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Nach 35 Lebensjahren, die meinem Konto bislang gutgeschrieben worden sind, ist es Zeit für eine Prüfung. Schon als ich zwölf war, hatte ich Pavel vorgewarnt:

„Das ist alles prüfungsrelevant. Ich würde mich an deiner Stelle auf alles vorbereiten.“

Pavel ist so etwas wie der beste Kumpel, in diesem Fall von mir, drei Tage älter als ich und besuchte schon mit mir den Kindergarten, wobei er in der „Grünen Gruppe“ war, ich in der Elitegruppe, der „Gelben“. Die Tür zu unserem Raum war damals also gelb, nebenan waren die Kinder hinter einer grünen Tür eingeschlossen. Unsere Wege kreuzten sich das erste Mal im Kindergartengarten, als wir uns um einen dieser Plastik-LKW gestritten habe, auf die man sich hinten aufstützen konnte, um sie dann mit einem Kinderlachen irgendwohin zu schieben. Wie albern frei von Sinn. Ich wusste es damals nicht besser.

„Was für eine scheiß Prüfung?!“, fragt Pavel mich bass-passiv aggressiv, also gewissermaßen bassiv-aggressiv, also letztlich bassgressiv oder bassiv.

Pavel übrigens hat viele Parallelen zu mir. Oder umgekehrt. Uns einen das gleiche Humorverständnis, dieselbe Herangehensweise an die Dinge des Lebens (abwarten, totschweigen, ignorieren, Panik bekommen, Schnellschüsse abliefern, bereuen, beim nächsten Mal besser machen, aber dann doch wieder abwarten, totschweigen, ignorieren, Panik bekommen, Schnellschüsse abliefern, bereuen), allerdings ist er leider das geworden, was man populärwissenschaftlich „Messie“ nennt. Und es ist nicht zum Lachen. Denn in der Tat versinkt Pavel in gammelndem Müll, wessenthalben ich schon Jahre nicht mehr sein Gast war. Und ich darf vielleicht sagen, dass er mich hasst. Weil ich, was Ordnung angeht, unerträglich penibel bin, da ich sonst nicht schlafen kann.

Messie hin, Messie her, Seppo sein dagegen sehr, es bewahrt ihn jedoch vor dieser Prüfung nicht. Und ich bin befugt, diese Dinge hier auch offen anzusprechen.

„Pavel, ich prüfe dich auf mein Leben. Ob du halt aufgepasst hast. Alles ab ‚Grüner Gruppe‘ kann drankommen!“

„Schriftlich?“

„Nein, das wird eine mündliche Prüfung. Wird drei Stunden dauern. Alle Epochen meines Lebens.“

„Seppo, du unterteilst dein Leben in Epochen?!“

„Ja. Macht das nicht jeder?!“

„Nein, also in Abschnitte vielleicht. Aber ‚Epochen‘?! Geht’s bei dir nicht mal ’ne Nummer kleiner?!“

„Wenn ich mal auf dem Sterbebett liege, will ich auf Epochen zurückblicken, nicht auf Abschnitte. Mach dich nie kleiner, als du bist!“, rate ich meinem hinter mir sitzenden Gegenüber.

„Ich als dein Gegenhinter darf dir sagen, dass du dich etwas überhöhst.“

„Ja, wenn’s andere nicht tun, mache ich es selbst. Auch eine Form der Selbstbefriedigung.“

„Wird es Schulnoten geben?“, will mein Lebensbegleiter wissen.

„Ja, eine. Alles schlechter als vier ist nicht bestanden.“

„Und dann?“

„Dann musst du mein Leben verlassen und ein anderes studieren.“

Pavel verdreht seine Augen und wendet sich seinem Opiumkocher zu.

„Wann gelingt dir der Durchbruch?“, will ich von ihm wissen. Schon seit Monaten verfolge ich mit Spannung, wie Pavel versucht, mittels einer selbst gebastelten Apparatur aus handelsüblichem Klatschmohn Opium zu gewinnen. Ich lüge nicht, wenn ich sage, dass er mehrere Plastiktüten voll mit Mohn unter seinem Bett lagert. Er schimmelt teilweise und greift bereits den Laminatboden an.

„Ich bin nun auf Schlafmohn umgestiegen.“

„Wirst du es selbst konsumieren?“

„Ja. Muss ja. Oder willst du es für mich testen?!“

Ich lehne energisch ab, da ich Angst vor Drogen habe, was aber nicht für Alkohol gilt: „Wenn in der Prüfung gefragt würde, ob ich jemals harte Drogen nehmen würde, was würdest du dann antworten?“

„Vermutlich ’nein‘.“

„Sieht gar nicht so schlecht für dich aus. Das wäre die korrekte Antwort. Aber die Frage kommt nicht dran. Zu einfach.“

„Spießer.“

„Warum Spießer?! Weil ich keine Drogen nehme? Weil ich nicht seit Monaten meine eigene Opium-Raffinerie baue?“

Pavel legt hörbar auf, sodass ich erst jetzt bemerke, dass es sich um ein Telefonat gehandelt hat, was Fragen aufwirft. Prüfungsfragen?

  1. Wie konnte Seppo erkennen, dass Pavel seine Augen verdreht? (3 Punkte)
  2. Wie konnte Seppo den Opiumkocher erkennen? (2 Punkte)
  3. Wie konnte Pavel Seppos Gegenhinter sein? (34 Punkte)

 

Wir alle kennen Prüfungssituationen. Mir bleibt in schlechter Erinnerung die eine oder andere Matheklausur zu Schulzeiten, wenn bereits Aufgabe eins ein Problem darstellte.

Hm, gehe ich mal weiter zu Aufgabe zwei. Mache ich die erste halt am Ende.

Und auch Aufgabe zwei entpuppt sich als zumindest in der Aufgabenstellung schwiiierig, da mir nicht ganz klar ist, was überhaupt von mir gewollt ist. Im Grunde nicht meine Schuld. Schlecht gefragt, aber dennoch:

Aufgabe drei ist vielleicht schnell gemacht. Dann mache ich die anderen danach, dann hab ich schon mal was weggearbeitet.

Aufgabe drei ist praktisch unlösbar. Klar weiß ich, was gewollt ist, aber der Lösungsweg ist unergründbar. Die Panik, die sich bislang nur angedeutet hatte, bricht sich nun Bahn. Leichter Schweißausbruch. Im tiefsten Winter. Hektische Blicke auf die Uhr. Schon zehn Minuten vergangen und noch keinen Federstrich getan. Wird eng. Aber machbar. Nur diese Panik!

Beruich dich, Seppo. Jetzt nicht panisch werden. Alles noch machbar. Aufgabe vier ist simpel. Schnell gemacht. … Hm, mal nachfragen, ob es noch für ’ne Vier minus reicht, wenn man nur Aufgabe vier hat … Vielleicht reicht ja der korrekte Lösungsweg bei falschem Ergebnis aus …

Darum hatte ich in Mathe (bei Herrn Hoogland, ich hasse Sie) immer eine Fünf. Ich war ein mäßig guter Schüler, an der Uni dann wurde ich zum Genie. Auch wenn’s um Mathe ging. (Es muss also an Herrn Hoogland gelegen haben.)

 

Ich mache mich derweil an die Ausarbeitung des Prüfungsbogens für Pavel, da mein Eindruck ist, ihm gefalle die Idee mit der Prüfung. Denn die Frage, die ich mir stelle, liegt ja klar auf der Hand: Trägt Pavel zurecht den Titel „Seppos bester Kumpel“? Habe ich Angst vor der Antwort? Nein. Es sei denn, sie lautet „nein“. Dann wird mir angst und bange. Ich ohne besten Freund durchs Leben schreiten?

Meine Mitbewohnerin kommt in diesem Moment durchs Fenster herein. Ich begrüße sie:

„Tür hätte es nicht getan?! Du übertreibst es mit dem Sport. … Hier, lies mal. Ich prüfe Pavel demnächst.“

„Was ist Inhalt der Prüfung?“

„Ich.“

„War klar. Was auch sonst. Ich gehe duschen.“

„Oha! Soll ich mitkommen?“, frage ich, setze ein verführerisches Zwinkern auf und schlucke ein „knickknack“ runter.

„Nein.“

„… nicht …“

 

Nach der Uni habe ich mir geschworen, auf weitere Bildung zu verzichten. 13 Jahre Schule und fünf Jahre Uni waren mir genug. Lernen ist das eine, dass dann aber jemand meint, nachprüfen zu müssen, ob ich wirklich gelernt hatte, empfand ich jedes mal als schmerzenden Eingriff in meine Seele und in meine Privatsphäre. 18 Jahre des Aufsaugens von Wissen müssen reichen, um, sagen wir mal, mit dem Angesammelten 96 Jahre alt zu werden, was mein Ziel ist. Nein, eigentlich ist mein Ziel, etwa 104 zu werden. Es wäre albern, trotz meines Ausdauer- und Kraftsportes doch nur 96 zu werden. 96 klingt viel, aber ich kalkuliere für meine Generation eine optimistische Lebenserwartung ein. Das ist natürlich eine Wette auf das Schicksal, das man nicht in seiner Hand hat; vielleicht geht es noch heute zuende, dann wirken die 96 natürlich etwas hoch gegriffen, glatt um 60 Jahre verfehlt, was albern wäre, da diese Zeylen praktisch unlöschbar im Netz stehen werden.

Pavel wird geprüft. Und das wird hier Gegenstand des seppologs sein. Nur dafür mache ich das natürlich. Ich darf meine Lektorin zitieren, die das wie nannte?

„Sehr Clever.“


Und hier geht es bereits zur ersten Prüfungsfrage!

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