Ich erblinde. Mein linkes Auge ist gerötet.

„Pollen?“, fragt meine Mitbewohnerin.

„Nein, Pollen gehen mir aus dem Weg. Das muss was Schlimmeres sein. Ohne gleich vom Schlimmsten ausgehen zu wollen, glaube ich, ich sollte vom Schlimmsten ausgehen.“

„Vielleicht ist deine Kontaktlinse verrutscht?“

„Ich hab gar keine drin!“

„Vermutlich ist dir da nur was reingeflogen …“

„Ein Vogel?! Das würde man ja wohl sehen!“

„Kannst du denn noch was sehen?“

„Mit rechts, ja.“

„Und links gar nicht?!“, meine Mitbewohnerin nun endlich angemessen und teilnahmsvoll schockiert.

„Doch, mit links auch. Aber guck doch mal, es ist rot und es suppt. Ich googel mal …“

Ich gehe zum Laptop, wo noch die Google-Ergebnisse meiner vergangenen Recherche geöffnet sind. Meine Mitbewohnerin erstaunt:

„‚Hirntrauma‘?! Was hast du da gegoogelt?“

„Ich gab ‚häufiges Stoßen an Dachschrägen Folgen‘ ein. Ich habe vermutlich auch ein Hirntrauma.“

Derweil gebe ich „auge rot suppend“ ein und stoße sofort auf die Diagnose „Bindehautentzündung“.

„Die kann es nicht sein, es ist bestimmt was Schlimmeres!“, sage ich und klicke mich durch bis Ergebnissseite 112, wo dann endlich meine Diagnose zu finden ist:

„Tumor! Ich hatte doch gleich so ein schlechtes Gefühl!“

„Ich finde es gar nicht mehr so rot wie eben“, diagnostiziert meine Mitbewohnerin mir tief in das linke Auge blickend.

„Du nimmst mich nicht ernst! Moment, ich gucke …“, und zum x-ten Mal an diesem Nachmittag renne ich zum Spiegel ins Bad, reiße mir das untere Augenlid herunter, um besser mit meinem Auge ins selbige blicken zu können: „Rot, dunkelrot. Signalrot. Fast pink! Neonrot! Da müssen doch alle Alarmglocken schrillen!“

Schrillen?!“

„Ja, Alarmglocken schrillen!“

„Sie gehen an!“

„Und dann schrillen sie! Mach ein Foto von meinem Tumor.“

„Wozu das denn?“, sie bass erstaunt.

„Für eine eventuell posthume Diagnose.“

Sobald eines meiner Augen rot ist, bin ich im Grunde auf dem Sprung zum Arzt. Inzwischen weiß ich, es kommt öfter mal vor, sodass ich einigermaßen gelassen wie hier beim jüngsten Vorfall reagiere. Es muss 2011 gewesen sein, als ich mich an einem Sonntagmorgen mit einem geröteten Auge in der Notfallpraxis in Düsseldorf wiederfand. Damals war für mich völlig klar, dass ein Herpes mein Auge befallen hat, womit wirklich nicht zu spaßen wäre. Eine entsprechende Google-Diagnose hatte mich auf diesen naheliegenden Gedanken gebracht. Letztlich war es eine Bindehautentzündung, die schon am Nachmittag wieder verflogen, also vermutlich nie eine war.

Wann immer ich lese, dass unsere Notaufnahmen mit Erkältungspatienten verstopft sind, denke ich an diesen Vorfall. Als ich mit einem geröteten Auge stundenlang warten musste, da eingebildete Kranke das Wartezimmer verstopft hatten und mit meinem Leben spielten.

Dieses Mal ist es anders. Es brennt.

„Mein Auge brennt!“, untermauere ich meine Augenkrebsdiagnose. Ich eile ins Bad und sehe noch einmal nach, „Ist es jetzt auch geschwollen?! Oh, mein Gott, mein Augapfel ist angeschwollen. Der ist doch nicht immer so dick!“

„Er ist genau so dick wie der rechte auch!“, versucht mich meine Mitbewohnerin zu beruhigen.

„Du meinst, der rechte ist jetzt auch geschwollen?! Dann ist es kein Tumor.“

„Na, siehst du, Gottseidank. Ist doch alles gut!“

„Gut?! Viel schlimmer! Meine Augen blähen sich auf, bis sie platzen! Mein Gehirn drückt vermutlich auf meine Augen! Es drückt sie raus!“

„Warum sollte es sowas tun?“

„Wegen der Dachschräge in Berlin, wo ich mir viermal pro Woche den Kopf stoße! Da haben wir es! Hirntrauma mit Hirnausdehnung! Darum diese Kopfschmerzen!“

„Du hast Kopfschmerzen?“

„Laut Google habe ich Kopfschmerzen, ja.“

„Seppo, ich muss jetzt los zum Sport.“

„Na, toll! Ich krepiere und du willst zum Sport?! Tolle Freun-, nein, Mitbewohnerin bist du! Ist mein Kopf größer als sonst?“

„Der schwillt nicht an.“

„Siehst du! Weil er das nicht kann, drückt das Gehirn die Augen raus, um sich Platz zu verschaffen!“

„Es ist gar nicht mehr rot“, stellt meine Mitbewohnerin fest.

„Nicht?“

Ich renne wieder ins Bad, reiße das untere Augenlid erst versehentlich hoch, dann runter und sehe die abnehmende Röte.

„Blutsturz!“, rufe ich aus, „Das Blut stürzt vom Gehirn in die Füße! Mein Kreislauf bricht zusammen!“

„Du stehst ja noch.“

„Weil ich sportlich bin, gleiche ich das aus!“

„Ein Blutsturz ist übrigens eine Organblutung! Da stürzt nichts!“, weiß sie besser.

„Du meinst, mein Gehirn blutet?!“

„Ich muss jetzt echt los!“

„Dann bin ich halt tot, wenn du wiederkommst. Liege dann hier, wenn meine Augäpfel dir entgegenkullern, wenn du zur Tür reinkommst. Wenn der seppoplexus aus meinen Augenhöhlen lugt.“

Das ficht sie nicht an, sie verlässt die Wohnung. Ich taumele zurück ins Wohnzimmer und stelle meine Beziehung in Frage. Die Beziehung zu einer Frau, die ihren Sport über mein Ableben stellt.

Eine halbe Stunde später piept mein Handy und leuchtet violett. Oder lila. Für mich dasselbe. Lilaviolett bedeutet: Whatsapp-Nachricht. Von meiner Mitbewohnerin. Mit zitternden Fingern und letzter Kraft öffne ich die Nachricht, nachdem ich zweimal am Entsperrmuster scheitere, da ich ja, wie gesagt, geschwächt bin.

dein augenfoto. kannste fürs seppolog ja verwenden, wenn du nicht schon tot bist

Schreibt sie mir mit dem eben geschossenen Diagnosebild als Anhang. Ich gönne ihr die zwei blauen Häkchen nicht, da sie nun weiß, dass ich (derzeit) noch nicht tot bin. Nur um Recht zu behalten, wünschte ich, tot zu sein.

„Das hätte sie davon!“