salami

Wir befassen uns nun für einige Minuten mit Frau Engländer.

„Ich heiße Engländer. Wie Großbritannien.“

Das hatte sie immer gesagt, wenn sie sich vorgestellt hatte. Womöglich hat sie durchaus geahnt, dass ihr Vergleich nicht ganz korrekt war.

„Es müsste doch heißen: ‚Engländer, wie Großbrite'“, korrigierte sie einmal ein mutiger Kunde, worauf die Bäckerin erwiderte:

„Sie können sich Ihre Salamibrötchen ab morgen woanders holen.“ Und wenn sie so etwas sagte, dann war es ihr ernst. Frau Engländer sagte nichts einfach nur so.

Frau Engländer war Bäckerin in Leipzig. Vierzig Jahre lang. Und dann wurde sie

ermordet.

In Leipzig spricht man nicht gerne über den Vorfall. Es solle nicht der Eindruck entstehen, Leipziger mordeten wegen Salamibrötchen. Aber dieser Eindruck, er wäre nicht ganz falsch. Denn genau das ist geschehen.

Wie Frau Engländer aus dem Leben schied

In jenem Viertel, in dem Frau Engländer ihre Bäckerei betrieb, war sie hochgradig angesehen, obwohl ihr Äußeres nichts Besonderes war, nicht viel hergab. Eine ältere Frau, mehr Weib als Dame, in einem weißen Kittel, der aber stets akkurat und sauber angelegt, unverbrüchlich in ihrer Treue zum Dienst am Kunden.

„Wir mochten Frau Engländer. Sie war ein bisschen die Mutter unserer Siedlung.“

Bis zu jenem Freitagmorgen. Es muss etwa acht Uhr in der Früh gewesen sein. Frau Engländer stand bereits wie jeden Tag seit vier Stunden in der Backstube, als etwa 15 junge, nach Alkohol riechende Männer den Verkaufsraum betraten. Sie waren freundlich und ganz offensichtlich sehr hungrig. So, als würden sie bei der Leipziger Messe Leipzig gearbeitet haben, wo die Versorgungssituation etwas ungünstig war. Frau Engländer musste an jenem Morgen etwa 45 Brötchen schmieren und

belegen.

„Für Frau Engländer kein Problem, … wenn genug Salami da ist.“

Eilig, aber konzentriert machte sich die Bäckerin ans Werk. Später sollte man erfahren, dass sie bereits bei dem 30. Brötchen ahnte, dass die vorrätige Salami nicht ausreichen würde. Hat sie gewusst, wozu hungrige Männer fähig sind?

Brötchen #41. Noch zwei Kunden. Der eine ist bärtig, springt im Tempus und trägt eine Wollmütze. Verquollene Augen zeugen von einer kurzen Nacht. Er bestellt:

„Äh, ich hätte gerne zwei Salamibrötchen.“

Über das „ich hätte gerne“ denkt er oft nach. Denn manch einer sagt: „Ich bekomme …“. Was durchaus höflich gemeint ist, ist nach Auffassung des Bärtigen jedoch auch Ausdruck eines Anspruchsdenkens: Woher weiß man, dass man es wirklich bekommt?! Ein „ich hätte gerne“ ist da viel ehrlicher. Denn ja, er hätte gerne zwei Salamibrötchen. Doch bekommt er sie auch?

In diesem Moment soll sich Frau Engländers Leben ändern. Es ist nur ein Satz, der ihr Schicksal besiegelt:

„Kommt so gerade hin, ich habe noch exakt zwei Scheiben Salami!“, sagt sie.

Der Bärtige ist zufrieden, doch hinter ihm steht: Kollege Butzi, der Butzenmann. Auch er liebäugelt schon den ganzen Morgen lang mit einem:

Salamibrötchen.

Der Bärtige ahnt, dass es nun an ihm ist, zu teilen, um ein Massaker zu verhindern. Also:

„Ähm, Moment. Machen wir aus dem einen Salami- ein Käsebrötchen.“

Auf diese Weise bleibt eine Scheibe Salami übrig, die den Butzenmann besänftigen kann.

Noch ist alles ruhig, die Situation keineswegs bedrohlich für Frau Engländer. Doch das ändert sich, als ein weiterer Kunde das Ladenlokal betritt:

„Ich will ein Salamibrötchen!“, ruft dieser aus, woraufhin Frau Engländer mit den eigenen Schultern zuckt: „Keine Salami mehr da!“

Der Bärtige zuckt ebenfalls, nicht aber mit Schultern, sondern zusammen und überlegt, seine letzte verbliebene Salamischeibe abzutreten, doch ist ihm Egoismus durchaus nicht fremd, sodass er schweigt. Der Neukunde akzeptiert den Salamimangel nicht:

„Bekomme ich kein Salamibrötchen, wird hier Blut fließen!“

Der Bärtige senkt seinen Blick gen Boden, will nur noch seine Brötchen greifen und die eskalierende Situation verlassen. Bloß nicht helfen, nichts sehen und abhauen, ist seine kluge Devise. Doch zur feigen Flucht ist es zu spät. Im Augenwinkel sieht er, wie Frau Engländer ein Maschinengewehr unter der Theke hervorzaubert und dem Neukunden droht:

„Verlassen Sie meinen Laden! Sofort!“

Frau Engländer, die noch nie einen Tag in ihrer Bäckerei gefehlt hat, der das Backen von Brötchen mehr als nur Einkommensquelle ist, ist bass erstaunt, als der aggressive Kunde eine Axt aus seiner Manteltasche zieht, diese kreisen lässt, dabei den Bart des Bärtigen um einige Millimeter kürzt, woraufhin dieser an seine Mitbewohnerin denken muss, der diese Zwangskürzung durchaus gefallen würde, um dann Frau Engländer

den Kopf abzuschlagen.

Mit einem dumpfen Knall fällt der Kopf zu Boden, Blut verteilt sich über die Teigwarenauslage der Bäckerin, die nur noch einen Tag vor ihrer Rente stand, die Schokoladen-Teilchen verwandeln sich zu scheinbaren Erdbeerkuchen, während Frau Engländers Körper zusammensackt. Und wie von Zauberhand bleibt für wenige Sekunden eine von Mehl in den Raum gezeichnete Silhouette der stolzen Bäckerin zurück.

Ihr Mörder greift sich die Salamibrötchen und sagt einen folgenschweren Satz bei seiner Flucht aus der Bäckerei:

„Sie gab mir einst die Brust!“

Zurück bleiben der Bärtige und der Butzenmann.

„Jetzt haben wir keine Salamibrötchen. Mir reicht’s. Ich muss nicht frühstücken! Wenn das so läuft, fahr ich ab sofort morgens in den ‚Globus‘!“, schimpft der Butzenmann.

„Butzi, was für ein Debakel! Wenn jetzt jemand reinkommt, wirft das ein ungünstiges Licht auf uns“, spricht der Bärtige.

„Ich wollte nur Salamibrötchen.“

Und es geschieht das Unfassliche: Der leblose Körper der Bäckerin, jener Corpus abzüglich Kopf, erhebt sich, greift zum Messer und schmiert ein Brötchen mit der letzten, noch nicht verwendeten Salamischeibe. Eine kalte Hand übergibt das daraus entstandene Salamibrötchen dem Butzenmann, der es zu goutieren weiß:

„Geht doch.“

Der Bärtige fasst das Schauspiel nicht: „Wie ist das möglich?!“

„Das ist durchaus möglich: Der Neukunde hat sich ja das für dich belegte Brötchen geschnappt. Und wenn der Leser richtig gelesen hat, weiß er, dass da ja noch eine Scheibe lag!“

„Nein, das meine ich nicht. Aber nett, dass du es dem Leser erklärst. Ich meine die Tatsache, dass der tote Körper ohne Kopf … also, das muss dir doch auch aufgefallen sein!“

„Mir ist vor allem aufgefallen, dass der Täter sich verraten hat!“, sagt der Butzenmann.

„Ach?“, ratlos der Bärtige.

„‚Sie gab mir einst die Brust!‘ rief der Typ beim Rausgehen! Es war ihr Sohn!“

„Den sie vorher gesiezt hat?!“

„Ihr verlorener Sohn!“

Und ja, schon seit Jahren wurde im Umfeld der Bäckerei getuschelt. Hatte Frau Engländer nicht vor vielen Jahren einen Sohn geboren, der nie wieder gesehen ward?


Es bleiben Fragen offen. Und das meine ich genau so: Sie werden offen bleiben, offen geblieben sein. Für jeden offen: meine Facebook-Seite.