stuhl

Hoerbar_haare

Ich hielt es für ein Dingen der Unmöglichkeit, bis ich es bei Pavel leibhaftig gesehen hatte:

„Alter, was tust du da?!“, fragte ich ihn, während ich ungläubig, aber immerhin nicht schlecht staunte.

„Ich sitze so da“, erklärte er mir seelenruhig.

„Alter, du stehst!“, interventierte ich seelenunruhig mit Restbegeisterung.

„Nein, Seppo, ich bin derart verzweifelt, dass ich mich im Stehen gesetzt habe. Quasi aus dem Stand heraus ins Stehen, dabei sitzend. So tief musst du erstmal sinken …“

Und so saßen wir da, beziehungsweise ich saß, er saßstand.

„Pavel, ich muss dir eine lustige Nummer erzählen“, wollte ich die Atmosphäre auflockern.

„Mich kann nichts erheitern, Seppo. Aber erzähl‘!“

„Hätte ich eh, ich nehme nie Rücksicht auf meine Zuhörer. Also, ich wollte mir heute Morgen ganz im Sinne meiner Gewohnheit eine Hose anziehen.“

Pavel unterbrach: „So kann keine lustige Nummer beginnen.“

Ich ließ mich nicht beirren, da sich mein Mitteilungsdrang schon durch so manche Wand gebohrt hat, gebe aber zu, dass ich kurz vergessen hatte, was die lustige Nummer war.

Achja: „Pavel, im modischen Hoseneinschlag, also Hosenbeineinschlag fand ich eine Wurst. Eine kalte, fettige Wurst.“

Pavel sah mich interessiert an. Mit der Knallerwendung hatte er wohl nicht gerechnet. Immer ganz wichtig: Wendungen in Geschichten einbauen. Wie zum Beispiel diese:

Meine Mitbewohnerin staunte nicht schlecht, als sie über eine Atombombe in unserem Flur stolperte. „Seppo, räum die scheiß Atombombe endlich zur Seite. Ständig stolpere ich drüber.“ – „Jaha, versprochen! Komm‘ nicht an den Zünder, wir haben keine Hausrat!“

„Jaaa, da guckst du! Will sich ’ne Hose anziehen und findet ’ne kleine Wurst“, erzählte ich Pavel weiter.

Ich war wirklich erstaunt ob dieser Wurst, denn wer hatte sie mir da rein gelegt? Meine Mitbewohnerin?! Eher würde ich mit ihr solche Scherze machen. Das war nicht ihre Handschrift. Und dann rekonstruierte ich.

„Pavel, es muss so gewesen sein: Vor etwa einer Woche fiel ich durch eine Verkettung ungünstiger Begebenheiten zur allgemeinen Erheiterung in den Rhein.“

„Ich weiß. Alle wissen es.“

„Ja. Doch vorher nahm ich noch einen Grill im Fallen mit. Ich nehme nun an, dass sich bei diesem im Nachhinein sehr lustigen, damals jedoch eher tragischen Vorfall, eine Wurst in meiner Hose verfangen hatte.“

Pavels naheliegende Frage: „Hast du sie nun noch gegessen?“

Meine naheliegende Antwort: „Ich war kurz versucht, bis mir einfiel, dass altes Fleisch nicht meinem Geschmack entspricht und außerdem war die Wurst recht sandig. Du kennst dann dieses Knirschen zwischen den Zähnen. Wie bei einer Zahnreinigung. Nur ohne den zitronigen Geschmack.“

„Du hättest sie abwaschen und dann aufwärmen können“, erklärte mir Pavel.

„Ja, aber ich hatte nicht den rechten Appetit und es ging mir zunächst ja nur um das Tragen einer Hose.“

„Trug die Hose keinen Schaden davon?“

„Von der Wurst oder vom Fall in den Grill?“

„Von beidem.“

„Doch, tat sie irgendwie. Vom Grill. Ich muss sie danach irgendwie vergessen haben, weil mir gerade andere Dinge durch den Kopf gehen. Kennst du das, wenn Alltägliches plötzlich keine Rolle mehr spielt und liegen bleibt?“

Ja, sagte Pavel, darum säße er ja auch im Stehen.

Ich schob Pavel einen Stuhl herüber: „Nimm Platz, alter Freund.“

Pavel beäugte argwöhnisch den Stuhl und stellte sich drauf. Ich sah mir das ebenso argwöhnisch an, sagte aber nichts dazu. Ich hielt es für einen billigen Trick, um Aufmerksamkeit zu erhaschen. Ich mache das selber oft so. Und er wollte ja nur, dass ich etwas dazu sage.

„Pavel“, fragte ich, „wo ich gerade meinen Küchentisch so sehe, von dem aus ich tagelang ins Nichts gestarrt habe, hattest du schon mal Sex auf dem Küchentisch?“

„Auf deinem?“

„Äh, nein. Wobei, du hattest doch wohl nicht auf meinem Küchentisch Sex?!“

„Nein. Auf gar keinem Tisch.“

„Ich auch nicht. Mal auf einem Stuhl, der zu einem Tisch gehörte. Auf so einem gefederten. Das war anfangs lustig, bis er zu brechen drohte. Obwohl ich allein war.“

Pavel kam vom Stuhl herunter gestiegen und sagte: „Ich kann nicht mehr sitzen“, und setzte sich auf den Boden.

„Pavel, von diesem Boden kannst du essen!“

„Ich bin aber satt.“

„Ich hätte noch Wurst.“

Pavel ging wieder nach Hause. Der Mann war mal mein bester Freund. Ist es vielleicht auch noch. Allerdings hat er sich dezent verändert, seit sein Hund von einem LKW überfahren worden ist.

„Pavel, ich kann deinen Verlust absolut nachvollziehen“, versicherte ich ihm damals.

„Er war aber doch nur ein Tier!“

„Ja, aber ein Hund! Da würde ich auch Rotz und Wasser heulen.“

„Ich habe ihn nicht gesehen. Ich habe ihn einfach nicht gesehen und überrollt.“

Unser gemeinsamer Nachbar, Herr Kitzler, der hatte Pavels Hund gesehen, aber eben nicht Pavel im LKW. Es genügt nie, nur Teile zu sehen, man muss schon das Ganze sehen, um Katastrophen zu verhindern.

Wie Menschen sich gegenseitig nach kleinen Unglücken beistehen können, sich helfen können, erlebe ich jüngst und bin begeistert. Denke fast, dass sich das Unglück allein für diese Erfahrung gelohnt hat. Während der eine zusammenbricht, baut der andere, der gerade eine gute Phase hat, ihn wieder auf. Damit der ihn aufbauen kann, während der andere dann wieder zusammenbricht. Ein Kreislauf des Zusammenbrechens, ein Kreislaufzusammenbruch.

Und so habe ich eben auch Pavel nach dem Verenden seines Hundes aufgebaut. Nun baut er mich auf, wenn auch nur durch das Sitzen im Stehen.