„Es müsste die vierte Nacht sein, ich weiß es aber nicht genau. Ich bin zumindest so müde, als hätte ich drei Nächte nicht geschlafen“, spekuliere ich gegenüber Rudine.

„Womöglich sitzen wir erst seit drei Stunden fest! Ist ja oft so, dass wenn man die zeitliche Orientierung verliert, man sie gar nicht mehr einschätzen kann. Und du tust auch wenig dafür, dass sie schneller vergeht.“

Das ist nicht untypisch für Rudine, diese subtilen Vorwürfe mir gegenüber, dabei ist die Schuld unserer misslichen Lage nicht bei mir zu suchen. Oder doch? Schwierig zu sagen.

„Soll ich dir die Situation hier moderieren?“

„Zum Beispiel.“

„Ich moderiere nicht vor jedem Publikum, ich habe Ansprüche an mein Publikum, das mir zumindest streckenweise folgen können muss.“

„Arschloch.“

„Früher wäre ich gerne mit dir in dieser Situation gewesen. Aber inzwischen bist du meine letzte Wahl. Es hat eigentlich etwas Ironisches, dass ausgerechnet wir beide hier festhängen! Ich weiß nicht, ob ich diese Art zu sterben besonders lustig finden soll, weil sie mein Leben perfekt und ironisch abrundet, oder ob es der denkbar mieseste Tod für mich ist.“

„Das bringt uns natürlich jetzt weiter! Sieh lieber zu, wie du uns hier rausbringst!“, erwidert es. Nein, sie.

„Im Dunkeln könnte ich gar nicht mehr genau sagen, ob du ein Mann oder eine Frau bist. Und übrigens habe ich es vorher gewusst: Ich hätte mich nicht auf diese Aktion einlassen sollen! Warum zur Hölle kann ich nicht einmal ’nein‘ sagen?! Mein Verstand hatte mich gewarnt! Aber regelmäßig setzt er aus, wenn es um dich geht! Und da mir gerade alles egal ist, möchte ich dir mitteilen, dass ich dich absolut ablehne. Aus tiefstem Herzen. Es möchte brechen.“

„Ach, und darum darf ich nicht über euch einziehen?!“

„Ja. Lieber werfe ich mich vor einen Zug, während dieser aus dem Fenster springt, als dich zur Nachbarin zu haben! Ein aberwitziger Irrtum des Kosmos, dass nun ausgerechnet wir beide uns zusammen in dieser misslichen Lage befinden.“

„Wolltest du nicht mal mit mir ins Bett?!“

„Ha! In der Theorie war ich schon mit vielen im Bett, Rudine! Bild dir da mal keinen drauf ein! Da bin ich wie jeder andere vernünftige Mann!“

„Nicht alle Männer denken so!“

„Ach, natürlich! Gibt aber kaum einer zu!“

Ich strecke mich etwas, wobei ich ihr vor den Kopf trete. Versehentlich!

„Au! Alle Latten am Zaun?!“, ruft sie empört.

„Es tut mir nicht leid, war aber auch keine Absicht. Pardoniere, dass ich deinen versoffenen Kopf im Dunkeln nicht gesehen habe!“

„Versoffen?!“

„Sieh dich nur an!“

„Es ist stockfinster!“

„Deine Make-up-Alternative.“

Rudine und ich haben ein gespaltenes Verhältnis, wobei es mir persönlich am liebsten wäre, gar keines zu ihr zu haben, aber irgendwie will es mir misslingen, sie loszuwerden. Sie ist das Zäheste, was mir jemals untergekommen ist. Bewundernswert auf der einen, erschreckend auf der anderen Seite.

In meiner Hose spüre ich einen harten Gegenstand, dessen Härte mit Rudine nichts zu tun hat, sondern eher damit, dass Handys eben hartleibig und (noch) nicht faltbar sind. Doch dass wir beide nicht an unsere Handys rankommen, um Hilfe anzufordern, wissen wir schon seit Beginn unserer Unlage, da wir unsere Hände nicht bis an die Hosentaschen bewegen können.

„Es vibriert wieder!“, teile ich Rudine mit.

„Dein Handy?“

„Ja.“

„Ist es noch das güldene?“

„Jaha. Frage mich, wer da immer anruft.“

„Stimmt, dich anzurufen bringt nichts, du gehst ja nie ran.“

„Ich würde rangehen, aber es ist immer auf lautlos geschaltet.“

„Dann stell’s doch auf laut!“

„Dann würden wir es jetzt zwar hören, aber rangehen könnte ich noch immer nicht!“

„Wenn der Akku noch voll ist, können wir unmöglich schon vier Nächte hier rumliegen!“

Schlauer Gedanke von Rudine, doof war sie ja nie. Aber ich will ihr ungern recht geben, also lüge ich:

„Ist auf ‚Ultra-Sparmodus‘ geschaltet!“

„Natürlich.“

Es wird wohl meine Mitbewohnerin sein, die da permanent anruft, da sie mich nicht ganz zu Unrecht schon vermissen dürfte. Vermutlich voller Sorge, da wir sonst immer voneinander wissen, wo wir uns jeweils aufhalten.

„Vielleicht orten sie unsere Handys?“, überlege ich laut.

„Dann wären sie schon lange hier!“

„Ich weiß nicht, auf wie viele Meter genau sich ein Handy orten lässt. Vielleicht suchen sie einfach nicht gründlich genug.“

„Vielleicht wollen sie uns gar nicht finden?“

Absurder Gedanke von Rudine. Denn zumindest Lungobart wird sie auf jeden Fall finden wollen. Lungobart ist ihr Hund. Treudoof ohne Ende. Darum mag ich Hunde so sehr. Diese bedingungslose Treue! Könnte aber auf den Menschen übertragen leicht dämlich wirken, unsouverän. Hinge man einem Menschen derart an, wie es Hunden eigen ist. Naja, Lungobart ist eigentlich ein Mensch. Er verhält sich nur nicht so. Was Rudine offenbar anmacht. Was nun komisch klingt. Was es ja auch ist.

Solche Dinge gehen einem durch den Kopf, wenn man feststeckt.

„Stinke ich schon?“, fragt Rudine mich.

„Ich weiß nicht, die Luft ist insgesamt stickig. Ich rieche auch nicht so genau hin.“

Es ist mir bei Filmen und Serien oft aufgefallen, dass die Leute dort selten aufs Klo gehen. Derzeit sehe ich „Prison Break“. Eine Serie, deren erste Staffel richtig gut war. Es geht um einige Gefängnis-Insassen, die auszubrechen versuchen. Sie flüchten über Tage – gehen aber nie aufs Klo! Sie haben auch immer Handys dabei, aber ich sehe nie, wo und wann sie die Dinger laden. Ab Staffel zwei wird die Serie leider schlechter, ich freue mich dennoch auf die fünfte, die ich wohl nie werde sehen können – todbedingt.

„Rudine, ich muss jetzt echt mal!“, kündige ich eine olfaktorische Belastungsprobe an. Natürlich nicht ohne zu fragen:

„Wie kann es eigentlich sein, dass meine Blase schwächer als deine, die einer Frau, ist?“

„Puh, okay, es geht nur um die Blase. Das kleinere Übel! Denn ich muss kacken.“

Ich schätze es überhaupt nicht, wenn Frauen ordinär reden.

An dieser Stelle werfen mir Feministinnen gerne vor, dass es wohl für mich okay wäre, wenn Männer ordinär redeten, während ich es Frauen nicht zugestünde. Dabei habe ich das nie gesagt! Es ist mir lediglich völlig egal, wie Männer reden, da ich mich mehr auf Frauen konzentriere, denen ich gegenüber nur in gewissen Situationen ordinär oder gar vulgär werde …

Ich selbst rede nur in Ausnahmefällen von „kacken“, da dieser Vorgang, ginge es auf dieser Welt nach mir, im Grunde gar nicht verbalisiert werden müsste. Tue Gutes, aber rede nicht darüber, gilt auch beim … nun … Abführen.

„Rudine, halte ein! Zügele die Därme!“

 

Es vergehen ein paar Stunden, in denen ich nicht Rudines verkniffenes Gesicht sehe, das sie vermutlich aufgelegt hat. Und das ich ebenfalls trage, da ich meine Blase schlicht nicht entleeren kann.

„Es geht einfach nicht. Ich muss unglaublich, aber es will nicht laufen! Ich bin zu gut für solche Extremsituationen erzogen!“

Man sagt, Blasen platzen nicht wegen Überfüllung. Lediglich bei Unfällen können sie durch Quetschungen platzen. Ich aber habe in diesem Moment den Eindruck, dass sie es eben auch darüber hinaus vermögen, da mein Hahn konsequent verschlossen bleibt. Und ich meine nicht Harn.

Rudine meldet ein weiteres Bedürfnis an: „So langsam habe ich Hunger. Der Durst ist das eine. Aber der Hunger ist viel schlimmer!“

„An sich müsste der Durst das größere Problem sein. Hunger geht bei mir. Ich zehre von meiner unvergleichlichen Muskelmasse, die ich mir mühsam aufgebaut habe. Jetzt weiß ich, warum ich vier Wochen lang Magerquark gegessen habe!“

Aber inzwischen habe ich ehrlicherweise ebenfalls Hunger bekommen und überlege, Rudines Fuß zu essen. Da wir beide feststecken, kann sie nicht weg. Wie also wollte sie sich wehren?!

„Hey?! Was machst du da?“

„Ich probiere dich.“

Sie gibt mir einen Tritt. Kann sich wohl doch noch wehren.

„Seppo!“, ruft sie plötzlich, „Ich habe mich bewegt!“

„Bewegung täte dir in der Tat gut.“

„Nein, im Ernst! Wenn ich mich mit meinem Fuß in deinem Gesicht abstoße, könnte ich mich vielleicht befreien!“

„Untersteh dich-„, sage ich und kriege einen herzhaften Tritt ins Gesicht. Ich schreie auf und plötzlich hören wir eine Stimme:

„Hallo? Ist da jemand?“


Wie das wohl weitergeht?