todesanzeige

Ein herkömmliches Bett wird immer dann zum Sterbebett, wenn der Nutzer dort liegt, um zu sterben. Ich bin 96, als ich mich in meinem Bett wiederfinde mit dem festen Vorhaben, nicht einmal mehr zum Leeren der Blase aufzustehen. Das erledige ich, sofern es so kurz vor dem Ende noch einmal nötig ist, via Katheter, der nicht mit einem Katheder verwechselt werden sollte! Das wäre eine unnötige Sauerei …

Mit meinen letzten Atemzügen stelle ich fest, dass ich meine Beine noch durchaus bewegen kann, sie aber wohl nie wieder nutzen werde. Ein seltsamer Gedanke. Wie oft im Leben tut man Dinge ein letztes Mal, ohne zu wissen, dass es das letzte Mal sein würde? Doch auf der Zielgeraden zum Tod weiß man, es ist das letzte Mal.

Noch am Morgen haben meine Kinder mir ein vermutlich letztes Mal das schüttere Haar gekämmt. Meine sehr wahrscheinlich letzte Mahlzeit via Magensonde hatte ich ebenfalls. Allein das mutet grotesk an: Sie füttern den Sterbenden. Wozu?

„Ich will satt sterben.“, sagte ich am Mittag.

Ich stelle sogar leichtes Magendrücken fest und realisiere, dass ich mich vermutlich noch nach dem Tode einscheißen werde. Das ist mir jetzt schon peinlich. Ich gehöre nicht zu denen, die denken „Nach mir die Sintflut“; ich habe alles geregelt. Ich hinterlasse für die wichtigsten Menschen Briefe, um noch das ein oder andere Offene zu klären. Oder um dem ein oder anderen noch einmal final einen mitzugeben. Ich will das letzte Wort behalten.

Das erste Wort. „Mama“? „Papa“? Was wird mein letztes sein? Seit Tagen denke ich über einen abschließenden Gag nach, den ich kurz vorm letzten Atemzug noch raushaue. Der muss gut sein, der muss auf Anhieb sitzen. Zu lang darf er nicht sein. Fatal, würde ich es nicht mehr zur Pointe schaffen. Meine Hinterbliebenen würden denken, ich hätte mich mit einem miesen Scherz verabschiedet, nicht ahnend, dass ich es nicht mehr zur Pointe geschafft habe.

Aber mir fällt kein Gag ein. Sollte vielleicht auch keine Priorität haben. Was, wenn er zu ironisch wird? Nicht verstanden wird? Wenn sich jemand beleidigt fühlt? Ich hätte keine Gelegenheit mehr, es geradezurücken. Zu Lebzeiten musste ich so unfassbar viel immer und immer wieder gerade rücken, weil ich mich im Scherz vergriffen hatte. Das darf beim finalen auf gar keinen Fall passieren.

Der Druck, mir noch etwas einfallen zu lassen, gibt mir völlig unerwartet den Rest. Ich öffne die Augen, sehe die ungeduldig wartende Verwandtschaft und sage:

„Freunde, Liebste, mich dünkt, ich übertrete jeden Moment die Schwelle zum Tod. Mit Magendrücken. Ungünstig, aber wohl nicht zu ändern. Ich werde wohl nun meine Mitbewohnerin treffen, es sei denn, sie schmort in der Hölle, wovon nicht auszugehen ist. Nicht auszudenken, ich hingegen nehme die Abzweigung zur Hölle. Wem wäre damit geholfen? Ein letzter Tipp noch von mir -“

Tot.


Dieser Geschichte steht ein erster Teil vor, den Ihr hier lesen könnt, hier hören!


audioseppo


Das nun folgende habe ich nicht erlebt. Ich kann es also nur vom Hörensagen wiedergeben. Nach einem Streit über die Finanzierung meiner Beerdigung werde ich fahrlässige vier Wochen später unter die Erde gebracht.

Mein Magendrücken hat sich zu einem Hungergefühl ausgewachsen.

„Moment, wie kann das sein?!“, frage ich.

„Moment, wie kann ich fragen?!“, frage ich.

„Ja, lüch‘ ich denn?! Bin ich ein Engel? Hallo?!“, rufe ich.

Ich öffne die Augen. Und höre ein dumpfes Reden. Klingt irgendwie pastoral.

Es ist dunkel.

„Alter, lebe ich noch?!“

Ich versuche mich aufzurichten und knalle mit meinem Kopf an eine Wand.

„Liege ich in einem Sarg?!“

Ich ertaste weitere Wände, die offenbar mit billigem Stoff ausgekleidet sind.

„Für Seide hat’s wohl nicht gereicht?!“

Ich realisiere mit einem deftigen Schweißausbruch, dass ich mich allen Ernstes lebendig begraben in einem Sarg wiederfinde. Ich beschließe, in Panik auszubrechen.

„Das ist der Grund, warum ich mich verbrennen lassen wollte.“

Dieses ist im Übrigen tatsächlich mein Wunsch, etwaige Juristen dürfen dieses als Ausdruck meines Willens bei klarstem Verstand verstehen. Verbrennt mich. Was mit der Urne geschieht, ist egal. Stellt sie gerne in Münster auf. Nicht in Düsseldorf!

Wo haben sie mich verbuddelt?!

„Liege ich in Düsseldorf?!“, rufe ich, „Wehe, ich liege in Düsseldorfer Erde!“

„Das ist exakt der Grund, warum ich nicht in einen Sarg wollte. Wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit, dass ausgerechnet ich lebendig begraben werde?! Hat denn nicht noch einmal ein Arzt über meine Leiche geguckt? Was sind denn das für Zustände?! Einem alten Mann so etwas anzutun!“

Ich höre Gemurmel von oben. Hat man meine Stimme vernommen? Jetzt halten sie mich für einen mürrischen alten Mann. Aber habe ich nicht auch allen Grund?!

Stille. Unerträglich lange Zeit höre ich nichts. Dann: ein Brummen. Motorengeräusche.

„Ein Bagger! Sie baggern mich aus!“

Und tatsächlich, nach weiteren Minuten kracht eine Baggerschaufel durch meinen Sargdeckel und schlägt mir meinen vorletzten Zahn aus.

„Na, großartig! Das war mein Implantat, das ich mit 35 bekommen hatte! Das hat knapp 2.000, damals noch Euro, gekostet!“

„Papa!“

Ich sehe meinen Sohn. Er springt in das Grab und sieht mich ungläubig an.

„Bist du ein Grabräuber?“, frage ich.

„Papa?!“, sagt er.

„Ja, das ist natürlich jetzt für alle eine Überraschung. War es eine schöne Beerdigung? Habe ich die Beerdigung gesprengt?“

„Papa?!“, sagt er wieder.

„Ja, zu mehr reicht es nicht? Für mich ist das auch ’ne ganz üble Nummer!“

„Papa, das Erbe. Was ist nun mit dem Erbe?“

„Das ist jetzt dein erster Gedanke?! Mein Testament ist ja wohl erst einmal hinfällig. Ich habe großen Hunger, übrigens. Lohnt es sich, wenn ich jetzt noch was esse?“