weihnachten

„Wo warst du?“, wollte mein recht kleiner Neffe von mir wissen.

„Ich habe oben Geschenke eingepackt“, gab ich ihm zur Antwort.

„Damit ist jede Illusion dahin“, sagte mein Bruder, der mit einer 99,99-prozentigen Wahrscheinlichkeit der Vater meines Neffen ist, woran aber auch nie gezweifelt worden war.

Ich war dem Irrglauben aufgesessen, dass mein Neffe, der mit meiner Familie und mir inklusive meiner Mitbewohnerin den Heiligen Abend nach allen Regeln der atheistischen Kunst zelebrierte, bereits darüber im Bilde war, von wem die Geschenke tatsächlich kommen. Ich zog also meinen Bruder zur Seite und sagte ihm in einer Melange aus Rechtferti- und Entschuldigung:

„Das tut mir jetzt leid, ich dachte, er wüsste, dass seine Geschenke menschlichen Ursprungs sind und nicht von einem höheren Wesen. Obwohl ich ja durchaus als höheres Wesen durchginge …“

Jetzt weiß er es.“

So schnell kann es gehen, dass man Kinder in ihrem albern-kindlichen Glauben erschüttert. Ich deklariere es im Nachhinein als eine Erziehungsmaßnahme, derer sich ein Onkel vermutlich nicht anmaßen sollte. Aber nur wenige Stunden vorher hatte mich mein Neffe seinerseits darüber informiert, dass er sämtliche Geschenke schon im Schrank meiner Eltern, wo wir feierten, seiner Großeltern also, gefunden habe. Ich war etwas stolz auf ihn:

„Sie versteckten unsere Geschenke schon vor 20 Jahren in diesem Schrank. Manches ändert sich nie.“

Sein Opa wiederum, der mein Vater ist, stiftete zusätzlich Verwirrung dadurch, dass er mal vom Weihnachtsmann, mal vom Christkind als großzügigem Gönner sprach, was der dezent christlichen Erziehung seitens meines Bruders zuwiderlief. Noch schlimmer wurde es, als Opa begann, das Christkind aufzuteilen. Plötzlich war vom Münster-Christkind in Abgrenzung zum Greven-Christkind die Rede, wo mein Neffe mit seinen Eltern lebt.

„Das Greven-Christkind war schon da, wir warten gerade noch auf das Münster-Christkind!“, sagte Opa noch am Heiligen Nachmittag.

„Das bringt jetzt sogar mich durcheinander!“, flüsterte ich meiner Mitbewohnerin zu, die sagte: „Das glaubt selbst das naivste Kind nicht mehr.“

Nach wie vor ist es in meinem Elternhause Tradition, dass auch ich in meinem alten Kinderzimmer ausharre, während meine Ahnen den Gabentisch bestücken. Auf dieser Tradition bestehe ich und werde es auch in 40 Jahren noch tun, wenn meine Eltern dann ausgestopft mit mir Weihnachten feiern. Müssen.

Im Laufe des „Wartens aufs Christkind“ kam es zu einem Eklat. Während meine Eltern den Tisch unter Bergen von Geschenken begruben, stand plötzlich mein Neffe im Wohnzimmer und sah sich die Arbeiten an. Im Obergeschoss wartend hörte ich ihn sagen:

„Opa, wo ist mein Fußballtor?“

Dazu muss der Leser wissen, dass mein Neffe ein aufklappbares Fußballtor bekommen sollte. Das wusste dieser, hat er es ja schon im Schrank meiner Eltern vorab gesehen. Mein Bruder, sich in der Küche aufhaltend, hörte dieses ebenfalls und rief außer sich:

„Wie kommt der Junge denn ins Wohnzimmer?!“

Mein Vater: „Ja, ich kann doch meine Augen nicht überall haben!“

Die Frau meines Bruders eilte ins Wohnzimmer, zerrte liebevoll den Jungen aus dem Raume und versuchte zu retten, was nicht mehr zu retten war.

„Opa hilft dem Christkind beim Aufstellen der Geschenke!“

Welchem Christkind?“, fragte mein Neffe, „Dem Münster- oder dem Greven-Christkind?!“

„Es gibt hier gleich gar kein Christkind mehr!“, mahnte dann mein Bruder, dessen Ton schon etwas aggressiver wurde.

„Könnt ihr mal alle jetzt das Wohnzimmer verlassen und etwas besinnlicher sein?!“, mischte sich nun meine Mutter ein, die dann meinen Vater fragte: „Wo kommt das hier jetzt hin? Ist das ein Geschenk für Sebastian oder Stefan [meinem Bruder]?!“

Derweil suchte ich im Obergeschoss das Geschenk, das ich meiner Mutter machen wollte. Ich hatte es im Internet bestellt und der Einfachheit halber direkt zu meinen Eltern schicken lassen, allerdings mit meinem Namen in der Adresse versehen, damit sie es eben nicht vorher öffnen. Seit dem Morgen schon war ich auf der Suche danach:

„Habt ihr da unten vielleicht Mamas Geschenk?! Ich hatte doch gesagt, nicht die Pakete öffnen, auf denen mein Name steht!“

Mein Bruder mischte sich aus der Küche rufend ein: „Das kommt davon, wenn du alles im Netz bestellst!“

„Wo ich was kaufe, spielt doch keine Rolle!“

Meine Mutter unschuldig: „Ich habe einfach alles eingepackt, was an Paketen zu uns kam.“

Mein Neffe: „Also kauft ja wirklich ihr die Geschenke! Wusste ich ja!“

„Ich habe dem Christkind lediglich finanziell unter die Arme gegriffen“, antwortete ich verzweifelt.

„Bist du nicht arbeitslos?!“, mein Neffe investigativ.

„Der Staat hatte mir finanziell unter die Arme gegriffen, damit ich meinerseits dem Christkind … ach, was weißt denn du schon?! Muss ich hier einem Sechsjährigen die Arbeitslosenversicherung erklären?!“

„Papa meinte, dass du umsonst studiert hast, weil der feine Herr Doktor keine Arbeit findet!“

„Der feine Herr Doktor?! Ich habe gar keinen Doktor! Aber schön, was dein Papa so sagt. Außerdem habe ich ja wieder Arbeit! Kann ja nicht jeder verbeamtet sein. Und für deinen Kosmos-Elektrokasten hat’s ja noch gereicht!“

„Ich kriege einen Elektrokasten von dir?!“

„Vom Christkind.“

Das Drehbuch für die Abläufe des Heiligen Abends in unserer Familie schreibe traditionell ich. Entscheidend dabei ist die Einhaltung der immer wiederkehrenden Rituale, der Traditionen eben, da Weihnachten für mich ein wichtiger Anker im mitunter stressigen Leben ist. Doch in diesem Jahr drohte mir alles zu entgleiten. Und wie jedes Jahr kam auch dieses Mal wieder von meiner Mutter der inzwischen legendäre Satz:

„Nächstes Jahr fahren wir über Weihnachten in den Urlaub. Ich mache den Stress nicht mehr mit!“

Ich intervenierte von oben: „Nix da! Das ist jetzt schön besinnlich hier!“

Mein Vater rief: „Was ist das hier für ein seltsamer Tischkalender?!“

Aha! Das Geschenk von mir für meine Mutter!

„Halt! Das brauche ich! Das muss ich noch verpacken! Das darf sie nicht sehen!“

Meine Mutter: „Was darf ich nicht sehen?!“

Mein Vater: „Diesen Kalender hier.“

Ich: „Ja lüch ich denn?! Den schenke ich ihr. Mama, du tust gleich bitte überrascht.“

Sie: „Ich kriege diesen Kalender jedes Jahr von dir, ich kann da unmöglich noch Überraschung spielen.“

„Im Ablauf steht, dass jeder wahnsinnig überrascht ist!“, erklärte ich nochmals das Drehbuch.

Ich eilte nach unten ins Wohnzimmer, riss das Überraschungsgeschenk an mich, rannte wieder hoch, um es zu verpacken und stolperte über die vorletzte Treppenstufe. Es krachte für alle hörbar im Hause.

Mein Neffe: „Was war das?!“

Mein Bruder: „Das Düsseldorf-Christkind hat sich beim Treppensteigen überschätzt.“

Meine Mitbewohnerin eilte zur Treppe, um mich auf eventuelle Vitalwerte zu überprüfen. Da ich noch lebte, konnte ich feststellen, dass ich aufs Gesicht gefallen war.

„Das ist das dritte Mal in diesem Jahr, dass ich aufs Gesicht falle.“

Meine Mitbewohnerin: „Langsam wird’s albern.“

Zeit für den nächsten Fauxpas. Mein Vater meldete sich mit einem Problem zu Wort:

„Ich finde das Glöckchen nicht.“

Ich rief auf der Treppe liegend ihm zu: „In der obersten Schublade! Wie jedes Jahr!“

Mein Neffe: „Warum sucht Opa das Glöckchen? Klingelt das Christkind nicht?!“

Mein Bruder: „Ihr seid alle so unbesinnlich. Ist es denn so schwer, einem Kind den Schein zu bewahren?!“

Meine Mitbewohnerin: „Weihnachten bei Euch ist immer so lustig.“

Ich: „Es ist nicht lustig, es ist besinnlich.“

Mein Vater fand derweil das Glöckchen, das natürlich läutete, während er es aus der Schublade nahm.

„Jaaaa! Geschenke!“, rief mein Neffe, der wie ich auf das Glöckchen-Signal konditioniert ist.

„Halt! Stopp!“, war mein Vater zu vernehmen, „Fehlalarm! Das gilt noch nicht!“

Und läutete erneut. Niemand reagierte. Er läutete abermals. Noch immer reagierte niemand. Ich hakte nach:

„Gilt das jetzt?!“

„Ja doch, es gilt!“

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