todesliste

„Also ich habe ja schon vieles erlebt!“, ist so ein Spruch, den man immer dann von sich gibt, wenn man gerade etwas erlebt, das man eben noch nicht erlebt hat. Mir lag er heute Morgen auf der Zunge, als ich etwas erlebte, das ich noch nicht erlebt hatte. Aber ich schluckte ihn herunter, da ich ehrlicherweise sagen muss, im Vergleich zu anderen 34-Jährigen weniger erlebt zu haben, womit ich aber sehr gut leben kann, wovon sich manch anderer 34-Jähriger eine Scheibe abschneiden kann, erlebte er nicht gerade so viel.

Es klingelte an der Wohnungstür. Wer das seppolog kennt, in dem er justamente liest, ahnt, dass nun jemand meine Wohnung betritt, der mit etwas Unerwartetem aufwartet. Man spricht hier von Uneraufwarten. Und es war unerwartet und damit Grund genug, hier meiner Lektorin, die diesen Text gegen 15.50 Uhr gegenlesen wird, mitzuteilen, dass ich mit voller Absicht die Geschehnisse von heute Morgen nun im historischen Präsens erläutere. Sie kennt mein Vorgehen und ich glaube, es nervt sie ein wenig.

„Es hat geklingelt!“, sagt meine Mitbewohnerin. Beide liegen wir noch im Bett, trinken Kaffee und starren auf unsere Handys. Ich lese Blogkommentare, erigiere beim Anblick meiner Abrufzahlen, während sie ein englisches Buch liest. Irgendwas mit einem kleinen Kerl, der irgendwas erlebt …

„Es klingelt immer morgens, wenn sämtliche Postunternehmen uns beliefern. Das einzige, was wir dem Wettbewerb auf dem Briefmarkt zu verdanken haben, ist der Umstand, dass es morgens nicht mehr nur einmal, sondern gleich dreimal klingelt.“

„Das ist aber schon das vierte Mal!“, protestiert meine Mitbewohnerin und gibt mir damit das Zeichen, die Tür zu öffnen, da während der zurückliegenden Nacht kein viertes Postunternehmen gegründet worden war, das jetzt schon einen Brief für uns hätte. Also quäle ich mich aus meinem Bett, öffne die Türe und dort steht und sagt:

„Guten Morgen. Verzeihen Sie die Störung. Mein Name ist Zontibur.“

Ich würde erstarren, würde ich nicht ohnehin schon bewegungslos an der Tür stehen. Den Namen „Zontibur“ habe ich schon einmal gehört. Es handelt sich um einen Mann, der viele Dinge weiß. Er war es, der einst herausfand, woher die Nazis kommen. Nazis entstehen aus menschlichem Kot heraus, das kann der freudige Leser hier nachlesen.

„Herr Flotho?“

„Ja.“

„Herr Flotho, ich habe hier eine geheime Liste für Sie. Ich soll Ihnen diese kommentarlos überreichen. Ich wünsche Ihnen, naja, alles Gute damit.“

Der Mann dreht sich um, versehentlich um 360 Grad, sodass er mich wieder ansieht, bemerkt seine Überdrehung, dreht sich abermals um 180 Grad und verlässt das Haus.

„Wer war das?“, ruft meine Mitbewohnerin.

„Äh, ein gewisser Zontibur. Er hat mir … Moment … eine Liste … was steht da drauf?! … Er hat mir eine Todesliste gegeben!“

„Eine was?“

„Hier, das gab er mir“, sage ich und zeige ihr eine Zettelsammlung, die mit „Todesliste“ überschrieben ist.

Meine Mitbewohnerin gibt sich seltsam gelassen und konkludiert (zum zweiten Mal heute): „Ah, eine Liste mit den Namen der Menschen, die 2016 noch sterben werden.“

Ich erkenne sofort, dass die Liste alphabetisch geordnet ist, suche nach den Initialen „F. P.“, finde einige und auch die gesuchte Person.

„Ha! Toll! Die wäre schon mal fällig!“, rufe ich freudig aus.

„Such mal, ob wir darauf stehen.“

Ich suche und blättere, blättere und suche und finde meine Mitbewohnerin nicht. Ich bin erleichtert.

Bis ich dann meinen Namen finde.

„Die Liste ist fehlerhaft“, sage ich und erbleiche.

„Nein“, sagt meine Mitbewohnerin, „Die ist korrekt. Hier: Der Tod höchstselbst hat sie beglaubigt.“

Sie zeigt mir Unterschrift und Stempel des Todes und ich erbleiche nun derart, dass ich als mein eigenes Negativ herumstehe.

„Du siehst lustig aus!“, kommentiert das meine Mitbewohnerin, die den Ernst der Lage offenbar noch nicht erfasst hat.

„Du hast den Ernst der Lage offenbar noch nicht erfasst!“, mahne ich, „Mein Verbleib auf Erden ist begrenzt!“

„Das war er schon immer. Und du betonst immer wieder, wie schnell es vorbei sein kann!“

„Ja, aber doch nicht so schnell!“, protestiere ich.

„Jetzt ist die Frage, was wir für die Silvesterparty noch groß einkaufen, wenn ein Gast weniger kommt“, sinniert sie unterdessen.

„Lass einfach den Wein weg“, steige ich gedankenversunken darauf ein, nur um dann aggressiv zum Telefon zu greifen, sodass es fast die Hörergabel zerreißt.

„Verbinden Sie mich mit dem Tod!“, brülle ich das Fräulein vom Amt an, das sich selbst darüber wundert, wie im Jahr 2016 noch telefoniert wird.

„Momentchen!“, sagt dieses.

„Ich habe nicht mehr viele Momentchen! Bisschen zackig, Fräulein!“

Es knarzt in der Leitung. Dann:

„Tod?“

„Ja, guten Morgen. Ich störe ungern so früh, aber ich musste gerade erfahren …“

„Mit wem spreche ich?“

„Flotho!“

„Ah, wir sehen uns heute ohnehin noch.“

Ich erlaube mir, für einen Moment bass erstaunt zu sein. Und fahre fort:

„…“

mit einem Schweigen, da im Grunde sich nur bestätigt hat, was ich bis eben noch in Zweifel zog.

„Mit anderen Worten, die Liste spricht die Wahrheit?!“, rufe ich empört.

„Die Liste?!“, fragt der Tod, offenbar basser erstaunt denn je.

„Ja.“

Der Tod legt auf, sodass es fast seine Gabel zerreißt. Draußen donnert es, das Tageslicht weicht einer tiefen Dunkelheit. Der Strom fällt aus. Es wird kalt.

 

hoerbar_haare
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Was ist geschehen?! Erfahren wir es bald in „Die Todesliste II“.