Und zwar samstagmorgens! An einem Samstagmorgen meine die Zeugen Jehovas, bei uns missionieren zu müssen!

Es geht mir nicht um die verquere Ideologie der Zeugen Jehovas. Es geht mir darum, dass ich an einem Samstagmorgen von niemandem gestört werden möchte! Ich wäre ähnlich erbost, würde um halb zehn morgens der Papst vor unserer Tür stehen, um mich mit auf einen Kreuzzug zu nehmen, was ihm natürlich fernliegt, soweit ich ihn einschätzen kann, da ich ihn nur vom Hörensagen kenne. Natürlich kann ich nicht ausschließen, dass wir in zehn, 20 Jahren zu Pferde gen Nahen Osten aufbrechen, weil für unsere ja durchaus fahrtüchtigen Panzer noch immer das entsprechende Fachpersonal fehlt. Aber das alles bleibt reine Spekulation und bedarf schon guter, sehr guter Gründe.

Halb zehn also klingelt unsere seit fünf Jahren kaputte Schelle, die leider nicht so kaputt ist, als dass man das Schellen der Klingel nicht hören würde.

„Wer zur Hölle reißt uns aus dem Schlaf?!“, rufe ich aufrecht im Bett sitzend sowie reichlich empört.

„Wir schlafen doch gar nicht. Wir lesen“, gibt meine Mitbewohnerin zu Bedenken.

„Aber wir hätten durchaus noch schlafen können!“, gebe ich meiner Mitbewohnerin zu Bedenken.

„Also regst du dich nur hypothetisch auf?“

„Richtig. Ich bin hypothetisch empört. Hympört“, sage ich voller Hympörung, verbleibe aber im Bett, da ich nicht bereit bin, die Tür zu öffnen. Wer soll es auch groß sein?!

Tja, wer? Ich bin dann doch neugierig und wuchte meinen Oberkörper aus dem Venster, um auf diese Weise unsere darunter liegende Haustür erkennen zu können.

„Da steht ein seltsames Pärchen mit Prospekten in der Hand“, morse ich meiner Mitbewohnerin, um nicht des Pärchens Aufmerksamkeit auf mich zu ziehen:

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Es ist im Grunde klar, dass es sich bei den Prospekten um den „Wachtturm“ handelt, die Hauspostille der Zeugen Jehovas, denen nun offenbar eine andere Mietpartei Einlass gewährt.

„Die armen Irren, die denen jetzt die Tür geöffnet haben!“, sage ich in aller Kürze, da der Weg zum Bett recht kurz ist und ich den Satz schon vor Erreichen dessen beendet haben wollte, um mich voll auf den Wiederzurückinsbettgehvorgang konzentrieren will, bevor ich einen „Zeit“-Artikel darüber lese, wann Selbstgespräche ein gefährliches Ausmaß erreichen.

Ich lese stets so lange, bis mich wieder die Müdigkeit übermannt, sodass ich eine zweite Schlafeinheit einlege, in die mich einschläfernde Selbstgespräche begleiten. In meinem Gespräch geht es um das Für und Wider des Einordnens von Sachverhalten in Fürs und Widers. Es ist kompliziert, ich kann mir kaum folgen und schlafe flugs ein, als ich noch denke, dass „flugs“ sich von „Flugschneise“ ableitet. Dass das Unsinn ist, erkenne ich nicht mehr, da ich bereits schlafe.

Als es abermals klingelt.

Es ist zwölf Uhr. Ich stürze sturznüchtern aus dem Bett, lehne mich weit aus dem Fenster und erkenne abermals die vermeintlichen Unfallzeugen Jehovas.

Nun muss der Leser dringend wissen, dass meine Grundstimmung in jenen Tagen eine hochexplosive ist. Zum einen plagt uns ein Stromschaden in unserer Wohnung, zum anderen gesellte sich jüngst ein Wasserschaden dazu, dessen Ursprung in der Wohnung über uns liegt. Dazu kommen noch andere Dinge, die schwer an meiner Gelassenheit, für die ich ja unbekannt bin, zerren, sodass die Zeugen Jehovas sich einen denkbar schlechten Caitpunct ausgesucht haben, um mir das Harmagedon schmackhaft zu machen.

„Jetzt sind sie fällig!“, teile ich meiner Mitbewohnerin mit und überlege noch, ob es ein Fehler sein könnte, meine Wut an ihnen auszulassen. Ist vermutlich auch einer, ich mache es dennoch.

„Willst du sie reinlassen?“

„Ja. Ich will sehen, wie sie mein Gehirn zu waschen versuchen.“

„Lass es, Seppo, du bist zur Zeit nicht du selbst!“

„Wann bin ich das schon?!“

Ich betätige den Türöffner, reiße unsere Wohnungstür auf und erwarte die Missionare in hochaggressiver Grundstimmung. Die hingegen sind völlig entspannt und freundlich. Sie sind ja nicht doof, sie wissen, wie sehr sie die Häretiker mit ihren permanenten Besuchen nerven. Wie hoch wohl ihre Erfolgsquote ist?

„Guten Morgen! Mein Name ist Jochbain, das hier ist meine Frau. Wir wollten gerne mit Ihnen-„, setzt der füllige Mann an, der getreu dem Klischee gekleidet ist: irgendwie konservativ, irgendwie achtzigerjahregemäß. Kleider machen Leute.

Ich unterbreche ihn sofort, um mir das Zepter des Handelns nicht aus der Hand nehmen zu lassen: „Sie kommen woher?“

„Wir sind von den Zeugen Jehovas.“

Ha! Wusste ich ja gleich! Und seine Masche habe ich direkt durchkreuzt mit meiner knallharten Frage! Er muss seine Maske fallen lassen, steht praktisch nackt da. Einen Seppo lullt man nicht einfach so ein! Das ist ihm zu häufig passiert, massiver Argwohn jedem Menschen gegenüber die Folge.

„Was gibt’s Neues?“, frage ich.

„Neues?“

„Sie kommen alle zwei Monate hier vorbei. Es muss doch auch mal was Neues geben!“

„Herr Tepkau, wenn wir vielleicht-“

„Flotho. Ich bin der hier“, erkläre ich, während ich auf meinen Namen auf dem Türschild zeige, „Tepkau ist meine, äh, Mitbewohnerin.“

„Herr Flotho, wenn wir vielleicht, also wenn meine Frau und ich-“

Dieses Mal unterbricht ihn seine Frau: „Hallo!“

Wie frisch und freundlich, denke ich und grüße fröhlich-aggressiv, eine komplizierte, aber machbare Mischung, zurück: „HALLO!“

„Wenn wir vielleicht mal reinkommen könnten?“

„Sie klingeln hier seit halb zehn die Wohnungen ab! Man möchte meinen, Sie hätten nicht mehr alle Latten am Zaun!“

Ich bin stolz, weil ich mir diesen Spruch zurechtgelegt hatte. Und bis hier berichte ich auch wahrheitsgemäß, während das Folgende sich lediglich an den wahren Ereignissen orientiert.

Also trete ich von der Tür zurück und bitte das Zeugenpaar gönnerhaft in die Wohnung, die nicht mehr lange unsere ist.

„Bitte. Wohin darf es gehen? Wo missionieren Sie am liebsten? Küche? Wohnzimmer?“

„Herr Flotho, wir missionieren ja nicht. Wohnzimmer.“

„Gut, hier rechts.“

Man setzt sich und meine Mitbewohnerin bringt mir einen Kaffee. Ich sehe die neidischen Blicke von Frau Jochbain, die aber keinen Kaffee angeboten bekommt, was ich verdeutliche:

„Dieses ist mein Kaffee. Da Sie ja auch mein Blut als, sagen wir mal, Transfusion ablehnen würden, verweigere ich Ihnen im Gegenzug dieses köstliche Heißgetränk.“

Die Jochbains sind verwirrt, sie blättert in einem Handbuch mit dem Titel

„Ablauf einer Gehirnwäsche“.

Herr Jochbain übernimmt das metaphorische Ruder: „Herr Flotho, Liebe und Gerechtigkeit. Welchen Stellenwert haben diese beiden Dinge in ihrem Leben?“

„Platz zwei und drei, gleich nach Selbstliebe. Das ist meine Dreifaltigkeit.“

„Wissen Sie, Herr Flotho, wir Zeugen lehnen die Dreifaltigkeit ja ab-“

„Das wird mir nun zu theoretisch. Ich bin mehr so der Praktiker.“

„Wir lehnen sie sehr praktisch ab!“

„Das ändert natürlich alles.“

„Sie wissen, Herr Flotho, dass die Menschheit vor dem Harmagedon steht? Unsere Gemeinschaft steht unter dem besonderen Schutz Jehovas.“

„Ich sehe mich eher unter dem Schutz der NATO. Und ist es nicht so, dass der Beginn des tausendjährigen Gottesreiches auf Erden, das sie erwarten, sich immer und immer wieder nach hinten verschiebt? Ich fühlte mich da als Zeuge etwas verschaukelt.“

„Herr Flotho-“

„Herr Jochbain-“

„Sie glauben doch nicht ernsthaft, die NATO könnte etwas gegen das Harmagedon ausrichten?“

„Nun ja, da könnten sie Recht haben. Militärstudien zeigen, dass die NATO nicht einmal das Baltikum länger als 60 Stunden halten könnte, wenn die Russen es sich einverleiben wollen. Nun weiß ich aber nicht, was schlimmer ist: die Russen oder das Harmagedon. Oder ob es nicht auf dasselbe hinausläuft. Wie ist eigentlich so Ihre Erfolgsquote?“

„Wie bitte?“

„Sie glauben ja selbst nicht, dass Sie mich heute noch für Ihre Sache begeistern können, oder?!“

Frau Jochbain blättert wieder nervös in ihrem Handbuch. Sie verharrt lesend und blickt plötzlich freudestrahlend auf:

„Wir hätten hier eine Broschüre für Sie. Wenn wir Ihnen die einfach hier lassen? Zum Schmökern?“

„‚Wachtturm‘?“

„42 Millionen Leser können nicht irren!“, freut sich Frau Jochbain.

„Die vielleicht nicht, aber womöglich die Autoren.“

„Herr Flotho, Sie sind aber auch argwöhnisch. Wenn Sie sich vielleicht einfach mit unserer Lehre vertraut machen? So ganz vorurteilsfrei? Dann melden Sie sich einfach bei uns, ich lasse Ihnen gerne unsere Kontaktdaten hier.“

„Juti. So machen wir es. Wussten Sie, dass Selbstgespräche gefährlich sein können?“

„Hab ich dir doch immer gesagt!“, flüstert Frau Jochbain ihrem Mann zu.