abendfahlZeichnung: Mitbewohnerin

(Ich freue mich, dass Herr Abendfahl nach 19 Jahren wieder sein Publikum findet.)

Herrn Abendfahl dürfen wir uns als den letzten klassischen Spießer auf Erden vorstellen, wobei der Spießerbegriff ja mitunter diffus definiert ist. Herr Abendfahl gehört nicht zu denen, die sich nicht aus dem eigenen Kosmos herauswagen, also nicht weiter als nur bis zum eigenen Tellerrand blicken. So gesehen ist er an sich kein Spießer, der bei Wikipedia (nach Karl Heisig zitiert) so definiert wird:

Als Spießbürger, Spießer oder Philister werden in abwertender Weise engstirnige Personen bezeichnet, die sich durch geistige Unbeweglichkeit, ausgeprägte Konformität mit gesellschaftlichen Normen und Abneigung gegen Veränderungen der gewohnten Lebensumgebung auszeichnen.

Nach mehrfacher Lektüre dieser Definition hat Herr Abendfahl nun völlig überraschend für sich beschlossen, dass er wohl doch ein Spießer in obigem Sinne ist. Denn es ereignete sich ein Vorfall, der sein unbewegliches Leben aus den Fugen geraten ließ. Das Leben, das klar strukturiert, von immer wiederkehrenden Abläufen geprägt ist. Herr Abendfahl ist Pensionär, hat also viel Zeit, doch so etwas wie Langeweile kennt er nicht, denn er hat ja seine Abläufe, die auf keinen Fall gestört werden dürfen.

Morgens um sechs Uhr steht er für gewöhnlich auf und beginnt den Tag mit dem Lesen diverser Zeitungen, die ihm bis vor die Wohnungstür geliefert werden, was er einer ausgefeilten Lieferkette zu verdanken hat, in die auch seine Nachbarin Frau Fahrgescheit eingebunden ist. Diese ist noch früher auf den Beinen als er, sodass sie ihm als unentgeltliche Serviceleistung die Zeitungen bis vor seine Tür trägt und zentriert auf seine Fußmatte legt.

Noch leicht verschlafen geht Herr Abendfahl zunächst in die Küche, braut einen Kaffee, um dann die Wohnungstüre aufzuschließen. Erst das Sicherheitsschloss, dann das herkömmliche, jeweils zwei Umdrehungen nach links. Dann hält er kurz inne, um über den Zahlenkode nachzudenken, den das dritte Schloss ihm abverlangt. Hernach öffnet er unauffällig die Tür, da er nicht gesehen werden möchte, wenn er lediglich seinen Schlafrock trägt, da es ihm peinlich wäre. Überhaupt ist ihm vieles peinlich, da er stets auf Etikette bedacht ist. Einen Herrn Abendfahl trifft man stets geschniegelt und gebügelt an; darauf legt er Wert.

Unvergessen für ihn bleibt ein Sonntag, an dem Frau Fahrgescheit ausgerechnet in dem Moment an seiner Wohnung vorbeiging, als Herr Abendfahl die Tür im Morgenmantel öffnete. Unfrisiert und völlig verschlafen stand er da und wusste nicht, was er sagen sollte.

„Äh, guten Morgen, Frau … äh … Fahrgescheit. Ist ja ganz … äh … praktisch, dass Sie mir die Zeitung immer … also … vor meine Tür … dann muss ich nicht nach unten … schönen Sonntag.“

Blickte an sich herunter, da er Sorge hatte, mit einer morgendlichen Erektion dazustehen, was zu seinem Glück nicht der Fall war, da es Frau Fahrgescheit möglicherweise völlig falsch aufgefasst hätte – im besten Falle als ein Kompliment.

Er nimmt also die Zeitung auf, geht zurück ins Bett und liest zwei Stunden. So ist es jeden Morgen sein erstes Ritual, auf das weitere derer folgen, die ihn durch den Tag begleiten.

Am Donnerstag ist Herr Abendfahl außer sich. Etwas in der Lieferkette seiner Gazette muss schiefgegangen sein. Nach Öffnen der drei Türschlösser samt Tür starrt er auf seine Fußmatte (auf der keineswegs „Willkommen“ steht, da das eine Lüge wäre), auf der „Die Zeit“ hätte liegen müssen, die er donnerstags und freitags liest. Herr Abendfahl reibt sich die Augen, kann nicht akzeptieren, was er sieht: das Fehlen seines Donnerstagmorgenrituals. Was würde er nun bis acht Uhr tun? Was, wenn „Die Zeit“ erst am Freitag kommt, er damit einen Tag in Verzug wäre, muss er doch freitags bereits die „F.A.Z. Woche“ lesen, bevor am Samstag die „Süddeutsche am Wochenende“ erscheint, die er bis zur Lieferung der „Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung“ gelesen haben muss.

„Mein Gazetten-Gefüge ist hinüber!“, ruft er verzweifelt ins morgendliche Treppenhaus.

Und geht zurück ins Bett. Schiebt sich sein Lesekissen in den Rücken, das aufrechtes Sitzen im Bett ermöglicht und blickt ins Leere. Des Spießers Tagesablauf, ja sogar Wochenablauf!, ist massiv gestört, orientierungslos droht Herr Abendfahl ab sofort durch sein Leben zu stolpern.

Seine Zeitungen sind ihm heilig. Er schätzt das gedruckte Wort, das notabene grundlos an Bedeutung verliert, für ihn dadurch umso wertvoller wird. Das haptische Erlebnis, das Wissen um die Qualität des wohl überlegten Wortes, das noch seinen Preis hat, den er gerne entrichtet. Stets will er Erstleser sein. Eine bereits gelesene Zeitung liest Herr Abendfahl nämlich nicht. Eine vom Regen gezeichnete Gazette ist ihm ein Graus, er neigt dann zum Bügeln der Zeitung, denn das glatte Papier gehört für ihn zum haptischen Leseerlebnis unbedingt dazu, was ihn von vielen seiner Mitmenschen unterscheidet, die in ihrem Leseverhalten verhunzt seien, da sie nur noch snippets läsen, die Komposition eines langen, umfassenden Textes gar nicht mehr kennen würden.

Es ist Freitagmorgen. Abermals fällt Herrn Abendfahls Blick auf eine nackte Fußmatte. Er denkt darüber nach, die fehlende Zeitung manuell in einem Kiosk zu kaufen, da er nicht weiß, wie er einen weiteren Tag die zusätzlichen zwei Stunden füllen soll. Und obwohl er weiß, wie schlecht Kioske sortiert sind, was Presseerzeugnisse angeht, wagt er den Versuch und stürzt sich in die Welt der Nicht-Abonnenten.

Das Viertel, in dem er lebt – er selbst spricht eher von „gastieren“ -, ist einigermaßen runtergekommen und im Grunde Herrn Abendfahls Anspruch nicht gerecht. Ob es Schmierereien an den Fassaden der Wohnruininen sind oder schlicht der Müll auf dem Gehweg ist: beides aus Herrn Abendfahls Sicht völlig unnötig und ebenso unbegreiflich wie die Gestaltung der Altglas- und -papiercontainer, die in inflationärer Art und Weise an jeder Straßenecke herumstehen und bar jeden ästhetischen Feingefühls seien. Man nehme sie so hin, sagt er immer, doch bei genauer Betrachtung verschandelten sie das Bild des öffentlichen Raumes auf erschreckend respektlose Weise, die kaum mehr hinterfragt werde. Darf der öffentliche Raum nicht ästhetisch sein?!

Herr Abendfahl betritt den Kiosk mit einem „Guten Morgen“, das erwidert wird. Alles andere hätte er auch nicht akzeptiert, nicht einmal vom Pöbel. Relativ schnell überblickt er das Angebot an Zeitungen, um festzustellen, dass es die „TV14 XXL“ in 20-facher Ausführung gibt, für ein Qualitätsprodukt wie „Die Zeit“ aber wohl kein Platz mehr ist. Nun ist er verunsichert. Macht er kehrt oder kauft er noch etwas, nur um irgend etwas zu kaufen? Er beschließt, zu fragen:

„‚Die Zeit‘ haben Sie nicht?“

„Du willst Zeitung? Wir haben Zeitungen da vorne“, bekommt er zur Antwort.

„Nein, ich meine ‚Die Zeit‘. Also die Zeitung ‚Die Zeit‘.“

Dass alle Welt ihn seit einigen Jahren duzt, ignoriert er inzwischen. Unvergessen, als er sich in einem Laden von „O2“ ein Seniorenhandy zulegen wollte. Als er das Geschäft betrat, begrüßte ihn ein O2-Handlanger mit:

„Hallo, ich bin der Stefan. Und du bist?“

Ohne ein weiteres Wort zu verschwenden, drehte sich Herr Abendfahl um und ging.

Mit einer „TV14 XXL“ unter dem Arm verlässt Herr Abendfahl den schlecht bestückten Kiosk. Am Altpapiercontainer entsorgt er pflichtbewusst das Billigblatt und kehrt orientierungslos heim. Setzt sich in seinen Lesesessel und wartet auf acht Uhr.


Hoerbar_haare
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