zahn

Ich nehme etwas an. Kein Paket allerdings. Das erst morgen. Ich erwarte die Lieferung des güldenen Handys. Das ist das Resultat eines Bestell-Fauxpas‘, von dem ich bislang nicht einmal meiner Mitbewohnerin berichtet habe. Ich will sie überraschen, wenn ich pornös mit einem goldenen Handy vor ihr stehe und sage:

„Ruf mich mal an! Ruf mich auf meinem Handy an!“

Nein, heute nehme ich kein Paket an. Sondern ich nehme an, dass es sich bei dem faserigen Teil zwischen meinen Zähnen um ein Stück des Schnitzels handelt, dass ich vor etwa fünf Stunden umrandet von zwei Brötchenhälften gegessen habe.

Es steckt genau da, wo immer Essensreste verweilen: zwischen einem Originalzahn und meinem Zahnimplantat, wo offenbar ein tückischer Zwischenraum geblieben ist, der Nahrungsteile geradezu einlädt, dort zu verharren.

Das hat leider zur Folge, dass ich seit fünf Stunden mich mit meiner Zunge an diesem Stück Schnitzel abarbeite. Vielleicht kennen Sie dieses Erfolgserlebnis, wenn Sie nach Stunden der Vorarbeit das fehlamplatze Teil plötzlich befreien und schluckend entfernen können! Ich empfinde das als ein derartiges Hochgefühl, dass ich darauf verzichte, einen Zahnstocher oder meine ungewachste Zahnseide zu bemühen. Das ist wie cheaten bei einem Videospiel.

Mit meinem Finger kann ich jetzt unmöglich in meinen Mund einfahren, da es jeder sehen würde. Mein Englischlehrer aus der sechsten Klasse, Herr Niehoff (der sich gerne über mein westfälisches Gurgel-R belustigt hatte (1), was ein Trauma bei mir zur Folge hatte (2)), hatte (3) da weniger Schamgefühl. Er steckte seinen kleinen Finger gerne vor der Klasse in den Mund, hielt sich währenddessen aber immerhin die andere Hand vor denselben, sodass der eigentlich unappetitliche Vorgang irgendwie sehr kniggegerecht wirkte.

Vor vielen Jahren habe ich mir mal mittels Zahnseide außerplanmäßig eine Krone dem Mund entnommen. Seitdem glaube ich keinem Zahnarzt mehr, dass Kronen bombenfest sitzen. Nach dem Entfernen jener Krone war zu allem Überfluss eine Wurzelbehandlung nötig. Infolge dieser bekam ich zum einen eine neue Krone und zum anderen eine chronische Wurzelentzündung. Das darf eigentlich gar nicht passieren, da da an sich gar keine Wurzel mehr hätte sein dürfen. War sie aber. Die Zahnärztin hatte ein Stück vergessen. Das entzündete sich, was ich alle paar Wochen deutlich zu spüren bekam, aber ignoriert habe. Denn was zwei Jahre lang gut geht, geht auch drei Jahre lang gut.

Dann traf ich auf eine Freundin, die so etwas wie Zahnfachfrau war. Sie hob den Zeigefinger, als ich ihr von meiner chronischen Entzündung erzählte.

„Das kann zum Tode führen!“, klärte sie mich auf.

Ich komme darauf, weil vergangene Woche in der Rubrik „Stimmt’s?“ der „Zeit“ die Leserfrage „Kann eine Wurzelentzündung zum Tod führen?“ behandelt worden war. Ja, sie kann. In einem nicht sehr wahrscheinlichen Fall kann der Entzündungsherd sich ausbreiten und unfreundliche Bakterien über die Blutbahn ins Herz gelangen. Tod. Tot tot tot. Der tote Tod. Ah, das lass ich mir schützen, wird zum Artikel gemacht!

Demnächst im seppolog: „Der tote Tod“

Umgehend ging ich damals zum Zahnarzt, der mir noch umgehender mitteilte:

„Herr Flotho, das muss alles weg. Auch der Restzahn.“

„Dann machen sie es weg!“

„Wir haben dann nur ein Problem: Ohne Restzahn keine neue Krone. Wir haben da zwei Möglichkeiten. Eine Brücke oder ein Implantat.“

Nun verhält es sich so, dass man für eine Brücke die umliegenden Zähne beschädigen muss. Das spricht sehr gegen dieses Verfahren. Für dieses Vorgehen hingegen spricht, dass es unendlich preiswerter ist als ein Implantat.

Wie der regelmäßige Leser weiß, bin ich aufgrund eines Lottogewinns unfassbar reich. Und da ich nichts spende und alles in Dekadenz anlege, blieb mir damals genug Geld für ein Implantat. Und damals hätte ich eines nie erwartet:

dass sich an diesem Implantat mal ein Stück Schnitzel verfängt.

Es ist nach wie vor da. Es fängt an zu nerven. Meine Finger zucken. Ich wage es kurz mal, es guckt gerade niemand. Das muss da raus. Sah mich eben in einem so genannten Rückbildmonitor, wie ich mit der Zunge da rumfummelte. Mit der Zunge fummeln kann seinen Reiz haben, in diesem Fall allerdings verursacht es nur Abscheu beim Zuseher.

Jetzt guckt doch einer! Guck hier nicht so hin! Ich muss gleich auf die Toilette verschwinden, um mich dort des Ganzen zu entledigen.

Komme gerade von der Toilette, also aus dem Raum, wo sie steht. Konnte dort nichts ausrichten. Kaum stand ich vorm Spiegel, kam ein Kollege dazu.

„Ach, Seppo. Willst du dir deinen Bart kämmen?“

Ich war überrumpelt: „Äh, ja. Voller Krümel. Hatte ein Schnitzelbrötchen …“

Und zog meinen Klappkamm aus meiner Podextasche (der schon einmal für ein Klappmesser gehalten wurde) und bewegte ihn alibimäßig durch den Bart.

Zusammen verließen wir den die Toilette beinhaltenden Raum, ich mit der Zunge am Zahnzwischenraum.

Wann zur Hölle lösen sich die Schnitzelmoleküle kraft der in meinem Speichel befindlichen Aminosäuren einfach von alleine auf?! Das ist doch das tolle am Speichel. Er ist im Grunde brandaggressiv!

Ich setze mich wieder. Es gibt eine simple Lösung für dieses Problem. So könnte ich vorgehen:

Ich erhebe mich vom Platz und verkünde den Kollegen: „Freunde, ich greife mir mal kurz in den Mund, mir steckt da was zwischen den Zähnen!“ Dann greife ich mir schamlos in den Mund – und niemand wird es seltsam finden.

Weil natürlich ein jeder schon einmal fingernd in seinem Mund unterwegs war und insbesondere die Vorankündigung meyner Handlung gibt ihr die Schamlosigkeit, also nimmt ihr die Schamhaftigkeit.

Und daraus kann man seine Schlüsse ziehen. Eine Peinlichkeit, nahezu jedweder Gattung, lässt sich spurlos entschärfen, indem man selbst als derjenige, dem sie unterlaufen ist, sie offen anspricht und sich darüber autobelustigt. Denn dann ist es ausgesprochen, dann kann sich kein anderer mehr darüber lustig machen.

Einen schlechten Witz kann man beispielsweise dadurch neutralisieren, dass man eine Salve weiterer Scherze hinterherfeuert in der Hoffnung, dass ein guter dabei ist, der den miesen vergessen macht. Ich spreche da aus absoluter Erfahrung. Die Nummer funktioniert. Ich suhle mich nahezu in peinlichem Schweigen. Entscheidend ist, wie souverän man es meistert. Außerdem stumpft man ab. Die Kunst ist es, das peinliche Schweigen gegen das Publikum zu verwenden, sodass es selbst am Ende schlecht dasteht!

Episeppolog

Zwei Überraschungen versüßen mir den Tag. Der Essensrest hat sich gerade bei einer Art Spaziergang gelöst! Zweite Überraschung: Es war kein Schnitzelrest, es war ein Stück vom Salatblatt, das das Brötchen zierte. Nicht, dass ich es mir ansah, aber die Konsistenz ließ darauf schließen.


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