gewalt

Es klingt immer so humorig, wenn man liest, dass sich jemand im Selbstverteidigungsfalle (Nato-Bündnisfall) aus Panik das Pfefferspray ins eigene Gesicht gesprüht hat. Natürlich ist es nicht lustig. Aus zweierlei Gründen: Erstens bleibt der Angreifer als eigentliches Ziel dabei unbehelligt und hat zweitens noch leichteres Spiel, weshalb er sich fragen wird, warum er sich nicht auf blinde Opfer spezialisiert.

Gestern Abend gegen 23 Uhr kam meine Mitbewohnerin auf die Idee, unseren Kleiderschrank (Modell „Carmen“, 399 Euro) um einige Regalbretter zu erweitern. Sie hadert seit mehr als vier Jahren mit diesem Aufbewahrungsgerät, obwohl sie nicht zu den Frauen gehört, die in Klamotten ersticken (wobei man selten nackt erstickt). Diese Rolle habe ich in unserer Beziehung übernommen und kürzlich noch festgestellt, dass ich zwei Hemden in doppelter Ausführung im Schrank hängen habe, was in etwa mein Kaufverhalten widerspiegelt. (Die vorhersehbaren Kommentare der mich enervierenden Konsumkritiker werden gnadenlos widerlegt.)

Während sie also bohrte und hämmerte, nachdem sie ihren Kleidungsbestand auf unserem Bett ausgebreitet hatte, wo ich lesend drin lag, hörten wir plötzlich Schreie von draußen. Wir leben in Düsseldorf-Oberbilk. Dort wird man unruhig, wenn mal nicht jemand schreit. Doch dieses Mal war es eine vermutlich junge Frau, die in, das muss ich hier wirklich mal sagen, berührender Weise schrie:

„Hilfe! Helfen Sie mir bitte!“

Berührend insofern, als dass es uns eiskalt den Rücken herunterlief, wir sofort wussten, dass dort Schlimmes sich ereignet. Wir öffneten das bereits geöffnete Fenster und sahen aufgrund der Dunkelheit nur Gestalten, die sich zügig über die Straße bewegten. Zwischen Opfer und Täter konnten wir nicht unterscheiden, allerdings schien es, als würde eine Gestalt mit irgendeinem Gegenstand auf eine weitere Gestalt einprügeln. Als Zeuge wäre ich ungeeignet, da ich wirklich nichts habe sehen können. Die Hilferufe, die ins Mark gingen, waren jedoch eindeutig. Angst und tiefe Panik waren nicht zu überhören, vor meinem geistigen Auge sah ich, wie eine Frau zusammengeschlagen wird.

Die Frau hat eines richtig gemacht; das, was man Opfern zu tun rät: rennen und möglichst laut schreien. Auf diese Weise fühlen sich wie in diesem Falle viele Anwohner motiviert, die Polizei zu rufen. Ich tat das auch. Und zwar mit zitternder Stimme, da ich schwer beeindruckt war und grundsätzlich bewegt bin, wenn solche Dinge geschehen.

Nach dem Anruf bei der Polizei kämmte ich mir durchs Haar, zog mir vorzeigbare Kleidung an (es lag ja genug auf dem Bett), suchte mir schöne Schuhe raus und bewegte mich nach unten vor das Haus. Die Situation hatte sich offenbar beruhigt. Die junge Frau stand umgeben von einem Pulk von Menschen an einer Straßenecke etwa 20 Meter entfernt. Die Täter oder meinetwegen der Täter – ich weiß es eben nicht – schienen bereits auf der Flucht zu sein.

Da ich nicht den Schaulustigen spielen wollte und sich bereits gefühlte 30 Menschen um das Mädel kümmerten, blieb ich auf Abstand, zumal ich – vielleicht naiv – glaubte, die Polizei bewege sich zunächst zu meiner Wohnanschrift, die ich bei jenem Anruf angegeben hatte, sodass ich ihr weitere Anweisungen hätte geben können. Was viele nicht wissen, ich bin gegenüber Polizisten weisungsbefugt. Diese Befugnis habe ich mal vor Jahren auf einer Tombola gewonnen. Kurzum, ich wollte den Polizisten zeigen, wohin sich der Pulk bewegt hat.

Nun gehöre ich nicht zu jenen Wutbürgern, die pauschalisierend unsere Polizei verfluchen. Im Gegenteil, ich habe ausnehmend gute Erfahrungen mit der Polizei; bislang hat sie mich immer wieder geschnappt. Gestern Abend war allerdings mein Einruck der, dass die Ordnungshüter recht lange brauchten, was ich ihnen ja gar nicht vorwerfen kann, denn sie müssen sich ja erst einmal von A nach B bewegen. Und trotzdem, wäre das Opfer akut in Gefahr gewesen, wären die zehn Minuten, die sie wohl gebraucht haben, zu lange gewesen. Und vermutlich werden sie ihren Grund gehabt haben, warum sie nicht mit eingeschaltetem Martinshorn gekommen sind. Das meine ich nicht ironisch. Denn vielleicht gibt es wirklich einen guten Grund dafür.

Letztlich kam dem Opfer zugute, dass es erst 23 Uhr war und nicht drei Uhr in der Nacht, wo vielleicht weniger Mitbürger zum Telefon gegriffen hätten. Gestern Abend waren es wohl an die fünf, von denen ich hörte, dass sie ebenfalls die Polizei gerufen haben. Das beruhigt mich etwas, ganz so ignorant sind wir dann wohl doch nicht.

Ich näherte mich nach Eintreffen der Polizei der Szene auf einige Meter, und hörte, wie die nun traumatisierte Frau davon berichtete, dass sie Pfefferspray im Auge habe. Nun ist es ja möglich, dass es nicht ihr eigenes war; ich habe lediglich meine Schlüsse daraus gezogen.

Vor einigen Wochen wurde ich von einem Russen, der voll war wie tausend, um einen Euro gebeten. Dass es ein Russe war, kann ich nur vermuten und es spielt auch keine Rolle. Es wäre mir nur zu schade um diesen kleinen Wortwitz gewesen.

„Das wird man ja wohl noch sagen dürfen!“

Jener Mann war sehr groß und ausgesprochen breit. Schon wieder, Wortwitz. Er war aber wirklich breit. Und er machte mir klar, dass die Frage nach der Herausgabe eines Euros nur rhetorisch sei und er mir im Verweigerungsfalle einen über den Schädel ziehen würde. Einen Arm. Oder einen Fuß, nehme ich an. In solchen Situationen werde ich sehr großzügig. Denn ich hatte nur ein Zwei-Euro-Stück im Portemonnaie und zog nicht einmal in Betracht zu fragen, ob er wechseln könne. Denn ich war starr vor Angst. Man muss es erlebt haben. Dieser Typ hätte ich mich umgehend platt gemacht. Weil er es körperlich vermochte und weil er – das ist entscheidend – vermutlich über keinerlei Hemmschwelle verfügte, was die Anwendung körperlicher Motivationsmaßnahmen angeht. Und exakt das ist der Aspekt, der so viel Unverständnis in mir hervorruft: Wie kann man guten Gewissens auf Menschen einschlagen?! Wie kann ich mir als Opfer eine Frau suchen?! Wie kann ich mir überhaupt Opfer suchen?! Und warum wollte der Russe nur einen Euro?!

Die Hilferufe der Frau von gestern Abend (Eine Adelige?! Frau von Gesternabend aus dem Geschlecht der Gesternabends …) gingen wirklich durch Mark und Bein. Was wäre gewesen, ich hätte gesehen, wie auf sie eingedroschen worden wäre? Geht man dazwischen? Die Polizei rät ab. Und ich kann die Frage für mich nicht einfach so beantworten. Vermutlich waren es mehrere Täter. Was tut man dann? Zumindest hätte ich so etwas gerufen wie „Lasst die Frau in Ruhe!“, damit die Angreifer wissen, dass sie nicht mehr unbeobachtet ihrem Handwerk nachgehen. Bis auf eine gewisse Distanz hätte ich mich ihnen auch angenähert, Wegrennen traue ich mir zu. Aber pauschal zu sagen, ich hätte physisch eingegriffen, wäre hier zu einfach. Man stelle sich eine Gruppe von drei Männern als Täter vor. Und ich weiß, in Oberbilk trägt man gerne handliche Waffen bei sich. Welche Chance hätte ich gehabt? Als Lösung sehe ich nur einschüchternes Rufen und vor allem: das Zusammentrommeln von Anwohnern.

Damit das nicht, was im Netz ja gerne geschieht, krampfhaft falsch verstanden wird: Natürlich muss man eingreifen. Das Rufen der Polizei ist selbstverständlich. Die Lage war unübersichtlich und ich darf vielleicht noch erwähnen, dass ich in einem Viertel lebe, wo sich in einigen Vorfällen bereits Polizeistreifen zurückgezogen haben, da Aggressoren sich von diesen nicht beeindrucken ließen und gerne im Familienverbund auftreten.

Mich beeindruckt hat die Tatsache, wie schnell manche Dinge vor sich gehen und wie zügig sie einen erfassen und ich mahne meine Mitbewohnerin, die durchaus fit in Selbstverteidigung ist (Ich selbst wollte sie einmal ausrauben, da schlug sie mich zu Boden.) bei der geringsten Bedrohungslage einfach schreiend wegzurennen. Aber tut man das in einer Situation, die (noch) nicht eindeutig bedrohlich ist? Als jener Russe unmittelbar vor mir stand, merkte ich, die Situation könnte kippen, aber irgendwie hatte ich nicht den Impuls, die Flucht zu ergreifen. Es ist schwer zu beschreiben, denn es handelt sich um Ausnahmesituationen, auf die man nicht vorbereitet ist. Übrigens weder als Mann noch als Frau.


Hoerbar_haare
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