohnerin.

„Ja, entschuldige mal. Ich habe aber auch wirklich jeden erdenklichen Grund dafür.“

„Der feine Herr leistet sich also sonntägliche Emotionalität!“

„Ist wirklich schon Sonntag?!“

„Ja.“

„Ja, da kann man aber doch mal emotional werden.“

„Ich hab‘ ne Rippenprellung.“

„Es kommt aber auch alles zusammen heute! Man möchte weinen.“

„Vom Sport. Sparing. Der Typ hat zu hart zugeschlagen.“

„Ich würde dir ja anbieten, ihn platt zu machen, aber ich bin gerade zu emotional. Seine Worte könnten mich verletzen, bevor ich überhaupt zum ersten Schlag ausgeholt habe.“

„Sei vorsichtig, er ist erst 13.“

„Ein 13-Jähriger hat dir die Rippe geprellt?!“

„Ja.“

„Ich kann natürlich cain Kind schlagen. Das ist wie bei Frauen. Die kann man auch unmöglich schlagen. Wäre nicht gut für mein Image.“

„Willst du denn eine Frau schlagen?“

„Nein. Im Grunde will ich niemanden schlagen. Ich bin da auch viel zu emotional.“

„Schwierig wird’s, wenn zwei Emotionale aufeinandertreffen.“

„Kommt ‚Emo‘ eigentlich von ‚emotional‘? Bin ich jetzt ein Emo?!“

„Möglich.“

„Dann doch lieber Hipster.“

„Jemand schrieb, du seist selbstverliebt.“

„Ja, hab‘ ich gelesen und gelikt. Bin ich so durchschaubar?“

„Ja. Und auch wieder nein. Die grundlegenden Wesenszüge von dir sind mir bekannt.“

„Ich liebe ja nicht nur mich. Ich verteile meine Liebe sehr großzügig.“

„Jetzt wirst du wieder emotional.“

„Du bist gerade gar nicht hier. Du joggst mit geprellter Rippe. Während ich in Emotionalität versinke. Interesse an einem Stirnkuss?“

„Ja. Warum nicht.“

*Stirnkuss*

„Ja, siehst du: Ich gebe. Ich biete an und gebe.“

„Du nimmst aber auch.“

„Ja. Du gibst ja auch und das nehme ich dann dankend an.“

Schweigen.

„Der Stirnkuss war etwas feucht.“

„Ja? Verzeihung. Das ist die Feuchtigkeit meiner Emotionalität. Die hatte aber heute Morgen ihren Höhepunkt.“

„Nein, gestern Abend.“

„Oh. Ja. Schwiiierig.“

Schweigen. Sie liest. Über Janosch. Der hat oder hatte Geburtstag. Ich kann heute nicht lesen. Zu emotional. Lesen stört mich, während ich im Selbstmitleid zerfließe.

„Wie kannst du lesen, während ich mich bemitleide?“

„Ruhe, ich lese.“

Also bemitleide ich mich alleine. Aber ich bemitleide ja nicht nur mich. Und stelle fest, wie sehr man an Menschen hängen kann. An den unterschiedlichsten Menschen. Auch sonntags um halb vier. Dieser Tag findet ohne mich statt. Ob der Sonntag weiß, dass ich mich etwas abgekoppelt habe?

„Weißt du es?“

Sonntag: „Ja, aber es interessiert mich nicht. Was ich gar nicht böse meine.“

„Gut. Wir sind also schon mal nicht böse.“

„Warum zitterst du?“

„Das ist das Grundzittern meiner Emotionalität.“

„Angst?“

Gute Frage.

„Wie emotional hättest du mich gerne als Mann?“

Sonntag: „Häh?“

„Die Frage ging nicht an dich, sondern an meine Mitbewohnerin.“

Mitbewohnerin: „Die Mischung macht es. Du darfst aber gleich hier gerne noch zum Macho werden.“

„Sex? Schwiiierig gerade. Bin zu emotional.“

„Ach, und das schließt sich aus?“

„Nein, nein, natürlich nicht.“

Sie liest weiter.

Und sagt: „Janosch antwortet in Bildern.“

„Ja, das kann er. Mit so einer Ruhe.“

„Bei dir sind es Worte.“

„Ja. Wörter. Völlig unmusikalisch bin ich, aber auch Sprache ist ja irgendwo Musik.“

„Du Emo.“

„Hipsteremo.“

Ein dämlicher Rabe setzt sich auf die Fensterbank und sieht uns zu, wie wir so dasitzen und lesen beziehungsweise emotional sind.

Ich: „Ist das eigentlich immer derselbe Rabe? Ich halte Raben für sehr intelligent. Ich glaube, er kennt uns. So, wie der guckt, kennt der uns. Der weiß genau, dass ich gerade über ihn spreche.“

„Er fragt sich, warum du dich mitteilst, ohne dass du was zu sagen hättest.“

„Ach, ich hab‘ immer irgendwie was zu sagen. Man schluckt viel zu viel runter.“

„Du nicht.“

„Doch. Ich schlucke.“

Rabe: „Hier ist aber jemand emotional.“

„Ja.“

Ich versinke zu meiner eigenen Überraschung in einen leichten Schlaf. Und beschließe, nach Beendigung des unschuldigen Schlafes zu duschen, da ich meinen Körpergeruch wahrnehme und das bedeutet nichts gutes.

„Du hast eine Fahne.“

„Du auch. Übrigens schlafe ich gerade.“

Und gehe duschen.

„Ich rieche nach Pfefferminze! Tolles Duschgel. Nach wie vor. Und: Ich sollte ein Buch schreiben. Las gestern ein Interview mit Maxim Biller zu seinem neuen Buch, wo es wohl auch um granatenhaften Sex geht. Er hatte vor dem Schreiben nur eine Idee: den ersten Nebensatz. Mehr wusste er nicht und schrieb dann doch 900 Seiten. Ich habe manchmal nur ein Wort als Idee.“

„Und manchmal überhaupt keine Idee.“

Der Rabe sitzt inzwischen auf dem Baum vor dem Fenster. Er macht die landesüblichen Raben-Geräusche, was ich als penetrant emfpinde. Ich werfe mich überraschend schwungvoll aufs Bett und rufe

„Ru-he!“

Der Rabe hat ein Einsehen und fliegt fort.

„Ob Frau Bunkowitz dieses liest?“, will meine Mitbewohnerin wissen.

„Möglich. Sie sorgt sich um mein Verhältnis mit Lara.“

Lara wohnt zwei Etagen über uns und aß heute Morgen möglicherweise ein Käsebrot. Ich weiß auf jeden Fall sehr sicher, dass heute Morgen irgendwo ein Käsebrot gegessen wurde.

„Haben wir eigentlich noch Pizza von gestern Nacht?“

„Ja. In der Küche. Als sie fertig war, warst du bereits eingeschlafen.“

„Welch‘ Glück! Fröhliches Pizzaessen nun die Folge. Danach ist Eskapismus angesagt.“

„Watt?“

„Ich entfliehe meiner Emotionalität. Vielleicht schreibe ich vorher etwas, aber dann entfliehe ich für ein paar Stunden dem Ganzen.“

„Geht das eigentlich? Kann man wirklich fliehen?“

„Ja, das geht. Aber man kommt nicht an. Das ist der Haken. Während man flieht: alles gut. Doch irgendwann … ach, ich weiß es nicht. War ich jemals böse zu dir?“

„Nein. Ich müsste jetzt nachdenken, aber ich glaube, du bist erstmal nicht böse.“

„Alles nur Show. Du erliegst meiner Maskerade.“

„Wenn du sie aufrecht erhältst, könnte ich damit leben.“

„Wenn ich dir tief in die Augen gucke, kann ich dich sehen.“

„Wenn du mir tief in die Augen blickst, siehst du leicht gestört aus.“

„Den Preis zahle ich gerne. Aber es ist so. Es ist eine Grundüberzeugung von mir: Siehst du jemandem in die Augen, kann er nichts mehr verbergen. Möglicherweise ist das Einbildung, aber ich glaube daran. Habe mal lange Zeit jemanden gehasst, weil mir nicht gefiel, was ich sah. Und ich wette, ich lag richtig. Es sind diese tiefen Ebenen, in denen sich zwischen Menschen etwas abspielt. Was man nicht fassen kann, was aber ist. Ein Faszinosum.“

„Schreib‘ ein Buch darüber.“

„Ja, vielleicht sollte ich das tun. Ich fange mit einem 200-Seiten-Buch an.“


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