Dass ich einen Text mit „Ballkünstler“ überschreibe, kann entweder nur ein kosmischer Irrtum oder blanke Ironie sein. Zweites trifft hier zu und der kosmische Irrtum ist wohl eher der, dass ich immer wieder Menschen in meinem Leben treffe, die mir einen Ball zuwerfen.

Schon während des Schulsports in den Neunzigerjahren habe ich meinen Mitschülern immer wieder eingetrichtert:

„Wenn ihr den Ball habt, werft ihn wohin ihr wollt, aber nicht zu mir!“

Aus zwei Gründen: Zum einen wäre ich in die Verlegenheit geraten, den Ball nicht nur zu fangen, sondern ihn in einem zweiten Schritt auch noch in irgendeiner Form weiterzuverwenden – beispielsweise durch das Werfen in einen Korb oder zumindest in dessen Nähe. Zum anderen war ich beider Schritte nicht mächtig, da ich umgehend in ein Wachkoma fiel, sobald ein Ball sich nur in meine Richtung bewegte. Auch heute ist das nicht anders: Ich sehe zwar, dass da ein Fluggerät auf mich zufliegt, aber meinem Gehirn fehlt offenbar das Areal, das darauf zu reagieren wüsste. Manchmal, wenn ich gut drauf bin, hebe ich sogar meine Arme und strecke sie in Richtung des Balles, aber meist derart spät, dass ich das Sportgerät bereits als Aufprall in meinem Gesicht wahrnehme. Das ist in etwa so, als ginge ich bei Grün über eine schon wieder rote Ampel. Mir fehlen irgendwo Synapsen, die mir eine adäquate Reaktion auf Bälle ermöglichten. Ich kann einfach weder fangen noch werfen. Eine simple Wahrheit, die niemand außer mir akzeptieren wollte. Und auch heute muss ich mich immer wieder erklären, dabei ist es so einfach: Bälle haben für mich keine Relevanz. Genauso wenig wie Panflöten – das hinterfragt aber keiner.

Zu Schulzeiten fand ich das auch schon lustig, aber nicht so lustig wie heuer. Spielten wir Basketball, habe ich mich immer nur noch so gerade im Spielfeld aufgehalten, immer unter Ausreizen der Spielfeldbegrenzung. Nicht selten hatte ich dabei meine Hände in den Hosentaschen, da sie ja ohnehin nicht auf die Flugbahn des Balls reagierten. Außerdem wollte ich so meinen Klassenkameraden signalisieren:

„Ich spiele hier nur pro forma mit.“

„Hände aus den Taschen, Flotho!“, hörte ich oft von meinem Sportlehrer, Herrn Nolte, der ein harter Typ war, sodass sein Spitzname Nick Nolte sehr nahelag. Ein schöner Spruch von ihm, wenn er Mannschaften einteilte, war:

„Die Guten auf diese Seite, die Mädchen auf die andere.“

Fand ich lustig und okay, konnte die hysterische Aufregung der Mädels nie nachvollziehen und stellte mich dann immer zu ihnen.

Feministinnen wird immer direkt Hysterie unterstellt. Männer, die sich auflehnen, gelten als durchsetzungsfähig, entsprechende Frauen jedoch als hysterisch.

Nick Nolte war es auch, der mir die zweite Sechs meiner Schullaufbahn verpasst hatte, nachdem ich mir in der fünften Klassen einmal eine solche in einem lächerlichen Musiktest eingefangen hatte. Dabei spielte ich damals Klavier und konnte und kann bis heute immerhin Noten lesen.

Die Nolte-Sechs ergab sich, als jeder von uns zwischen zwei Körben hin- und herlaufen musste, jeweils dabei einen Korb werfend unter Zuhilfenahme dieses Sternschrittes, den man als Basketballer vor Abwurf zu machen hat. Interessanterweise kann ich standardtanzen, doch der Sternschritt hat mich überfordert. Jedes Mal, wenn ich den Ball warf, um ihn in diesen verdammten Korb zu hieven, war der Korb bereits hinter mir und ich unmittelbar vor der Wand. Nicht einen Treffer landete ich, was weder Nick Nolte noch mich überrascht hatte. Und so erinnere ich mich noch gut, wie ich nach meiner Vorstellung sagte:

„Wir haben doch alle gewusst, dass es so enden würde. Warum musste ich es den nochmal bestätigen?!“

Bei der Notenbekanntgabe hieß es:

„Danker: Zwei plus. Kerkmann: Vier minus. Flotho: Ungenügend.“

Ich war außer mir: „Michael bekommt eine Vier minus?! Ich soll schlechter als Michael gewesen sein?!“

Das war der Moment, in dem ich für mich beschloss, dass mir manche Dinge egal sein müssen. Doch bis sich diese Geisteshaltung in mir durchsetzte, vergingen noch viele Jahre. Leider. Denn erst seit etwa zwei Jahren wird mir vieles zunehmend gleichgültig, was früher noch ein Problem für mich war. Es ist mir immer häufiger egal, was andere über mich denken, gerade die, die ich selbst für Idioten halte.

Kommt mir heute jemand mit einem Ball um die Ecke, erntet er von mir ein „Lass mich mit dem Scheiß in Ruhe“, da ich die Entscheidung getroffen habe, diesen spielerischen Aspekt des Lebens Hunden zu überlassen. Wäre ich ein Hund, Apportieren wäre meine Sache nicht. Mein Herrchen würde mich gelangweilt an einer Raststätte zurücklassen und ich wäre vermutlich noch dankbar dafür.

Es klingt so, als hielte ich mich für was Besseres, wenn ich darüber nachdenke, warum man überhaupt einem Ball hinterherhechten sollte. Ich empfand damals im Schulsport gerade die Mannschaftssportarten als geradezu albern. Wenn da neun Leute beim Fußball sich hochmotiviert um Tore kümmern, während der Zehnte, ich, irgendwo am Spielfeldrand zum hundertsten Mal seine Schuhe zubindet, damit bloß niemand den Ball in meine Richtung

„Weg! Sven! Weg mit dem Ball! Nicht zu mir! Wir wissen, wo das endet: nicht im Tor!“

schießt. Aber hin und wieder rollte er auf mich zu und ich musste allen Ernstes versuchen, ihn meinerseits zu bewegen. Dazu zog ich ein beliebiges Bein nach hinten (keine Ahnung, welches mein besseres ist, da beide schlecht), und warf es dann mit Wucht nach vorn, rechts oder links an der Murmel vorbei. Das Bein traf auf keinen Widerstand, schnellte also in die Höhe, bildete mit mir einen rechten Winkel, ich verlor das Gleichgewicht, fiel hinten herüber und landete – dieses Mal zielsicher – mit dem Podex auf dem Ball. Heiteres Gelächter in der Sporthalle war die Folge, insbesondere bei den zuschauenden Mädels. Dort saß auch Mareike, meine erste große Liebe, vor der ich also insbesondere im Sport ein ausgesucht unattraktives Bild abgegeben habe. Ich hatte dennoch mit ihr meinen ersten Zungenkuss, wobei sie ihren erst später mit einem anderen, Tobias, haben sollte.

Mareike: „Du bist zwar etwas anders als die anderen Jungs, aber dein Humor ist toll!“

Leider gab es da ein Missverständnis zwischen uns. Sie glaubte, ich meinte Dinge lustig, die lediglich Resultat meiner teilweisen Tölpelhaftigkeit waren, während sie die von mir lustig gemeinten Dinge gar nicht als lustig empfunden hatte (Wobei ich einschränken muss: Ich habe natürlich gelernt, meine Tölpelhaftigkeit einzusetzen, sie als lustig zu verkaufen. Die Übergänge zwischen „gespielt“ und „echt“ sind für Außenstehende vermutlich schwer zu erkennen). Sie verstand keine Ironie. Sobald ich etwas Ironisches von mir gab, guckte sie mich wie ein Baum an. Also beschloss sie nach zwei Wochen, dass ihr Tobias, heute WDR-Moderator, besser gefiel. Mir gefiel Tobias nicht besser als Mareike, obwohl der wenigstens Ironie verstand. Tobias hatte mit Mareike dann seinen ersten Zungenkuss. Dieses Flittchen! Immerhin hatte ich ihre Brust in der Hand. Das kann mir niemand nehmen. Nicht einmal Tobias.

Selbst der hatte beim Basketball keine Sechs. Und bei aller Liebe, auch heute sieht er alles andere als sportlich aus. Aber gut. Er ist beim WDR.

Mich hat das damals gestört. Mich hat meine sportliche Unfähigkeit natürlich gestört. Die Sportstunden waren mir ein absolutes Grauen, da einem das eigene Versagen immer und immer wieder vor Augen geführt wurde – auch vor die Augen der anderen. Natürlich ist es heute lustig, dass ich damals bei der Mannschaftsauswahl immer als Letzter auf der Bank gesessen habe. Damals war es zumindest ein bisschen lustig, da ich trotz aller Unfähigkeit nicht das wurde, was man heute, so glaube ich, „Opfer“ nennt. Mir war damals klar, dass ich die besseren Witze über meine Unsportlichkeit reißen muss, um den anderen den Wind aus den Segeln zu nehmen. Sie hatten keine Chance, sich über mich lustig zu machen. So halte ich es noch heute.

Als in der Mittelstufe dann allerdings der Sportunterricht zusammen mit einer Parallelklasse stattfand, änderte sich das. Ich war sofort ein gefundenes Opfer für die „neuen“ Jungs. Und um ein paar Jahre zu überspringen: Heute erzähle ich gerne, dass genau diese inzwischen fett und glatzköpfig sind, während ich mich zum genauen Gegenteil entwickelt habe. Es ist wie immer im Leben: Wer zuletzt lacht …

Heute liegen die Dinge anders. Heute sind mir viele Dinge egal. Was ich nicht kann, wird auch nicht getan und so konzentriere ich mich auf die Dinge, die ich kann und auch will. Es bringt nichts, auf das zu blicken, was man selbst nicht kann, andere aber schon. Tue das, was du kannst, denn in der Regel ist das genau das, was du besser kannst als andere.


Alle bisherigen Teile des seppoABCs: hier!