überfluss

Gestern versuchte ich mich an einem Sonntag voller Wahlfreiheiten. Ich wollte mich ausschließlich zum Abschluss meines 36. Lebensjahres den Dingen hingeben, die ich gerne tue und die sonst zu kurz kommen, da sie sich gegenseitig im Wege stehen.

Mein Tagesplan sah also vor: Lesen, Computerspielen und Filme gucken.

Das sind drei Dinge, die man ja wohl in, sagen wir mal, 18 Stunden unterbringen kann, zumal ich auf all die Dinge, die ich nicht unbedingt gerne tue, gestern verzichten wollte. Also: kein Sport, kein Putzen oder Aufräumen, keine sozialen Kontakte pflegen, kein Bloggen und die Kommunikation mit meiner Mitbewohnerin auf das Nötigste beschränken, da sie sich voll und ganz auf das Backen meiner Geburtstagstorte konzentrieren können sollte. Ich darf sagen, dass sich das ausgezahlt hat …

In der Nacht zum Sonntag hatte ich mir, mehr oder weniger angetrunken, ein Videospiel, wie man es wohl nennt, gekauft und runtergeladen: „No Man’s Sky“, ein „Offene Welt“-Spiel, das seit rund fünf Jahren sehnsüchtig von allen! erwartet worden war. Ich habe es nicht erwartet, da ich davon nichts gewusst habe. Doch wenn man dann über mehrere Tage immer wieder liest, dass da etwas sehnsüchtig Erwartetes kommt, dann hat man irgendwann das sichere Gefühl, dass man es selber auch nicht abwarten konnte. Also schlug ich zu.

Jedoch wollte ich mich gestern zunächst meiner Sonntagszeitung hingeben, damit ich sie nicht wieder erst am Montag lese. Während ich also abermals über die Standard-Themen „Flüchtlingskrise“ und „Erdogan“ lese, weil die Zeitungen alles andere ignorieren – sieht man von dem polemischen Artikel ab, der „Pokémon Go“ sicherlich nicht ganz ernst gemeint mit der Judenverfolgung gleichsetzt -, denke ich darüber nach, dass ich vielleicht doch zunächst mich dem neuen PC-Spiel widmen sollte. Und da ich keine Ruhe finde, während ich lese, dass Sigmar Gabriel die „Kaiser’s-Tengelmann“-Übernahme wohl besser nicht hätte ministergenehmigen sollen (was ich hier im seppolog schon vor Monaten moniert hatte, wie ich ganz unbescheiden einmal hervorheben möchte, da es schon damals keinen hinreichenden Grund für eine Ministererlaubnis gab), beschließe ich aufzustehen, um „No Man’s Sky“ zu starten.

Bereits hier wird mir deutlich, was ich sehr gut von mir kenne: Optionalitäten im Überfluss. Ich ersaufe in Möglichkeiten. Den Tag freigeschaufelt von Verpflichtungen kann ich nicht genießen, da ich zu viele Möglichkeiten habe. Ich nehme mir dennoch vor, nun stundenlang dieses Spiel zu spielen.

Das Spiel ist zweifelsfrei sensationell. Nicht-Spieler will ich gar nicht überzeugen. Ich reiße daher nur kurz an:

Ich bin auf einem zufällig generierten (und das ist schon eine Sensation) Planeten mit meinem Raumschiff abgestürzt und muss es reparieren. Dazu soll ich nun Elemente sammeln, wie Kohlenstoff oder Plutonium. Es fängt interessant an. Ich finde ’ne Menge Kohlenstoff, aber weit und breit kein Plutonium.

Nach ungelogen zwei Stunden des Umherwanderns auf diesem Planeten raste ich aus. Ich finde Zink, ich finde Eisen, sogar Heredium, was ich noch nie gehört habe, und Platin. Also werfe ich die ersten „Let’s Play“-Videos an und stelle fest, dass einem gewissen Gronkh, wer kennt ihn nicht?!, die Reparatur des Raumschiffes bereits nach 30 Minuten gelungen ist. Beleidigt schreie ich meinen Fernseher an, verfluche die Investition der 60 Euro in das Spiel und versuche es wieder mit der Sonntagszeitung, um keine Sekunde meines freien Tages zu verschwenden.

Ich schätzte dereinst den „Technik+Motor“-Teil der „F.A.S.“. Das hat sich geändert, seitdem die F.A.S. jede Woche nur noch über selbstfahrende Autos schreibt. Vermutlich tut sie das, weil diese Artikel sehr gefragt sind. Ging es vergangenen Sonntag wie schon vier Wochen zuvor um die Frage, wem das selbstfahrende Auto ausweichen soll – der Oma oder dem Kleinkind?“ -, geht es diese Woche wieder um die Frage, ob „Tesla“ uns alle verarscht hat und nicht doch plötzlich „VW“ mit einer Überraschung um die Ecke kommt. Was mich übrigens sehr freuen würde, wenn sich deutsche Großkonzerne einmal nicht überrollen lassen würden, weil sie zu Revolutionen unfähig sind. Sie haben sich bereits von „Toyota“ überrumpeln lassen, was den Hybrid-Antrieb angeht.

Nächsten Sonntag wird es wohl wieder darum gehen, dass „Google“ ein selbstfahrendes Auto plant.

Ich errege mich also über die Themenvielfaltslosigkeit meiner Zeitung und beschließe, „No Man’s Sky“ noch einmal ganz unbefangen von vorn zu starten.

Ich verfluche den Controller, als ich realisiere, dass man das Spiel schlicht nicht von vorn neu beginnen kann. Also bleibt mir nichts, als weiter nach Plutonium zu suchen.

Während man das in diesem Spiel in den wirklich fantasievoll gestalteten Umgebungen tut, verbraucht man ein „Lebenserhaltungssystem“. Dieses meldet mir irgendwann, während ich Eisen abbaue, aber kein Plutonium, dass es nun am Limit sei. Welche Konsequenz das für meine Spielfigur habe, verrät es mir nicht. Aber ich habe ein ungutes Gefühl, da sich der Bildschirmrand rot einfärbt. Das bedeutet wie in vielen anderen Spielen auch, dass man nun stirbt oder zumindest so gut wie.

Um das Lebenserhaltungssystem wieder zu reparieren, müsse man nicht viel tun, lese ich in einem „Tutorial“, lediglich müsse man das Element Plutonium abbauen und mittels Klicks dem darbenden Lebenserhaltungssystem hinzufügen.

Plutonium. Seit drei Stunden irre ich auf diesem virtuellen Planeten herum und finde kein Plutonium. Und dann sterbe ich endlich; das Lebenserhaltungssystem streicht die Segel. Und ich beschließe, heute irgendwann vom letzten Speicherpunkt an weiter zu spielen. Ich muss ja nur Plutonium finden.

Zurück zur Zeitung. Für die habe ich ja nun genug Zeit, da meine zweite Aktivität abgeschlossen ist. Ich versuche es mit dem „Auto“-Teil der „Zeit“. Und lege ihn weg, als ich der Überschrift entnehme, dass es um die Problematik des Hackens selbstfahrender Autos geht. Das hatte ich vor drei Wochen schon in der „F.A.S.“ und auch der „Spiegel“ schreibt jede Woche gleich nach dem „Erdogan“-Titel darüber.

Ich beginne Aktivität Nummer drei. Ich nehme mir vor, gute, hochwertige Filme zu gucken. Das größte Problem dabei ist das Überangebot an Optionalitäten dank „Amazon Prime“ und „Netflix“. Stets läuft das bei mir wie folgt ab:

Etwa eine Stunde lang blättere ich durch die Amazon-App am Fernseher. Ich finde einen guten Film, denke aber dann, was bringt wohl „Kunden schauten auch“? Leider gerät man dabei in eine nicht enden wollende Spirale. Also entscheide ich mich schnell für einen Film, den ich nach etwa zwei Minuten als die vielleicht größte Fehlentscheidung meines Lebens empfinde und überlege, ob es nicht vielleicht noch einen besseren Film gebe.

Nach zwei Stunden kenne ich das komplette Film-Angebot von Amazon Prime sowie die ersten zwei Minuten eines jeden Filmes und überlege, ob es nicht besser gewesen wäre, hätte ich diese vertane Zeit in die Suche nach Plutonium investiert. Sehe dann aber zum x-ten Mal „Cube“ und „Hypercube“ bei Amazon und schlafe dabei ein.

Solche Dinge geschehen mir, wenn ich zuviel Zeit habe für vor allem zu viele Dinge, die ich gerne tue. Ich kann mich letztlich nicht entscheiden, denn der Überfluss vermittelt mir das Gefühl, dass es immer noch besser gehen kann. Doch letztlich ist das trügerisch, man vertut den letzten Tag eines Lebensjahres mit Nichts.

Darum sah der erste des neuen völlig anders aus. Strammes Sportprogramm am Morgen, Bloggen am Mittag, Essengehen am Nachmittag, dann in den Park. Und heute Abend werde ich Plutonium suchen. Es hat seinen Grund, warum ich keine „Let’s play“-Videos mache.


Mache ich aber – hier zu sehen: auf meiner Facebook-Seite.