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Hoerbar_haare

„10272“ ist meine Wartenummer beim Bürgerbüro, das nicht Amt sein will. Vor mir warten also 10.271 andere Bürger mit einer Bürgerangelegenheit. Bei rund 600.000 Einwohnern dieser Stadt ist das relativ übersichtlich.

Angeblich muss ich dennoch nur 20 Minuten warten. Das glaube ich pessimistisch betrachtet natürlich nicht. Das würde sämtliche meiner Vorurteile widerlegen, und da Vorurteile stets stimmen, gehe ich von einer zweistündigen Wartezeit aus, auf die ich mich seelisch durchaus vorbereitet habe mittels eines mentalen Trainings, bei dem man sich zuhause hinsetzt und zwei Stunden lang nichts tut. Das Geübte muss ich nun also nur noch einmal wiederholen.

Nicht ganz zwei Stunden habe ich vorher im Passbild-Automaten verbracht, da sich mein Gesicht nicht den biometrischen Anforderungen fügen wollte.

Man muss sieben Euro einwerfen. Ich warf acht ein und wartete auf das Wechselgeld. Eine freundliche Mitarbeiterin fragte:

„Worauf warten Sie?“

„Auf das Wechselgeld. Ich konnte sieben von acht nicht unterscheiden.“

„Der gibt kein Wechselgeld. Sie müssten das schriftlich beim Bürgerbüro einreichen, wenn Sie eine Gutschrift wünschen.“

So etwas ist mir immer zu kompliziert, ich schenkte „Foto-fix“ also einen Euro. Ich hab’s ja. Also, es konnte losgehen, ich guckte in den Spiegel, jedes Lächeln wurde mir untersagt.

Die freundliche Dame machte mich darauf aufmerksam, dass mein Gesicht des Bartes wegen nicht in den roten Kreis passe.

„Muss ich nun zur Rasur-Zone?“, fragte ich, heute erstmals wieder zu schlechten Scherzen aufgelegt.

Die Dame fand das nicht lustig, weil sie vermutlich den ganzen Tag kluge Sprüche hört.

„Ja, bin ich denn der einzige mit so einem Gesicht?! Vergrößern Sie doch den Kreis!“, schlug ich vor.

„Wir vom Bürgerbüro vergrößern nicht einfach irgendwelche Kreise. Die Größe des Kreises ist vom Staat vorgegeben“ sie, wenig kompromissbereit.

„Die Form meines Gesichtes ist von der Natur vorgegeben“, argumentierte ich.

Der vierte Fotografie-Versuch saß, allerdings musste ich feststellen, dass ein einzelnes Haupthaar vom Rest der Haare senkrecht nach oben abstand. Das würde mich die nächsten zehn Jahre auf dem Perso stören. Ich intervenierte:

„Wegen eines ‚Bad Hair Days‘ müssten wir es vielleicht noch einmal wiederholen?“, bat ich.

„Einmal noch. Hier warten noch andere.“

„Dann sollen die eine Nummer ziehen.“

Versuch acht wurde dann ausgedruckt. Ich sehe da scheiße aus, aber biometrisch annehmbar. Dieses Foto würde nie auf einer Terror-Fahndungsliste erscheinen.

Ich sitze nun in der Wartezone. Gleich kommt der Moment, wo ich dem Staat mitteile, dass mein Personalausweis exakt heute abläuft. Ich bin also nicht zu spät. Allerdings bedingt das vermutlich, dass ich eines vorläufigen Ausweises bedarf. Offiziell weiß ich das aber nicht, sodass ich dieses Bonus-Anliegen beim Ziehen der Wartemarke nicht angab.

Das ist auch neu. Als ich das letzte Mal hier war, sprach man noch einem Menschen gegenüber mit seinem Anliegen vor. Dieses Mal war es ein Automat. Ich komme mit Automaten besser klar als mit Menschen, die meisten sind klarer strukturiert und anders als bei Menschen kann man jederzeit auf „Abbrechen“ klicken.
Vor der Wartemarken-Zone stand eine Schlange. Naiv stellte ich mich an ihr Ende, bis ich feststellte, dass es gar keine Schlange war, sondern nur eine zufällige Ansammlung von wartenden Menschen. Ich ließ die Schlange hinter mir und trat in Interaktion mit dem Wartemarkenautomaten. Wir haben uns so gut verstanden, dass er mir seine Nummer gab.

10272. Die Anzeige im Wartebereich ist derzeit bei 10228. Sie war aber auch schon bei 10258. Ganz durchschauen tue ich das nicht. Hier herrscht Zufallsprinzip.

Das Passbild missfällt mir. Ich kann nur hoffen, dass es nicht die Wirklichkeit abbildet. Es ist 08.50 Uhr. Laut Prognose sollte ich jetzt zu einem Schalter gehen.

Ich bin durch. Denn zu meiner größten Überraschung kam ich um exakt 08.51 Uhr an die Reihe. Ungläubig verglich ich Wartemarke mit Monitor-Anzeige. Das musste ein Fehler sein! So schnell kann das unmöglich gehen. Ich haderte, ob ich nur fürs Gefühl einfach noch eine zweite Nummer ziehe, besann mich dann aber eines Besseren und suchte Schalter zehn. Da ich Schalter neun fand, war auch die zehn nicht die große Herausforderung dieses Tages. Ich landete bei einem freundlichen Herrn, dem ich mitteilte:

„Mein Perso läuft heute aus. Ich bin also nicht zu spät.“

Er grinste und fragte, ob ich Interesse an einem vorläufigen Ausweis zur Überbrückung hätte. Ich sagte, nein, hätte ich nicht, aber ich wolle dennoch einen, aus Sorge überraschend als auszubürgernd zu gelten. Mit einer Nummer in Deutschland fühle ich mich wohler, auch wenn hierzulande Menschen schon zu ganz anderen Zwecken nummeriert worden sind.

„Stimmt die Augenfarbe noch?“, wollte er wissen.

„Äh, ja. Was steht denn da?“

„Blaugrün.“

„Dann muss es ja stimmen. Blaugrün bleibt.“

„180 Zentimeter?“

„180 Zentimeter was?!“

„Ihre Größe!“

„Achso. Ja. Stimmt. Ich bin nicht geschrumpft. Ich behalte dieses Niveau bei.“

Ich werde meine Körpergröße nicht mehr messen. Zu groß meine Sorge, kleiner geworden zu sein. Ich laufe sehr viel. Möglich, dass mit jedem Aufprall des Körpers auf dem Asphalt man wenige Millimikromakrometer zusammengestaucht wird, sodass ich vielleicht nur noch 160 Zentimeter groß bin. Zuviel Wahrheit ertrage ich nicht, ich muss derzeit soviele Wahrheiten ertragen. Die 180 lasse ich mir nicht nehmen.

Knapp 40 Euro muss ich zahlen und wundere mich, wofür. Aber es liegt mir fern, über den „bösen“ Staat zu schimpfen, also zahle ich und denke wehmütig an den achten Euro aus dem Passbildautomaten.