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„Versessen“ kann vieles heißen. Beispielsweise wollte ich mich am 14. Januar 2013 an den Küchentisch setzen und wunderte mich dann darüber, dass vor mir der Fernseher stand. Ich hatte mich versehentlich ins Wohnzimmer gesetzt, mich also versessen.

Nun wird der belesene Leser einwenden, dass man dann eher von „versitzen“ sprechen müsste. Doch hier belehrt uns der Duden eines Besseren, denn „versitzen“ meint „irgendwo nutzlos herumsitzen“ oder „Kleidungsstücke sitzend verknittern“. Das war mir übrigens neu. Hosen sind in aller Regel also versitzt, aber mit Hemden geht es wohl auch. Ich versitze sehr gerne Sakkos beim Autofahren, da ich stets zu faul bin, sie auszuziehen, bevor ich einsteige.

Zurück zu „versessen“, sonst wird noch jemand unruhig. Meine Mitbewohnerin und ich haben kürzlich festgestellt, gar realisiert, dass wir zu etwas geworden sind, was zumindest ich eigentlich rundheraus ablehnen müsste: zu einem sportversessenen Pärchen. Und es ist ja auch unerträglich, diese Vorstellung eines Pärchens, das am Wochenende zusammen Sport treibt und dabei immer lacht. Ich sehe uns gerade auf dem Titelbild einer Sportpostille, sagen wir in „Fit For Fun“: In modischer Sportklamotte durch einen Wald laufend und dabei in die Kamera lächelnd; darunter die Titelzeile „So viel Spaß macht Sport zu zweit!“ oder „So halten Sie Ihre Beziehung auf Trab!“ Unerträglich, diese verqueren Idealbilder von irgendwas. Über so etwas könnte ich mich stundenlang trefflich beömmeln und vor allem wuterregen. Man möchte reinschlagen.

Doch im Laufe der Jahre sind wir zu genau diesem Bild geworden. Und ich glaube, es gibt Pärchen in unserem Umfeld, die uns dafür hassen. Wir kennen nicht so viele Pärchen, weil ich es hasse, Pärchen zu mögen. Treffen wir sympathische Pärchen, versuchen wir vor einer weiteren Annäherung, dieses auseinanderzubringen, um uns dann mit den Einzelteilen anzufreunden.

Inzwischen ist der Sport auch zu einem großen Gesprächsthema zwischen uns geworden.

„Guck mal, ist das ein Trizeps?“, fragte ich sie vor einiger Cait.

„Ja! Tatsache! Du hast einen Trizeps!“

„Krass. Und was habe ich hier?“

„Das ist ’ne Fettfalte.“

Die sie wiederum nicht hat. Jahrelanger Kampfsport – Kickboxen und Selbstverteidigung – hat sie sehr verändert; bei ihr sitzt alles da, wo es sich ganz gut macht. Da kann sie stolz drauf sein und ich bin es auf sie.

Eine Freundin spekulierte mal darüber, ob ich mich dadurch unter Druck gesetzt fühle. Dadurch, dass meine Mitbewohnerin mehrfach die Woche abends zum Sport geht. Ich hatte bis da gar nicht darüber nachgedacht und empfinde es nach wie vor nicht so, zumal das Laufen schon immer mein Ding war, bevor ich dann den Kraftsport für mich entdeckte. Ohne den würde sie mich allerdings wirklich auf dem nahen Trimmdichpfad gnadenlos abhängen, ohne ihn freilich würde ich da aber auch gar nicht mitgehen.

Es hat sich der Sport für mich in den letzten Monaten eine Priorität in meinem Alltag erarbeitet, die ich vor einigen Jahren für nicht möglich gehalten hätte. Ein Gespräch mit meinem 17-jährigen Ego hat dieses ans Tageslicht gebracht:

Seppo17: „Ich überlege gerade, wie ich heute Sport blaumachen kann. Schreibst du mir eine Entschuldigung?“

Seppo36: „Was soll ich reinschreiben? Das Übliche? ‚Wegen eines Trauerfalls in meiner Familie …‘? Oma kann nur ein Mal beerdigt werden! Das fällt irgendwann auf!“

Es ist wirklich unglaublich, wie oft ich meine Oma zu Schulzeiten unter die Erde gebracht habe, um mich vor dem Sportunterricht zu drücken! Es gipfelte, als meine Oma mir diese Entschuldigung schrieb …

Seppo36: „Was spricht denn gegen 90 Minuten Sport?!“

Seppo17: „Ich kann nix. Wird eh nur Basketball gespielt. Ich meine, wie kannst du vergessen haben, dass der Korb schon lange hinter dir war, wenn du den Ball geworfen hast?!“

Seppo36: „Ach ja! Hahahaha. Jetzt kann ich drüber lachen. Welche Note bekam ich?“

Seppo17: „Ungenügend. Die einzige Sport-Sechs im ganzen Jahrgang!“

Seppo36: „Siehst du, darüber muss man doch lachen! Sowas bleibt hängen! Ich kann dich trösten, in der 13 bekommst du eine Zwei plus im Sport, weil der Lehrer dich verwechselt hat!“

Seppo17: „Und du machst jetzt viel Sport?! Wie ist das möglich?!“

Seppo36: „Ich habe festgestellt, dass es Sportarten ohne die Beteiligung von Bällen und vor allem ohne die anderer Menschen gibt! Genau die liegen mir! Und sieh dich doch mal an, du bist eine schwächliche Wurst! Wird Zeit, ein Mann zu werden!“

Seppo17: „Wie geht’s Oma?“

Seppo36: „Naja, inzwischen ist sie wirklich …“

Der Sportwahn greift derweil auch auf unsere Ernährung über. Dieses mein Alter habe ich ohne Erkrankungen (toi, toi, toi) dadurch erreicht, dass ich esse, was mir schmeckt. Fernab jeder Ideologie. Und wider besseres Wissen. Geflügel mit Antibiotika? Ja, was soll’s. Gespritztes Gemüse? Ja, natürlich! Wobei, Gemüse?! Tiefkühlprodukte? Tüllich! McDonald’s? Ja, aber auf jeden Fall! Und das lasse ich mir auch künftig nicht nehmen. Dennoch ergänze ich meine einseitige Ernährung nun durch eine zweite Seite. Sie ist nun sehr proteinhaltig und ich stelle fest, dass mein Stoffwechsel, sagen wir mal, durchaus reagiert. Sehr lebhaft. Ich möchte fast von Kapriolen sprechen. Das ist nicht uninteressant, ich sehe mir mal an, in welche Richtung sich das noch entwickelt.

Zum Beispiel in die, dass ich mir nun ein Buch gekauft habe, das da heißt „130 Sportler-Rezepte“. Nein, es heißt „Fit auf Rezept“. Wahnsinnsname! Genial, Herr Meier, oder? „Fit auf Rezept!“, ich schmeiß mich weg! Wie das so ist bei diesen Gerichten, durch die man kein Gramm zunimmt: Sie sehen auch genau so aus. Und allen gemein ist, dass sie supi schnell zuzubereiten sind. Keines dauert länger als 20 Minuten!

In der Praxis jedoch kann es schon mal ein Stündchen dauern, weil ich zum einen noch immer nicht weiß, wie viel eigentlich eine Prise ist, und nachschlagen muss, was „verquirlen“ wirklich heißt. Und noch immer bin ich unfähig, ein Ei so in die Pfanne zu schlagen, dass nicht die Schale in und der Dotter neben der Pfanne landet. Ich habe aber bereits für mich akzeptiert, dass mir das nie gelingen wird. Ich esse daher Spiegelei stets direkt vom Ceranfeld.

Nun werden meine Mitbewohnerin und ich also am kommenden Wochenende zusammen einige dieser Rezepte ausprobieren. Mengenangaben werde ich direkt vervierfachen, da ich Gerichte ablehne, die nicht die komplette Fläche eines Tellers ausnutzen. Loriot nannte es „übersichtlich“, wofür manch einer viel Geld zahlt.

Vermutlich werden wir dann dasitzen, gemeinsam essen und etwas tun, was ich wirklich absolut hasse: Während des Speisens über die Speisen reden. Einige nennen das Esskultur, ich nenne es Geschwafel, bin ja schließlich zum Essen da und möchte währenddessen nicht die Herkunft der Zutaten diskutieren

„Wir essen ja nur Fleisch aus der Region!“

oder darüber, dass abgepacktes Fleisch ja ein absolutes No-Go sei, wobei ich ohnehin nie „No-Go“ sagen würde, weil es für mich ein „No-Go“ ist. Natürlich geht abgepacktes Fleisch, man muss es halt vorher auspacken. Dieses Psdeudogedöns, ich breche.

Mal sehen, ob sich mein Leben gerade dauerhaft wandelt oder ob es als eine von vielen Episoden in meine Biographie eingehen wird. Wie damals, als ich mich für das Abholzen des Regenwaldes eingesetzt habe. Oder als ich die Doktorarbeit von Prof. Dr. Froböse abgeschrieben habe. Bislang macht es zumindest Spaß, aber so eine mit Burgern belegte Pizza ist irgendwie viel geiler als Magerquark mit Haferflocken.

Gerade stelle ich fest, dass es eigentlich „besessen“ heißen müsste. Dann müsste ich allerdings jetzt den Anfang umschreiben, wozu ich keine Lust habe. Wobei, man kann doch auch versessen auf etwas sein, oder? Ich merke gerade, „versessen“ ist doch das richtige Wort, „besessen“ hingegen völlig falsch. Damit wird dieser letzte Absatz völlig obsolet.


Das Ausprobieren der super-easy Rezepte wird selbstredend hier und auf meiner Facebook-Seite zelebriert!