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Vor Lektüre des folgenden Textes ist unbedingt dieser zu lesen!

Mein Bart ist nach wie vor rotbraun oder braunrot, was ich mit 45 Jahren aber völlig in Ordnung finde. Außerdem sehe ich mit 45 nach wie vor so gut aus wie mit 37 oder 38 Jahren, stelle ich ungewohnt selbstüberzeugt vor dem Spiegel fest, nachdem ich im „Spiegel“ über das Wachsen der deutschen Wirtschaft im nunmehr dritten Jahrzehnt in Folge gelesen habe, was dann wohl endgültig den unaufhaltsamen Aufstieg in die Topliga der Weltwirtschaftsmächte bedeutet. („Der Spiegel“ hat inzwischen ein Auflagenhoch, nachdem er die Machenschaften der Vorsitzenden einer rechtspopulistischen Partei aufgedeckt hatte.)

„Ich hab’s ja gesagt“, murmele ich in den Spiegel und zupfe eine Saite meiner Harfe.

Ich gehe in die Küche, wo meine Mitbewohnerin sitzt und triumphiere:

„Das haben wir den unbeirrbaren Befürwortern der Freihandelsverträge zu verdanken. Erinnerst du dich noch? Damals, 2017 oder 2018? Als sie einstimmig durchbeboxt wurden?“

„Ja.“

„Seit dem Zweiten Weltkrieg hatte Deutschland keinen Handelsvertrag ausgelassen. Nur so konnten wir wieder Exportweltmeister werden. Inzwischen haben wir ganz Asien überholt. Die haben ja ihr TPP aufgekündigt. Die waren ihres Wohlstandes offenbar überdrüssig.“

„Und was hieß das für uns?“

„Dass wir unsere Industriestandards weiter setzen konnten. Bevor das andere getan haben, was unsere Produktion verbilligt hat. Das ist immer schon der Trick der deutschen Wirtschaft: die eigenen Standards der Welt aufdrücken. Dadurch müssen wir unsere Exporte nicht an fremde Normen anpassen, was sie billiger und konkurrenzfähiger macht. Das haben wir auch TTIP zu verdanken, das sich gegen eine verirrte Minderheit aus rasenden Wutbürgern durchgesetzt hat, weil Vernunft am Ende doch immer siegt. Die Zeit, in der man gegen alles war, was man nicht verstanden hatte, ist vorüber. Reich mir doch bitte noch ein Stück von dem köstlichen Chlorhühnchen! Weißt du noch, früher hatte man die mit Antibiotika vollgepumpt. Das fanden die Menschen damals nicht so schlimm wie das Chlorbad.“

Auf unserem Küchenfernseher läuft die Regierungserklärung von Martin Schulz, dem EU-Kanzler, auf „Welt“, einem alteingesessenen Nachrichtensender, der immer noch um die Moderationskünste Verena Fels‘ buhlt, die aber „Arte24“ treu bleiben will, und die seit der zehnten Klasse nach wie vor hinter mir her ist. In der neuen 256K-Auflösung sieht sie noch schöner aus als eh schon.

Herr Schulz erklärt, warum Europa von der neuen gemeinsamen Verfassung profitiert hat, die Deutschland mit Frankreich, Polen und Italien gegen die ewigen Nörgler durchsetzen konnte, nachdem Schottland Mitglied der EU geworden ist, und warum die Europäische Rechte Internationale beim Wähler schallend durchfallen musste, nachdem sie versucht hatte, die EU zu zerschlagen. Beifall für Schulz, das demokratisch legitimierte EU-Parlament lacht herzhaft und klatscht. Martin Sonneborn blickt etwas traurig drein, es fehlten nur wenige Stimmen und er wäre EU-Kanzler geworden …

Zwischenfragen, ob eine Angliederungsvereinbarung Deutschlands an Putins Russisches Reich nicht eine „supi Idee“ wäre (ein rechtspopulistischer Hinterbänkler) pariert er mit unbestechlichen Argumenten: Putin sei ein zweifelhafter Führer seines Landes, der die Rückgabe der Krim nicht verkraftet habe. Auf den Zuschauertribünen des EU-Parlamentes, das bald zum Parlament der Vereinigten Staaten Europas wird, kommt Jubel auf; selbst das Wachpersonal kann sich der euphorischen Stimmung nicht erwehren und lässt rechtspopulistische Störer das sein, was sie sind, nämlich einfach nur nervig und gottseidank unbedeutend.

Herr Schulz genießt seinen Auftritt, der auch auf dem Dritten Programm der Öffentlich-Rechtlichen in Deutschland übertragen wird. Das ist normal, denn der deutsche Zuschauer weiß eine sachliche Berichterstattung nach wie vor zu schätzen, nachdem RTL die Berichterstattung zur Fußballweltmeisterschaft in den Sand gesetzt hatte. Dennoch, abermals ist Deutschland Weltmeister geworden, zum fünften Mal in Folge. Kritiker bemängeln allerdings die jährliche Ausrichtung der WM. Kritik darf man – warum auch nicht?! – in der Öffentlichkeit äußern, besonders gerne, wenn sie Hand und Fuß hat. Querulanten und Wutbürger treffen auf keine Ohren mehr. Nicht einmal Bundeskanzlerin (jetzt ganz stark sein!!!!!) Andrea Nahles gibt sich damit ab, sie konzentriert sich auf ihre Politik, hinter der auch Bundespräsident Seehofer steht, der der Parteienpolitik den Rücken gekehrt hatte, nachdem die SPD in Bayern die absolute Mehrheit geholt hatte und die unselige Maut rückabgewickelt hat.

“ … und deshalb bin ich eben EU-Kanzler, und doch nicht Bundeskanzler geworden, um meinem Freund Sigmar nicht an den Karren zu fahren, was dann die Andrea getan hat …“, tönt es aus unserem Küchenfernseher, an dem ein Gerät angebracht ist, das unliebsame Sendeanstalten wie „Russia Today“ zwangsverschlüsselt.

Ich verlasse die Wohnung, vergesse fast, meine „electroCard“ mitzunehmen, die man immer mit sich zu führen hat, um die Stromladung seines E-Autos zu bezahlen. Ich steige in meinen VW „e-Golf“ (Ich bin nach wie vor sympathischer Spießbürger und fahre natürlich Golf!) und staune über die tolle Ladestationen-Infrastruktur, die die Bundesregierung noch unter Kanzler Kretschmann gewohnt effizient installiert hatte. Die deutschen Autohersteller waren dabei mit an Bord, haben weltweite Batteriestandards gesetzt, was das Aus für Tesla, Google und Lada bedeutet hatte. Die USA sind mit sich selbst beschäftigt, sie müssen drei (!) Amtszeiten Trumps verarbeiten, der den kompletten Staatshaushalt in Zäune geballert hatte.

Ich fahre vorbei an Fassaden aus Marmor. Hier leben viele Menschen aus allen Nationen der Welt, die wir, geordnet und finanziell fundiert, nach wie vor mit offenen Armen empfangen, da jedem Deutschen bewusst ist, dass auch er vielleicht einmal wird fliehen müssen. Das Gemütlichmachen im eigenen Wohlstand liegt dem Deutschen nicht. Er weiß um die Fragilität seiner Lebensverhältnisse. In der immerhin 90 Millionen Menschen leben und arbeiten. Arbeitsmarkt und Sozialsysteme florieren dank der gelungenen Einwanderung und Integration, selbst der letzte Idiot hat kapiert, dass die Systeme auf den Zuzug von Arbeitnehmern aus anderen Staaten angewiesen sind, um zu funktionieren.

Die Gesundheitsversorgung ist inzwischen sogar kostenlos, die Zahl der Grippetoten auf einem Tiefststand, nachdem der Grippeerreger ausgerottet worden war, ein plötzlicher Herzinfarkt wird per implantierten „HealthChip“ an die nächste Notrufzentrale gemeldet und ehe man sich versieht, findet man sich in der Reha wieder. Vor Arbeitslosigkeit grault es mir, erst Recht, seit die Arbeitslosenversicherung nur noch ein halbes Jahr greift. Doch dann schmunzele ich, denn es herrscht ja Vollbeschäftigung und gerade im Medienbereich ist jeder Idiot, der meint, moderieren zu können, überall gerne gesehen. Da der Arbeitstag nur noch vier Stunden umfasst, erledigen viele Menschen einen Freiwilligendienst auf beispielsweise Mallorca, das inzwischen tatsächlich zu Deutschland gehört.

Ein Audi zischt an mir vorbei, kracht in ein Schlagloch und bleibt stecken. Ich kann die Szene nicht einordnen und merke dann, ah, es ist Guido Knopp jr., der für das DDF eine Geschichtsserie dreht mit dem Arbeitstitel „So war das früher, als die Kommunen kein Geld hatten, um Schlaglöcher zu reparieren“. Schlaglöcher habe ich aus meiner Erinnerung völlig getilgt und seitdem Autos fliegen können, wären sie auch kaum noch relevant. Ich gehe auf den Regisseur zu und flüstere:

„Ich stelle mir gerade vor, wir hätten uns damals in den 20er-Jahren für eine rückwärtsgewandte Politik entschieden! Gar nicht auszudenken! Was Sie hier drehen, mutet ja wie eine Dystopie an!“

„Das ist gelinde gesagt Bullenscheiße. Und bitte nicht so laut. Wir drehen hier!“

Ich fahre weiter zur jährlichen Krebsvorsorge, die ich nur noch spaßeshalber mache, seitdem der Krebs besiegt worden war. Ich lasse mir so gerne hinten reinsehen. Nach den GAUen in drei der neuen deutschen Windparks hat die Erkältung die puh, jetzt wird es aber holperig hier im Umschreiben, die Rückenleiden als häufigste Erkrankung überholt.

Ich trete in die Bremsen und setze zur Landung an, da ich auf der Straße eine Euromünze finde. Die sind rar geworden, seit das Bargeld abgeschafft worden war. Erst im kommenden Jahr wird es wieder eingeführt, da die Politik sich nicht mehr von der Finanzwirtschaft in jeden Scheiß reinreden lässt. Ich beschließe, mein Brot beim Bäcker als Gag damit bar zu bezahlen und freue mich, dass das Deutsche Bäckerhandwerk sich gegen die Backautomaten von „Lidl“ und Co. durchgesetzt hat.

Ich treffe Herrn Fahrgescheit. Er ist 79 Jahre alt und genießt seit 20 Jahren seine Rente. Dass es weniger Erwerbsarbeit für den Menschen gibt, hat sich ausgezahlt, besonders wenn man an den freien Freitag denkt, der das Wochenende seit einigen Jahren in eine angenehme Länge zieht. Aus Spaß trägt Herr Fahrgescheit aber noch Zeitungen aus, da das gedruckte Wort wieder massiv an Vertrauen gewonnen hat, während das Internet sich vollständig auf Bewegtbild konzentriert, wobei keines der Videos länger als acht Sekunden sein darf, sonst gibt es keine „Likes“. Ich denke an meine Fünf-Minuten-Videos und freue mich klammheimlich darüber, dass mir so etwas egal ist. Ich nehme mir für den Nachmittag ein Zwanzig-Minuten-Video vor, das mich nur im Auto fliegend zeigt.

Wie gerne ich die herrlichen Zustände in meinem Blog doch anpreisen würde. Doch dann fände auch ich mich auf dem Blogolymp wieder. Ich würde mir dann mit Dampfbloque vielleicht ein Podest teilen. Auch eine Form der, äh, Podestteilung.


Ich verweise dringend darauf, dass dieser Artikel nur im Zusammenhang mit diesem Sinn ergibt!


Ähnlich dystopisch geht es auf meiner Facebook-Seite zu. Außerdem verweise ich gerne auf meinen zweiten Blog:

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