Es ist nicht nur schick, Ausländern deutsche Tugenden abzusprechen, sondern auch der Deutschen Bahn. Unpünktlich sowie unzuverlässig sei sie und teuer überdies. Wer sich um 15 Uhr vor den ICE nach Hamburg-Altona werfen will, muss einkalkulieren, dass auf seinem Totenschein eine Verzögerung des Todeszeitpunktes von etwa zwanzig Minuten verzeichnet wird.

Ich verweigere das Meckern über die Bahn, denn statistisch betrachtet gehört sie nun einmal zu den pünktlichsten Einschienenverkehrsunternehmen der Welt. Aber ja, es ist natürlich ärgerlich, wenn Klimaanlagen ausfallen oder leichter Schneefall bereits zum Stillstand führt. Ich gehe aber davon aus, dass sie das alles in den Griff kriegen, die Bahner. Ist mir ohnehin schleierhaft, wie ein solches System überhaupt pünktlich sein kann!

Das ewige Gemecker über die Bahn liegt mir letztlich nicht und gestern hatte ich eine sehr angenehme Bahnfahrt von Spandau, was ja, wie wir wissen, nicht Berlin ist, obwohl es durchaus Berlin ist, nach Düsseldorf. Wobei mehr als 100 Euro für den Fahrschein schon ganz schön happig sind, sodass eine „BahnCard 100“ sich für mich lohnen würde, ihre Kosten sich schnell amortisierten. Ab Mai habe ich immerhin die „BahnCard 50“ und angesichts der gestrigen Vollsperrung der A2 bei Hannover weiß ich, warum ich künftig Bahnfahrer sein werde. Denn als Bahnfahrer macht man darüber hinaus interessante Beobachtungen.

Vor etwa acht Jahren war ich regelmäßiger IC-Fahrgast. Damals habe ich gelernt, dass man sehr einfach schwarzfahren kann, wenn man sich nur einfach schlafend stellte. Die Schaffner ließen mich stets in Ruhe, auch wenn ich, da Angsthase, immer eine Fahrkarte bei mir trug. So auch gestern, als ich mich dennoch schlafend stellte, da ich schlicht keine Lust auf diesen nervigen Prozess der Kartenkontrolle hatte und tatsächliche dämmerte ich leicht weg und vernahm wie aus einer anderen Welt, dass mein Sitznachbar kontrolliert wurde, bevor die Bahn-Handlangerin an meine Schulter tippte.

„Der Herr!“, sagte sie dabei, „Guten Abend.“

Ich öffnete mein Geaug, tat überrascht und kramte in meiner Hose nach dem Handy.

„Moment. Ich hab das irgendwie online gemacht. Sie brauchen jetzt diesen QR-Code?“

„An sich sollten Sie das Ticket immer ausdrucken!“, belehrte sie mich.

„Ja, der Drucker … noch nicht angeschlossen. Netzwerk. Drobo … Sie wissen schon.“

Wusste sie natürlich nicht, akzeptierte dennoch meinen QR-Code, den sie ja wirklich problemlos vom Handy einscannen konnte. Was erschien dann auf ihrem ominösen Ablesegerät wohl?

Das ist Herr Flotho. Er fährt heute Bahn.

„Noch jemand zugestiegen? Hannover, Bielefeld, Dortmund?“, rief sie im Weitergehen, was ich nicht ganz verstand. Denn welcher Schwarzfahrer ruft denn dann „Ja, ich!“?!

Doch das hat seinen guten Grund, wie ich herausfand, da ich etwa zwei Stunden Zeit hatte, diesen zu finden: Als Bahnfahrer, der aus welchen Gründen auch immer kein Ticket mehr am Bahnsteig bekommen hat, ist man verpflichtet, auf den Schaffner im Zug zuzugehen. Wer also auf die Frage „Sonst noch jemand zugestiegen?“ nicht reagiert und barkartig mitfährt, hat sein Recht auf einen späteren Kauf beim Schaffner verwirkt und ist somit Schwarzfahrer. Die Bahn sichert sich durch diese Frage also juristisch ab.

Ich hatte eine Platz reserviert: Nummer 55 in Wagen 21. Natürlich gelang mir das direkte Besteigen Wagens 21 nicht, und das trotz voriger Lektüre des Wagenstandsanzeigers, der mich unmissverständlich zum Gleis 3 A-B gelotst hatte. Dennoch fand ich mich bei der pünktlichen Einfahrt des ICEs 844 im Bereich B bis C wieder, sodass ich mich im Zug von Wagen 23 bis nach 21 vorkämpfen musste, was ich unterschätzt hatte, da ich die Rechnung ohne jene Reisende gemacht hatte, die sich von Wagen 21 zu Wagen 23 vorarbeiteten, wozu der Mittelgang einfach zu schmal war. Unmittelbar vor mir wagte es eine ältere Dame, ohne jede Reservierung Platz 57 zu beanspruchen, als ich meinen Waggon erreicht hatte. Der von ihr in Augenschein genommene Platz war zwar reserviert, jedoch frei, was jener auf #56 sitzende Fahrgast ihr nicht so einfach durchgehen lassen wollte. Geduldig wartete ich, bis man die Situation geklärt hatte und die Dame sich setzen durfte, um dann wahnsinnig witzig zu sagen:

„Das ist mein Platz!“

Was an sich als Scherz erkennbar sein sollte, hatte die Dame ernstgenommen:

„Hätten Sie das nicht sofort sagen können?! Sie standen doch die ganze Zeit hinter mir!“

„Achso, nein, das war ein Scherz!“

„Also ist das nicht Ihr Platz?“

„Nein, ich bin der Lokführer.“

Fand ich auch wieder wahnsinnig komisch, einige um uns herum lachten, andere nicht. Schon gar nicht der Bahnkunde auf Platz 54, der bis Bielefeld mein Sitznachbar sein sollte. Nur widerwillig ließ er mich vorbei an meinen Fensterplatz. Der wurde mir zufällig zugeteilt, da ich keinen bestimmten Platz reserviert hatte.

„Ich sitze neben einem Geschäftsmann“, schrieb ich per Facebook einer Freundin, „Ich glaube, ich stinke.“

Das tat ich. Ich habe drei Tage lang in denselben Klamotten körperlich gearbeitet. Ich habe gesägt, ich habe geflext, ich habe geschraubt, ich habe drei Tage lang querverlattet und leider keine Möglichkeit, vor Antritt der Rückreise meine Arbeitsklamotten zu wechseln. An sich besitze ich keine Arbeitsklamotten, da ich Arbeiten ablehne, bei denen Staub und Dreck anfallen, doch manchmal rutscht man in Dinge hinein und wächst an ihnen. Doch möchte ich für die Nachwelt an dieser Stelle einmal konservieren: Wer mir schweres Gerät in die Hand legt, und sei es eben nur eine Flex, der muss mit seinem, mit meinem und dem Tod aller Umstehenden rechnen. Wer jeden Morgen beim Rühren von Quark die Küche in ein Schlachtfeld verwandelt, der geht mit einer Flex ähnlich feinmotorisch um wie mit einem Mixer. Doch die Folgen für Leib und Leben könnten unterschiedlicher nicht sein!

Und natürlich stank ich. Nach Schweiß und Muff. Ich hab’s ja selbst gerochen. Und wenn man es selbst schon riecht, haben es andere schon lange vorher vernommen. Ich überlegte, mich direkt bei meinem Sitznachbarn zu entschuldigen und ihm die Alusplitter zu zeigen, die beim Flexen in mein Haar geflogen waren. Als Beweis meiner körperlichen Arbeit. Denn er war definitiv ein Kopfarbeiter. Das sah ich an dem, was er an seinem Laptop schrieb.

Zunächst hatte ich versucht, krampfhaft nicht draufzugucken. Doch in einem ICE sitzt man derart beengt, dass es praktisch unmöglich ist, nicht auf das Nachbar-Display zu gucken und nach einer Stunde Fahrt war es mir auch lungo. Er bearbeitete Excel-Tabellen, schrieb Kollegen via Desktop-Whatsapp,

Liebe Judith, ich würde gerne am Montag noch einmal mit Dir die Pers.-Entscheidungen durchgehen. Mario hat noch einige Nachfragen.

und begann dann ein Textdokument, das er „Sinn.txt“ nannte, und schrieb:

Wie erkenne ich das Potenzial in einem Menschen?

Muss so ein verkappter Möchtegern-Schriftsteller sein, dachte ich und bereute, dass ich meinen Laptop in den Koffer gepackt hatte, der unerreichbar für mich war, da ich gerne etwas geschrieben hätte, weil ich ja ein verkappter …

Hatte mich doch so gefreut auf das WLan im ICE, das sich aber zumindest auf meinem Handy als extrem langsam und unzuverlässig herausgestellt hatte. Dennoch habe ich etwa 20 Minuten darüber nachgedacht, wie eigentlich das Internet in so einen Zug gelangt. Über die Schienen?! Durch die Oberleitungen?! Ich war eben übermüdet und am Ende fiel es mir dann auch ein, was ja so klar ist. Man ist eben manchmal etwas doof und auch jene Freundin schrieb mir:

„Get your shit together, Seppo“.

Ich ahnte, was sie mir da sagen wollte, googelte es aber zur Sicherheit noch einmal, behielt dann aber meinen Scheiß zusammen, denn sie hatte ja Recht.

Als mein Sitznachbar samt Laptop in Bielefeld ausstieg, guckte ich mir Schwulenpornos an. Die nämlich konsumierte jener Fahrgast, der unmittelbar vor mir saß. Er betrachtete Männer mit beängstigend langen Penissen, während ich – und ich scherze nicht! – in „Terra Mater“ einen Artikel über Pferde in Namibia las. Es ging da um Pferde, die jeden Tag 30 Kilometer zu einem Brunnen laufen müssen. Diese Pferde haben einen ausgeprägten Wangenknochen. Das ist in etwa die Essenz des Artikels, worauf ein Artikel über „JFK“ folgte. JFK musste jeden Tag 30 Kilometer durch das oval office laufen und war gegen Hunde allergisch, hatte aber dennoch mehrere hundert Seitensprünge.

In Bochum, glaube ich, stieg ein Typ zu, der offenbar eine Frau war oder auf dem Weg dahin. Der Phänotyp sprach für ein Y-Chromosom, doch die ausgesprochen helle Stimme für zwei X. Im Grunde ist mir das auch egal. Ob jemand Mann oder Frau oder beides oder nichts davon ist, spielt für mich keine Rolle. Erst wenn sich Geschlechtsverkehr anbahnt, wird es ein Kriterium für mich. Dass sie einen Rock mit kurzer Hose darüber trug, auch egal. Es ging mich ja nichts an. Er hätte auch eine Burka mit Cowboyhut tragen können – latte. Sie hatte aber Unterhaltungswert. Weil er skypte. Zunächst auf englisch.

Amazing! Livestreaming at 160 kilometers per hour!

schrie! sie jemandem am anderen Ende des Skype-Apparats entgegen. Ich fand’s geil. Der komplette Waggon nahm an ihrem Gespräch Anteil. Und natürlich drehten sich immer mehr zu ihm um. Und natürlich hat sich jeder gefragt: Was ist dieser Mensch? Mann oder Frau? Mehr und mehr bekam ich den Eindruck, dass sie unter Drogeneinfluss stand, als sie sich lauthals mit einem

I love you sooooo much!

von ihrer Gesprächspartnerin verabschiedete, um dann den nächsten anzurufen. Jenes Gespräch war zwar ebenfalls sehr laut, aber auch belanglos. Sie versprach ihrem Gegenüber eine zweiwöchige Handyabstinenz. Danach stand sie auf und tänzelte durch den Mittelgang. Spätestens zu dem Zeitpunkt fand ich mein Gaffen moralisch völlig in Ordnung, zumal ein Mitreisender, mir schräg gegenüber sitzend, sich das Schauspiel nun ebenfalls völlig ungeniert angeguckt hatte. Manche tauschten fragende Blicke miteinander aus, andere blickten starr in die „DB mobil“, was ich viel verlogener finde als offenherzig zu gaffen. Wenn jemand eine solche Show abzieht, will er begafft werden. Kenn ich ja von mir. Aber dieser Bart …

Doch war ich nur Gaffer? Wurde nicht vielleicht auch ich studiert? Hat sich vielleicht jemand gefragt, von wem aus dieser Gestank ausging? Vielleicht von dem Typen da in der dreckigen Hose mit viel zu viel Pomade im Haar? Von diesem Asi mit dem strengen Scheitel, der schamlos auf den Laptop-Bildschirm seines Sitznachbarn guckt? Der sich für alle offensichtlich schlafend stellt, wenn die Schaffnerin ihn kontrollieren will?

Das ist natürlich das Schöne am Bahnfahren. Man bekommt das pralle Leben komprimiert in einem Mikrokosmos geboten, sodass vier Stunden zügig rumgehen. Ein bisschen freue ich mich auf die nächste Fahrt. Kommende Woche.