tod

Vor einigen Tagen hatte ich eine üble Nacht, die Folge sicherlich der Schwüle war, aber auch eines niedrigen Dopamin-Spiegels in Begleitung  einer post-alkoholischen Depression, die mit einer wahren Depression sicherlich nicht vergleichbar ist, wohl aber ein Gefühl für die dramatischen Ausmaße dieser Krankheit vermittelt.

Das sind so Situationen, in denen man plötzlich nicht mehr in den Schlaf findet, weil man sich in einem „Gedanken-Karussell“ befindet, aus dem man schon gar nicht nachts bar jedweder Ablenkung herauskommt. Rational war mir völlig klar, warum ich gerade unter negativen Gedanken ersticke, dass es schon am nächsten Morgen ganz anders aussehen würde und dass es die Folge einer durchzechten Nacht am Vortag ist. Aber selbst wenn man jedes Gefühl rational erklären kann, bleibt es ja präsent, so wie wir Triebe steuern können, ihnen aber doch immer wieder erliegen, was per se natürlich nichts Schlechtes ist.

Ich habe in dieser Nacht an den Tod gedacht.

Und zwar voller Panik. Es ist nicht so, dass er sich bei mir oder bei meinen Lieben angekündigt hätte, sodass meine Angst begründet gewesen sei. Vielmehr stürzte mich die Angst vor dem plötzlichen Tod meinerseits oder beispielsweise meiner Mitbewohnerin in tiefe Panik, in blanke Angst. Mir war völlig bewusst, dass möglicherweise hormonbedingt mir in jenen Stunden der Schutzschild fehlte, das eben diese Angst, die ja so unbegründet nicht ist, in Schach hält. Ein Leben in ständiger Todesangst, das einige unserer Mitmenschen freilich führen, ist kein schönes Leben, es wird wohl genau deshalb Schutzmechanismen geben, die uns diese Ängste wie auch andere Ängste vom Leibe halten.

Der Tod angekündigt durch eine lange Krankheit ist das eine. Er ist nicht schön, er gibt jedoch allen Betroffenen die Chance, sich zu verabschieden, vielleicht sogar, sich mit ihm abzufinden. Doch was tut der plötzliche Tod mit den Hinterbliebenen? Was, wenn mich gleich die Nachricht erreicht, ein mir lieber Mensch sei ungebremst unter einen LKW gerast? Jetzt, um zwanzig vor zwölf, während ich die Kaffeemaschine entkalke? Diese Dinge passieren tagtäglich, allerdings nicht immer im Zusammenhang mit einer kalkfreien Kaffeemaschine.

Was, wenn der Tod plötzlich in das Leben eingreift, ein Loch in unser Dasein reißt, das unmöglich wieder zu füllen ist? In jener Nacht wurde mir das auf eine bestialische Weise klar und mich packte nackte Angst. Denn wir können dem nichts entgegensetzen. Mir wurde unangenehm deutlich, was ich rational weiß, doch ich konnte es unmittelbar fühlen: dass alles, das Konstrukt Leben, permanent an einem gnadenlos seidenen Faden hängt, der jederzeit einfach so nachgeben kann. Das Leben, das ja ohnehin schon an ein Wunder grenzt (was wir ja nur aufgrund unseres Selbstbewusstseins so empfinden), ist gleichzeitig das Fragilste überhaupt. Es gibt nur die eins und die null – ein Lebendig oder Tot. Dazwischen ist nichts. Kein Graben, kein Todesstreifen, kein Übergang. An oder aus. Da oder weg. Ein glatter Schnitt und es hat dramatische Folgen, wenn diese haarscharfe Grenze überschritten wird.

Mein eigener (plötzlicher!) Tod ist gar nicht mein unmittelbares Problem. Ich merke ihn nicht. Aber der diesseitige Gedanke daran, welche Lücke ich (man verzeihe mir die Selbstbezogenheit, die aber gar keine ist, wenn man genauer hinliest) dann hinterlasse, denke ich an meine Mitbewohnerin, aber auch an meine Familie, ist zermürbend. Jederzeit würde ich mich den mir engsten Menschen opfern, doch glücklich wären sie dann ja (hoffentlich!) nicht.

Ich bin nicht vielen Menschen ein enger Mensch, aber den wenigen engen würde ich das ungern antun. Umgekehrt habe ich als der Zurückbleibende eine wahnsinnige Angst vor plötzlichen Lücken, auf die ich gar nicht zu reagieren wüsste. Zwar bin ich jemand, der ausgesprochen gut mit sich selbst und auch im Alleingang klar kommt, der sich von Menschen, die ihm nicht guttun, mit viel Energie fernhält, aber dieses, pathetisch ausgedrückt, „Einsamer-Wolf-Prinzip“ funktioniert ja doch nur dann, wenn da zwei, drei Menschen sind, die einen dann doch so annehmen, wie man sui generis ist.

Oft wird mir „vorgeworfen“, ich sei unnahbar, würde vieles von mir verbergen. Abgesehen davon, dass ich mir das nicht als Vorwurf servieren lasse, bin ich davon oftmals überrascht, gerade dann, wenn es von Menschen kommt, denen ich mich weitestgehend geöffnet habe. Es gibt da wohl eine Diskrepanz zwischen dem, was ich für Offenheit halte und andere. Vor einigen Wochen sagte mir jemand betrunken, er habe mir sooft die Freundschaft angedient und ich sie immer wieder ausgeschlagen. Das hatte mich sehr überrascht, denn ich glaubte, sie angenommen zu haben! Ich habe in diesem Moment sehr viel über meine eigene Person gelernt. Habe aber auch gelernt, dass ich mir das nicht vorwerfen kann: Manches ist eben so, wie es ist. Und ich bin eben so, wie ich bin. Das lasse ich mir nicht zum Vorwurf machen.

Aber ich habe meine Lehren gezogen und ziehe doch ein gesundes Grundmisstrauen anderen gegenüber vor, da Offenheit ab einem gewissen Grad gerne mal (bewusst oder auch unbewusst) ausgenutzt wird. Letztlich sehe ich es so, dass mich Offenheit und Intimität angreifbar machen. Da findet in mir jedes Mal wieder ein innerer Kampf statt zwischen dem Drang, sich zu öffnen und dem, die Mauer vielleicht doch nicht ganz einzureißen. Und ich fahre damit gut. Ich erkenne kein Problem.

Doch der Preis ist der, dass da eben nur wenige Menschen sind, die wirklich behaupten können, mich zu kennen. Ich habe den Kreis jüngst erweitert. Geht einer von ihnen plötzlich über den schmalen Grat, geht auch ein nicht unerheblicher Teil von mir.

Ist man generell ein eher ängstlicher Mensch (nicht im pathologischen Sinne), entwickelt man ein hohes Ausmaß an Humor. Humor hat viele Funktionen, die mir liebste ist die, ernste Situationen damit ins möglichst Lächerliche zu ziehen, sie zumindest erträglicher zu machen. Den Tod muss ich für mich davon ausnehmen, denn der nimmt einem das letzte Lachen. Manchmal für immer.

Sitze ich aber in einem Flugzeug, was ich absolut ungern tue und nur meiner Mitbewohnerin zuliebe, spüre ich die Angst (vor dem Absturz, machen wir uns nichts vor) am ganzen Körper. Und dennoch gelingt es mir in dem Moment, die komischen Seiten dieses Sich-ausgeliefert-Seins hervorzuheben; welche andere Wahl habe ich auch?! Es können die künstlichen Gesichter der Stewardessen sein, die selbst dann noch lächeln, wenn der Pilot ihnen gesagt hat, er habe gar keinen Pilotenschein und wisse nicht, wozu dieser und jener Hebel eigentlich da und es schon ein Wunder sei, dass man sich gerade überhaupt in der Luft befinde. Es kann aber eben auch die eigene Angst sein, über die man sich trefflich belustigen kann. Ich sähe es sogar als Versäumnis an, die eigene Angst nicht zum Gegenstand von Humor zu machen, so wie die besten Scherze immer die über seine eigenen Schwächen sind (die ich aufgrund fehlender Schwächen freilich nicht machen kann).

Humor ist – zumindest bei mir, wer bin ich, über andere zu urteilen – immer auch ein Schutzschild mit dem narzisstischen Nebeneffekt, dass man andere zum Lachen bringen kann, was purer Egoismus ist, der aber niemandem wehtut. Schon zu meinen Schulzeiten als Sportversager war es den Sport-Cracks, die heute überwiegend alle fett und glatzköpfig sind, unmöglich, mich zum Opfer zu machen. Weil ich den größten Freaks zumindest geistig, soviel Selbstbewusstsein darf sein, haushoch überlegen war, was einige auch merkten. Einen Witz über meine Unfähigkeit, die Flugbahn eines auf mich zufliegenden Balles vorherzusagen (was übrigens Hunde sehr gut können), zu reißen, war jedes Mal nur ein Plagiat des Scherzes, den ich bereits vorher gemacht hatte oder die Vorlage für mich, einen noch viel besseren auf vermeintlich meine Kosten draufzusetzen.

Im Laufe der Jahre erlernt man die Fähigkeit, sich die Menschen genauer anzusehen, die da meinen, einen ins Lächerliche ziehen zu müssen. Ich erlebe solche Menschen auch heute noch. In den meisten Fällen stelle ich bei naher Betrachtung des- oder derjenigen fest, dass sich eine Replik nicht einmal lohnt, die Person es nicht Wert ist. Dieser Humor, den man sich als Perle vor eine Sau schenken kann, ist an sich schon die höchste Form von Humor; die Fähigkeit, jemanden auflaufen zu lassen, ihm deutlich zu machen: Du bist es nun wirklich in meinen Augen nicht wert.

Eine größere Schutzmauer als Humor ist die der großen Klappe. Menschen mit großer, oftmals verletzender Klappe, die diese aber als ihre „große Offenheit“ verkaufen, sind eigentlich die armseligsten, die Mitleid verdient hätten. Leider ist das nicht jedem klar. Die Schutzwand aus Humor bestehend ist mir da die liebere.

Die aber vor dem Tod nicht besteht.

Hoerbar_haare
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