schultag

Hoerbar_haare
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Mich nennt man „i-Männchen“, woanders würde ich wohl „i-Dötzchen“ heißen, was ich noch alberner als das Männchen finde. Ich bin sechs oder sieben Jahre alt. Es gibt wohl einen Stichtag, der darüber entscheidet, mit wie viel Jahren man eingeschult wird. Halte es für möglich, dass ich schon in 35 Jahren nicht mehr weiß, wie alt genau ich bin und wann ich eigentlich eingegrundschult wurde.

Was mich an diesem Tag sehr nervt, ist die Tatsache, dass ich die ganze Zeit eine Art Riesen-Karotte mit mir rumschleppen muss, in der angeblich tolle Dinge drin seien, über die sich ein Sechs- oder Siebenjähriger Angaben meiner Eltern zufolge sehr freue. Vom Gewicht und vom Geräusch her, wenn ich sie schüttele, schließe ich auf Süßigkeiten und hoffe, dass die i-Männchen im dritten Jahrtausend mit teurer Unterhaltungselektronik zur Einschulung zugeschissen werden und ich 2016 nicht plötzlich meinen Job verliere. Aber nun stehe ich wohl am Anfang dessen, was mir seit rund einem halben Jahr auffällig deutlich von meinen Eltern schmackhaft gemacht worden ist. Überhaupt, von jedem.

„Oh, dann kommst du ja bald in die Schule!“, hat man mir oft gesagt, wobei ich aber auch so etwas wie „Dann beginnt ja der Ernst des Lebens!“ gehört habe, was mich skeptisch gemacht hat.

Mein Kindergarten-Kumpel Pavel ist auch da. Vielleicht wird er auf Jahrzehnte mein bester Freund, mal sehen. Er ist drei Tage älter als ich und verhält sich auch so. Allerdings haben seine Eltern sich dafür entschieden, ihn mit einer „Scout“-Schultasche auszustatten. Das war ein Fehler, was die „Amigo“-Tonton-Fraktion Pavel auch schmerzhaft verdeutlicht hat. Ich habe nur zugesehen, als sie ihn verprügelten, so gesehen bin ich nahezu unschuldig, was Pavel weitestgehend anders sieht. Doch nichts soll die Stimmung an unserem ersten Schultag heute trüben.

Bis auf die Tatsache, dass meine roten „Puma“-Turnschuhe mit Klettverschluss bei meinen neuen Mitschülern nicht so gut ankommen, wie ich das erwartet hatte. Die Schuhe sind ihnen nämlich egal. Halte es für möglich, dass das in den Neunzigerjahren anders sein wird, dass man sich schon ab der ersten Klasse einem gewissen Marken-Style unterordnen sollte. Ich bin da wohl etwas früh dran.

Ah, da kommt jetzt Drosivol vorbeigelaufen! Kenne ich. Er wohnt bei uns in der Nachbarschaft. Er kommt aber aus unerfindlichen Gründen in die Parallelklasse, in die „b“. Haben seine Eltern erwirkt. Ich hab’s nicht verstanden, aber es war in unserem Bezirk die erste Eltern-Konferenz, bevor wir überhaupt jemals eine Schule von innen gesehen haben.

Moment, trägt er „Adidas“?! Ich schiebe mein rechtes Bein nach vorne, was Drosivol offenbar nicht gesehen hat.

Seine Eltern begleiten den blutenden Drosivol nun zum Sekretariat, wo auch Pavel mit einer Mullbinde vor der Nase sitzt. Ich rufe noch hinterher:

„Bring direkt Kreide mit!“

Nicht, weil er die fressen soll, sondern weil mein Bruder, der bereits die dritte Klasse besucht, immer erzählt, dass am Anfang so ziemlich jeder Stunde irgendwer ins Sekretariat geschickt wird, um Kreide zu besorgen. Ich habe mir vorgenommen, nicht der Bimbo der Lehrer zu werden, dafür aber stets politisch korrekt zu bleiben. Ach, Mist!

Jetzt werden Fotos geschossen. Ich werde nervös. Ich und Kameras?! Ein Unding. Das geht nicht. Viel zu schüchtern. Ich nehme meine Schüchternheitspose ein und winkle meinen linken Fuß an den rechten und versuche noch, den Schmetterling auf meiner Schultüte zu verbergen. Den fand meine Mutter so toll und ja, ich ja auch, aber das kann ich unmöglich hier zugeben. Wenn ich an Pavels Schicksal denke …

Moment, dieser Arsch! Hat er sich jetzt in den Bild-Vordergrund geschoben?! Werde ich jetzt immer Pavels Tonton auf meinem Erinnerungsfoto zu sehen bekommen?! Könnte mal ein Trend in 30 Jahren werden. Irgendwas mit „Foto-Bomben“, wenn man in 30 Jahren noch Deutsch spricht. (Hier mögen sich die schnell Erregbaren beruhigen, ich beziehe mich hier auf den Anglizismen-Wahn. Also bitte wieder runterkommen.)

„Nun steck‘ doch das Taschentuch in deine Tasche!“, ruft meine mich ablichtende Mutter mir zu.

„Nein, das ist ein Gag! Das finde ich in 30 Jahren irre komisch! Außerdem lenkt es vom Schmetterling ab!“

Den zu verbergen mir nicht mehr gelingt. Für immer wird er nun auf Fotopapier gebannt sein.

Wir dürfen nun zum ersten Mal unseren künftigen Klassenraum betreten, dessen hintere Wand mit einem Passionskreuz geziert ist, an dem zu seinem Leidwesen jemand festgenagelt ist. Es handelt sich dabei um Jesus, der zur falschen Zeit am falschen Ort war, sodass er jetzt eben in unserem Klassenzimmer hängt und möglicherweise noch ausblutet. Ich schaue rüber zu Husain, einem Jungen aus unserem benachbarten Getto, das man übrigens wirklich nicht „Ghetto“ schreibt, und frage:

„Husain! Guck‘ mal, wer da hängt!“

Husain guckt und lacht. Wir nehmen uns in den Arm und demonstrieren, dass alle Weltreligionen miteinander gut auskommen. Allerdings meldet sich jetzt Atheisten-Alfred aus der Lutherstraße zu Wort:

„Das lateinische Kreuz da hinten, das verschwindet aber wohl doch, sobald der reguläre Schulbetrieb aufgenommen wird?!“

Husain übersetzt: „Regülär! Es muss ‚regülär‘ heißen!“

Die Klasse grölt und ich stelle missgünstig fest, dass hier bereits die Rolle des Klassenclowns vergeben ist. An den falschen. Zumindest nicht an mich. Später am Abend rufe ich mit verstellter Stimme noch bei der Ausländerbehörde an. Weitere vier Wochen später bin ich endlich der Klassenclown und Husain geben wir eine tolle Abschiedsfeier.

Ich sitze neben Christobal. Mit ihm bin ich oft nachmittags spielen, allerdings mag ich ihn nicht mehr, seitdem er meine Modell-Lokomotive die Treppe runtergeschmissen hat. Ich unterstelle ihm nach wie vor Absicht, da er sich mit meinem Bandenbeschluss nicht anfreunden wollte, aus dem hervorgeht, dass ich als nun einmal Ältester der Bandenanführer bin. Womit Christobal nicht gerechnet hat: dass ich durchaus über eine niedrige Hemmschwelle verfüge, was die umgehende Anwendung von Gewalt angeht. Ich nahm den Trümmerhaufen, der mal meine Lokomotive war, und donnerte ihn Christobal an den Kopf. Christobal fing an zu heulen, was so furchtbar war, dass auch ich heulte, allerdings dabei rief:

„Er war es selber!“

um aus dem Schneider zu sein. Diese Taktik schlug fehl, es kam zu Missstimmungen zwischen seiner und meiner Mutter.

Nun aber sitzen wir hier am ersten Schultag nebeneinander und verstehen uns prächtig. Nur will ich mich gerne emanzipieren und künftig woanders sitzen. Neben Julia zum Beispiel. Die sagt mir zu. Vielleicht das erste Mädel, in das ich mich verknalle.

Ein wenig erschrocken bin ich, als Frau Dombrowski, so heißt der mir zugeteilte Lehrkörper, verkündet, man würde sich ja nun öfter sehen. Ich zeige auf, wie man es uns bereits nahegelegt hat, und werde direkt dran genommen. Einige Eltern, die im Hintergrund unter dem Passionskreuz stehen, schmunzeln süffisant – oh, er hat aufgezeigt, hihihi.

„Frau Dombrowski, Sie sagten eben etwas von ‚öfter sehen‘. Wie oft?!“

Nun lachen alle. Mir wird unwohl. Lachen die mich aus? Frau Dombrowski:

„Jeden Tag.“

Mir wird speiübel. Das ganze Ausmaß dieser Veranstaltung wird mir nun erst bewusst. Das Lotterleben scheint vorbei zu sein. Es gehe um das Erlernen von Schreiben und so. Aber wozu?! Ich habe sechs oder sieben Jahre lang ohne Verständnis der Schriftsprache leben können. Es war ja immer jemand da, der mir die Dinge vorgelesen hat. Was war so falsch an dem System!? Und als ob ich jemals Gebrauch von der Kulturtechnik des Schreibens machen würde!


Im Dezember vergangenen Jahres besuche ich noch einmal meine alte Grundschule, die Marienschule Hiltrup.


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