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Aus irgendeinem verschollenen Grund habe ich als Zweitklässler einmal wegen einer Scheibe Salami bei unserem Hausmeister klingeln müssen. Ich besuchte die Marienschule Münster-Hiltrup, auf deren Gelände der Hausmeister inklusive Hausmeisterfrau sein Haus bewohnte. Als Frau eines Hausmeisters wird man wohl damit leben müssen, dass man stets nur die Hausmeisterfrau ist.

Unser Hausmeister hieß Herr Winterkamp. Ich glaube, er war damals schon alt, auch wenn auf Siebenjährige Erwachsene grundsätzlich erst einmal sehr, sehr alt wirken müssen. Für meinen geschätzten Neffen beispielsweise bin ich ein alter Mann, auch wenn ich jedes neue Lebensjahr als einen Lebenshöhepunkt empfinde. Doch Herr Winterkamp war damals wirklich so alt, dass ich davon ausgehen darf, dass er diese Zeilen nicht mehr wird lesen können. Möge seine Seele in Frieden ruhen. Er war ein strenger Hausmeister der alten Hausmeisterschule, vor dem man noch massiven Respekt hatte. Weil er ja auch so alt war.

Zu jenen Zeiten wurde Pavel mein bester Kumpel. Dieser Zustand sollte viele Jahre anhalten, bis das Schicksal diese Freundschaft vor ziemlich genau zehn Jahren brüsk beendete, was ich nach wie vor sehr bedaure. Wir waren nicht die Art Freunde, die sich alles erzählt haben, was ich gegenüber Männern ohnehin nicht tue, eher gegenüber Frauen, womit ich aus guten Gründen allerdings sparsam umgehe; aber wir verbrachten viel Zeit miteinander, was in eine Zweier-WG während des Studiums mündete. Pavel war ein Vertreter großartigen Humors, den ich so bei niemandem mehr wiedergefunden habe, seit unsere Freundschaft zerbrochen und ersatzlos gestrichen worden ist.

Im seppolog lebt er weiter.

Denn mein Leben ist prüfungsrelevant. Für Pavel. Und ich frage ihn ab, wie hier in Teil eins und zwei bereits geschehen und erklärt.

Pavel sitzt in meiner Küche und trinkt sein viertes Hansa. Ihm sieht man etwaigen Alkoholkonsum umgehend an. Die Augenlider hängen ein bisschen, was nur Vertrauten auffällt, da Pavel ungewöhnlich große Augen hat, womit er schon immer bei Frauen punkten konnte, während ich immer der Deppenfreund war, der nie eine abgekriegt hatte, sobald Pavel zugegen war. Und eben weil so viel Auge da, fällt kaum auf, dass die Hälfte bereits lidverhangen ist.

Alkoholbedingt macht Pavel die Prüfung inzwischen Spaß und mit der dritten Prüfungsfrage wecke ich alte Erinnerungen:

„Pavel, bereisen wir nun unsere gemeinsame Zeit während der Grundschule, die den Auftakt für 13 gemeinsame Schuljahre gab. Erinnerst du dich noch an unseren Hausmeister?“

„Herr Winterkamp! Haha! Natürlich! Der war alt, oder? Dürfte tot sein.“

„Ja, es ist etwa 30 Jahre her. Vermutlich tot. Wobei, wenn er damals maximal 65 war, dann könnte er noch leben! Wenn wir doch seinen Vornamen wüssten! Als Kind dachte ich lange, er hieße ‚Herr‘ Winterkamp. Ich war kein kluges Kind.“

In der Tat, ich muss die Eingangszeilen also relativieren. Der große Winterkamp lebt vielleicht noch! Und falls ja, hat er es nicht uns zu verdanken. Was aber hätte sein können, denn:

„Pavel, erinnerst du dich noch daran, was wir mit Herrn Winterkamp vorhatten?“

„Du meinst die Nummer mit dem Einmachglas?“

Exakt die meine ich, denn wir waren derartige Winterkamp-Fans, dass wir kurz vorm Wechsel aufs Gymnasium – wir sind beide Bildungsbürger – Herrn Winterkamp entweder einmachen wollten oder, auch eine Möglichkeit, einfrieren und konservieren. Dazu muss man nun wissen, dass wir sehr praktische Bildungsbürger waren, gewissermaßen Nachwuchsforscher, was mir aber auch gerne mal abgesprochen wird. Da war beispielsweise die Episode im Garten Pavels Eltern.

Übrigens mochte mich Pavels Mutter überhaupt nicht. Ich weiß nicht, ob sie glaubte, ich hätte einen schlechten Einfluss auf ihren Sohn, aber sie ließ mich deutlich spüren, dass ich eigentlich kein gern gesehener Gast im Hause der ukrainischen Familie war, worüber ich mich aber hinwegsetzte. Und die Idee mit dem Loch im Garten, die kam von Pavel, nicht von mir. Denn wir waren damals davon überzeugt, dass sich zirka 30 Meter unter unserer Wohnsiedlung die Überreste von Fundamenten einer mittelalterlichen Siedlung finden lassen müssten, worauf uns ein „Was ist was“-Buch gebracht hatte. Also gruben wir, da wir uns ernsthaft in der Lage sahen, etwa 30 Meter in die Tiefe vorzudringen. Ich darf vorwegnehmen, dass wir nicht tiefer als vielleicht 50 Zentimeter gekommen waren und keinerlei Überreste einer vergangenen Zivilisation gefunden hatten. Außerdem drängte sich ein weitaus praxisnäheres Forschungsprojekt auf, das ich heute „die brennende Klorolle“ nennen würde. In dem Punkt kann ich die Ablehnung verstehen, die Pavels Mutter mir entgegenbrachte, da wir fast ihr Haus in Brand gesteckt hatten. Die ursprüngliche Idee sah das gar nicht vor:

Befestigt man eine Klopapierrolle an einem Stock, kann man diese hervorragend als Fackel benutzen, da Klorollen sehr lange brennen, was womöglich mit der Aufeinanderschichtung des Papiers zu tun hat. Von Folgendem muss ich abraten, sollten Kinder mitlesen: Unter gar keinen Umständen sollte die Klofackel geschwungen werden, wenn die Papierrolle nicht ausreichend am Stock befestigt ist. In unserem Falle war sie es nicht, sodass ich sie versehentlich direkt in das Wohnzimmer Pavels Eltern katapultierte, wo das Sofa – ich lüge nicht – Feuer fing. An dem Punkt war Pavel und mir klar, dass der Spaß ein Ende genommen hatte, zumal Pavels Mutter auf dem Sofa saß. So schnell hatte sich selten zuvor ein Mensch von einem Sofa erhoben.

Der Plan, Herrn Winterkamp einzumachen oder einzufrieren, um ihn zu konservieren, blieb dagegen reine Theorie.

„Wir wollten doch damals einen Winterkamp-Handel eröffnen“, beantwortet Pavel meine Prüfungsfrage weiter, „mit ganz vielen kleinen Winterkamps in Einmachgläsern.“

„Groteske Vorstellung. Damals war Klonschaf Dolly noch Zukunftsmusik, während wir schon Winterkamps klonen und einmachen wollten. Wir waren unserer Zeit voraus.“

Und Pavel, der mich überhaupt erst auf die Idee gebracht hatte, Jules Verne zu lesen:

„Wir waren wie Jules Verne. Wir haben uns Dinge erdacht, die später einmal durch den Fortschritt in der Wissenschaft möglich geworden sind!“

Unrecht hat er ja nicht, denn Klonen wird sehr bald möglich sein und das Einmachen von Menschen dürfte auch nicht mehr vor unumstößlichen Hürden stehen. Doch die Folgen für den Hausmeistersektor wären dramatisch; ein struktureller Wandel dort müsste von der Politik abfedernd gemeistert werden, da Tausende von Hausmeistern in Deutschland ihren Job verlüren, sobald die eingemachten Winterkamps marktreif und erschwinglich wären.

„Ich könnte mir vorstellen, dass man sich kleine Winterkamps auch für den Hausgebrauch anschafft“, spinnt Pavel die geniale Idee weiter.

„Geht ein bisschen in Richtung Sklaverei, aber er war ja Hausmeister aus Leidenschaft, glaube ich. Und wenn ein Winterkamp kaputt ist, hat man im Keller noch ein paar Gläser stehen. Auch ein schönes Weihnachtsgeschenk.“

„Warum haben wir diese Idee damals nicht weiter verfolgt?“

„Weil die Wissenschaft noch nicht so weit war.“


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