nordsee

Die einzige Fortbewegungsart, der ich gerne fröne, ist die des Laufens. Als ich noch studierte, ging ich jahrelang zu Fuß zur Uni und das in Münster, wo jeder statistisch betrachtet über zehn Fahrräder verfügt. Ich selbst hatte etwa fünf Räder, vier hatte ich gestohlen und eines aus dem Dortmund-Ems-Kanal gefischt, was in der Fahrradhauptstadt zum guten Ton gehört. Als Initiationsritual pflegt man dort, zum 14. Geburtstag mit der ganzen Familie eine „Leeze“ zu stehlen. Zugezogene, die sich dem verweigern, leben ein ganzes Leben in Schande. Doch weil ich mal radelnd vor ein Auto geriet, hatte ich eine Zeit lang Probleme, wieder aufs Fahrrad zu steigen. Das Stehlen ging nach wie vor, aber das Fahren war ein Problem.

Lange Autofahrten verabscheue ich, empfinde sie als langweilig, was sie ja nun einmal auch sind. Inzwischen lasse ich immer meine Mitbewohnerin fahren, was übrigens oft belächelt wird, da es offenbar immer noch als Aufgabe des Mannes zählt, das Automobil zu steuern. Ich bin eben ein sehr moderner Mann, der sich kutschieren lässt.

Das Konzept des Autofahrens ist meiner Meinung nach schon längst überholt. In den meisten Städten ist man zu Fuß deutlich schneller unterwegs und ich gehe davon aus, dass der Mensch in 100 Jahren kopfschüttelnd Bilder betrachten wird, die die stockenden Blechlawinen in den Innenstädten zeigen. Es ist abstrus, wie wir uns insbesondere zu Stoßzeiten im Schritttempo in Autos, die viel schneller sein könnten, durch die Gegend bewegen.

Und gestern war da der Rückreise-, der Reiserück-, der Ferienrückreise-, der Ferienreiserückverkehr oder Ferienrückreiseverkehr, der uns auf der Autobahn stehen ließ. Stauforschung ist ein faszinierendes Metier, das die Fähigkeiten meines Geistes übersteigt. Überhaupt die Frage, warum man plötzlich einen Kilometer schnell fahren kann, um dann wieder drei Kilometer zu stehen, was sich gestern in regelmäßgen Intervallen wiederholt hatte.

„Wenn doch nur der erste ganz vorne mal Gas geben würde!“, rief ich hochaggressiv aus. Mir fiel auf, dass mich immer die Dinge aggressiv machen, die mich beschränken und ich gleichzeitig aber nicht beeinflussen kann.

Um die Zeit totzuschlagen, hatte ich meinen Laptop mitgenommen. Könnte ja was bloggen während der Fahrt, glaubte ich, bis ich feststellte, dass ich ja kein Internet unterwegs habe. Die Versorgung unseres Landes mit Internet ist ein Debakel. Statt „LTE“ erschien ein „G“ in meinem Display, was nichts Gutes verhieß.

Wir kehrten in einer Raststätte ein, um für 70 Cent uns des Urins zu entledigen. Vor dem Pissoir stehend fragte ich mich abermals, warum auf Raststätten immer für Männerbinden auf Kopfhöhe der Urinale geworben wird. Mir ist klar, dass Senioren sie mitunter brauchen, womöglich auch ich einmal, aber ist der Bedarf auf Autobahnen besonders hoch?

Auf meine Mitbewohnerin wartend stehe ich vor dem Zeitschriftenregal. Und greife zu „Stern Crime“. Das könne ich doch mal ausprobieren, dachte ich, um im Auto festzustellen, dass es schon dunkel ist. Mit Handylampe, die auch ohne LTE leuchtet, ging es dann irgendwie und es war der Stimmung der düsteren Geschichten in diesem Magazin absolut zuträglich. Dort geht es um Kriminalfälle aller Art. Um sehr kuriose, aber auch um sehr brutale. Da wurde zum Beispiel ein Mann tot in einem Hotelzimmer aufgefunden. Alles deutet auf plötzlichen Tod ohne Fremdeinwirkung hin. Nur eines passt nichts ins Bild: seine brutal beschädigten Organe, ohne dass eine Außeneinwirkung zu finden wäre. Die Lösung ist kurios, ich gebe sie nur verkürzt wieder: Im Nebenzimmer haben Betrunkene mit einer Waffe rumgespielt. Ein Schuss löste sich. Die Kugel drang durch eine Tür ins Nebenzimmer und trat durch den Hodensack in den Körper des Opfers ein – bis vor in sein Herz. Die Einschusswunde am Hodensack sah nicht aus wie eine Einschusswunde und das Loch im Herzen wurde übersehen … nur ein Beispiel von vielen kuriosen Geschichten, die das Leben schreibt. Ein interessantes Magazin, ich las es komplett durch.

Die vom Navi geschätzte Ankunftszeit verschob sich immer weiter nach hinten, was mir ein Rätsel war, denn de facto kamen wir voran. Nicht schnell, aber wir fuhren nicht rückwärts. Überhaupt war es mir ein Rätsel, warum mein „Garmin“ keinen Stau vorhersagte, nicht einmal den aktuellen, in dem wir uns fraglos befanden, zeigte es an. Stattdessen sagte die freundliche Frauenstimme:

„Der Verkehr fließt auf ihrer Strecke.“

„Einen Scheiß tut der Verkehr!“, brülle ich zurück und reiße damit meine Mitbewohnerin aus dem Sekundenschlaf. Sie mag es nicht, wenn ich laut werde, doch war mir wichtig, die Situation zu beklagen.

Früher hatte ich ein „Tomtom“, das mir nie einen Stau verschwieg. Allerdings kostete mich der Service auch 50 Euro im Jahr. Navi-Hersteller kämpfen gegen die Navi-Apps, die kostenlos sind und ihr Geschäft ruinieren. Darum diese unseligen Abo-Modelle, die ich als Abzocke empfinde. Abgesehen davon wird ohnehin davon abgeraten, Staus zu umfahren, da man unweigerlich im nächsten landen würde. Mir genügt aber oft die pure Information, wie lang der Stau ist, in dem ich mich befinde. Also Radio an, Verkehrsservice.

Nachdem der Radiomann etwa zehn Staus runtergerattert hatte, frage ich meine Mitbewohnerin:

„Waren wir dabei? Waren wir der Zehn-Kilometer-Stau?“

„Ich hab nicht zugehört. Wo sind wir denn?“

„Richtung München. Mehr weiß ich nicht.“

„München?! Ist das nicht völlig falsch?! Was hast du denn als Ziel eingegeben?!“

„Gar nichts. Hast du doch gemacht?!“

„Ich hab’s nur an die Scheibe gedengelt!“

„Dann fahren wir gerade zu meinem letzten Ziel“, stelle ich ernüchtert fest.

Es ist nun Montag. Wir sind am korrekten Ziel angekommen mit einer erheblichen Verspätung wegen eines Umweges über München. Ein paar Tage Nordsee werden uns ganz gut tun.


Urlaubsbilder verkneife ich mir auf meiner Facebook-Seite.


Der innere Schweinehund spielt heute eine Rolle in meinem zweiten Blog, dieLaufeinheit.com!

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