Selten war mein Leben abwechslungsreicher und dennoch ist mein Auswurf an Texten einigermaßen mager. Es liegt in meinem neuen Zeitmanagement begründet. Der moderne Mensch hat ja ein Zeitmanagement und das knappe Budget an Zeit, das ja nie größer war, beinhaltet unbedingt quality time. Ich glaube, damit ist Freizeit gemeint. Da ich mir aber nicht sicher sein kann, schlage ich nach und erfahre, dass es sich um Zeit handelt, die man der Pflege zwischenmenschlicher Beziehungen widmet. Für mich also nicht erstrebenswert, da ich gerne die Beziehung zu meiner eigenen Person pflege, sodass ich an dieser Stelle den neuen Begriff der quality ego time in den gesellschaftlichen Diskurs einführen möchte. Und so stehe ich derzeit oft vor der Frage: Schreiben oder quality ego time? Ich entscheide mich zunehmend gegen das Schreiben.

Dabei passiert doch so vieles! Ich fahre zweimal pro Woche vier Stunden mit dem ICE zwischen Düsseldorf und Berlin-Spandau hin und her und es grenzt an Wahnsinn, was sich mir dabei jedes, aber wirklich jedes Mal!, an menschlichen Studienobjekten bietet. Ich bin vermutlich selbst für den einen oder anderen eine Art Sozialstudie, wenn ich hier im ICE 543 sitze. Wer also ein langweiliges Leben führt – und ich wünschte, meines wäre deutlich langweiliger -, dem sei eine Fahrt mit dem ICE ans Herz gelegt. Einige Geschichten haben sich so in den vergangenen Wochen angesammelt und ich beginne mit der vom vergangenen Mittwoch, als ich von 19 Uhr 46 bis null Uhr nochwas im Zug saß.

Ich hatte mir einen Fensterplatz reserviert. Das tue ich immer, da ich am Fenster eine bessere Schlafposition finde. Es geht mir gar nicht ums Raussehen. Denn das ist auch nicht immer möglich. Mein heutiger Blick aus dem Fenster sieht beispielsweise so aus:

Vergangenen Mittwoch ist mein reservierter Platz von einem Bahnkunden aus dem Proletariat besetzt. Das bringt mich immer in eine Zwickmühle, da ich mir dabei albern vorkomme, Menschen meines Platzes zu verweisen. Ich komme mir dabei immer so vor, als käme ich mir vor, als wäre ich was besseres. Nun, mitunter bin ich das natürlich auch, aber ich gehe nicht per se davon aus. Und so fand ich mich in einer ungerechtfertigten Rechtfertigungsorgie wieder:

„Ich müsste Sie leider bitten, den Platz … also ich habe für teures Geld … im Grunde ist es mir ja egal, wo ich sitze … ich kann da nur besser schlafen … also reserviert.“

+++ EIL +++

Das kaputte Fenster, an dem ich sitze, gefährdet die Weiterfahrt des Zuges. Zwei Bahnangestellte haben sich des Problemes gerade angenommen. Beunruhigend war die Äußerung des einen von beiden:

„Wenn wir Folie haben, können wir weiterfahren.“

Am Bahnhof Essen wird also gleich im besten Fall Folie aufgetrieben, die dann vor die Scheibe geklebt wird. Im schlechtesten Fall steige ich hier gleich schon wieder aus.

+++ EIL +++

Überaus freundlich, sogar übertrieben freundlich, räumt der Herr seinen Platz und setzt sich mir gegenüber. Dass es massiv nach Urin im Waggon riecht, schiebe ich auf die nahe Toilette. Später überlege ich, ob der Urintank ein Leck hat, will mein Gegenüber schon auf den beißenden Gestank aufmerksam mache, als ich neben ihm seine geöffnete Reisetasche sehe, aus der mehrere ganz offensichtlich getragene Unterhose herausberndlucken. Weil ich eine feine Nase habe, erkenne ich in diesen die Quelle des gelben Duftes, wie er in der Fetischszene möglicherweise genannt wird.

+++ EIL +++

Legen gerade am Bahnhof Essen ab. Das derangierte Fenster wurde kein weiteres Mal in Augenschein genommen oder gar einer Behandlung unterzogen. Allerdings wurde gerade via Durchsage der Bordtechniker ausgerufen.

+++ EIL +++

Der Gestank begleitet mich bis nach Düsseldorf und wieder stelle ich fest, dass unangenehmer Körpergeruch (auch wenn er aus dem Körper in ein Textil gewandert ist) einem Sympathieempfinden empfindlich im Weg steht. Ich verachte diesen Menschen somit vier Stunden lang, setze ihn sogar auf meine Todesliste, die derzeit erstaunlichen Zuwachs bekommt. Neben quality ego time brauche ich bald auch quality murder time.

Olfaktorische Belästigung ist keine Seltenheit im ICE, so mein Eindruck. Denn eine Woche zuvor ist es ein Schweizer, der mir gegenübersitzt, das aber nicht wollte. Wieder bewege ich mich zu meinem reservierten Fensterplatz am Tisch, als – nennen wir ihn Albert – Albert Schweizer mich bittet, nicht ihm gegenüber Platz zu nehmen.

„Ich will Ihnen ungern mit meinen Füßen im Wege sein“, erklärt er. Ich sehe auf den Boden und erblicke seine unbeschuhwerkten Füße unter dem von mir reservierten Platz. Leider bin ich manchmal aus dem Affekt heraus zu zuvorkommend, sodass ich tatsächlich von meinem Platz absehe und mich daneben, an den Gang also, setze, wo mich umgehend der Fußgeruch ärgert. Nicht aber so sehr wie die Tatsache, dass ich wegen zwei Schweizer Füße meinen Platz räumte, wo doch Albert selbst auf den neben ihm freien Platz hätte ausweichen können, um seine bodennächsten Extremitäten ausstrecken zu können.

Ich werde immer ärgerlicher, da mir erst nach und nach die Arroganz dieses Typen gewahr wird. Er erwartet, dass andere ihren Platz räumen, kommt aber selbst nicht auf die Idee?! Ich überlege, emotional auszubrechen, mir das nicht bieten zu lassen, finde dann aber, dass ich eine zu lange Karenzzeit habe ins Land ziehen lassen. Ich entscheide mich für den stillen Protest und nehme trotzig meinen ursprünglichen Platz ein und gewöhne mich an den Fußgeruch.

Den emotionalen Ausbruch holte ich am zurückliegenden Samstag nach, als allen Ernstes zwei Zeugen Jehovas ab neun Uhr 30 versuchen, meine Mitbewohnerin und mich auf das Schlimmste, die Apokalypse, vorzubereiten. Entgegen meiner Gewohnheit lasse ich die Zeugen in die Wohnung. Weil ich wütend war. Und ich nahm mir vor, dass diese beiden Zeugen ihr (und das bitte ich zu googlen, damit es witzig wird) ganz persönliches Harmagedon in meinem Wohnzimmer erleben sollten. Dazu ein anderes Mal mehr.

Denn es geht ja um Fußgeruch, der nun auch zum kleineren Übel werden soll. Es steigt jemand zu, Wolfsburg, glaube ich, der offensichtlich ein olfaktorisches Harmagedon herbeiführen will. Innerhalb weniger Sekunden stinkt der komplette Waggon. Die Mitreisenden sehen sich wissenden Blickes an, manch einer setzt sich möglichst weit weg von dem Herrn, von dem ein Geruch ausgeht, der mir das Schlafen tatsächlich unmöglich macht. Eine kaputte Klimaanlage im ICE ist ein Witz dagegen. Meine Hoffnung, meine Nase würde sich schon noch an den beißenden Geruch gewöhnen, zerschlägt sich, zumal der Mann nun seinen Sitzplatz wechselt und genau hinter mir sitzt. Später sagt man mir, ich sei etwas zwei Stunden lang ohnmächtig gewesen.

Vom gemusterten Fenster indes gibt es keine Neuigkeiten. Es bestätigt lediglich die Chaostheorie: Alles strebt nach Unordnung, da Unordnung weniger Energie benötigt, als Ordnung. Ich werde mich nun der Lektüre hingeben, es geht um das Schicksalsjahr dieser Welt: 1917. Die USA überdenken ihre Monroe-Doktrin, in Russland geht es drunter und drüber, weil auch Lenin eine lange Zugfahrt durch Deutschland auf sich genommen hatte und drei Jahre zuvor, so glauben die Zeugen, ist Jesus unsichtbar wiedergekehrt. Desillusio!



Im seppolog darf sich der Leser in den kommenden Tagen freuen auf die Zusammenkunft mit dem Ehepaar Jochbain, jene Vertreter der Zeugen, sowie auf ein waghalsiges Projekt, das ich mit meiner Mitbewohnerin starten will. Wir haben uns gemeinsam ein Ziel gesetzt, für das es sich zu kämpfen lohnt, das uns beide zu sehr glücklichen Menschen machen wird. Es bedeutet enormen Einsatz von qualitiy time und ist mit Risiken behaftet. Doch die Verwirklichung dieses Traumes liegt allein in unserer Hand. Und aus dem Nichts heraus wurde mir gestern klar, dass man manchmal einfach nur machen muss.