Kurz vor fünf. In drei Minuten klingelt der Wecker, dann passiert es wieder. Dieser Idiot. Schlummert selig vor sich hin und ahnt nicht, dass es gleich wieder geschieht. Dann flucht er wieder leise in den Raum hinein, um niemanden im Haus zu wecken. Streichelt dann seine konvexe Beule, interessiert sich aber kein Deut für mein konkaves Gegenstück. Vier Uhr 59. Jetzt kann es sekündlich so weit sein. 

[fiep]

[krawämms]

„Arrrg, scheiß die Wand an. Diese bekackte Dachschräge …“

Warum dieses Ereignis, das mir drei Mal pro Woche unterläuft, nicht einmal aus der Sicht der Dachschräge beschreiben, ging mir eben beim Laufen durch den Kopf. Ich verwarf die Idee sofort, denn es würde nicht viele Zeilen hergeben.

Drei Tage der Woche laufe ich morgens durch Brandenburg nahe dem Todesstreifen, zwei bis drei weitere durch Düsseldorf. Es herrscht eine beachtliche Diskrepanz zwischen diesen beiden Orten als Lauflokalitäten. Zwar notiere ich bei meiner täglichen Laufdokumentation für Falkensee in Brandenburg so klangvolle Straßennamen wie Friedrich-Engels-Allee, Karl-Marx- oder Friedrich-Ludwig-Jahn-Straße, doch bedeutet beispielsweise „Allee“ in Falkensee nicht das gleiche wie in Düsseldorf. Denn in Falkensee sieht alles erst einmal gleich aus. Bürgersteige gibt es nicht, dafür aber schöne Grünstreifen, ganz so, als habe dort jeder Grundstückbesitzer seinen eigenen Todesstreifen vor der Haustür, der ja die ehemalige innerdeutsche Grenze flankiert hatte und heute Teil des Grünen Bandes Deutschland ist. Wo früher gemordet wurde, wird heute gelebt. Wo früher Menschen um ihre Freiheit rannten, renne ich nun auf der Jagd nach Rekordzeiten. Die mir „drüben“ aber nicht gelingen wollen. Warum das so ist, kann ich nur mutmaßen; vielleicht, weil ich in Brandenburg schlicht schlechter schlafe.

Denn kaum kehre ich mittwochs zurück nach Düsseldorf, breche ich dort regelmäßig Rekorde. Heute wieder.

Bevor ich loslaufe, überlege ich grob, wohin überhaupt ich laufe, wenn ich nicht gerade supi spontan drauf bin und völlig unüberlegt losstürme. Meist aber wähle ich eine meiner rund 15 Standard-Strecken, die sich alle stark voneinander unterscheiden. Während die eine eher einen weichen Untergrund bedient, führt mich eine andere quer durch die Düsseldorfer Altstadt, die fast so schön ist wie die Münsteraner. Und wieder eine andere Route bringt mich über eine der Rheinbrücken nach Oberkassel und, wenn ich gut drauf bin, bis nach Meerbusch, wo die reichen Menschen wohnen. Das sind dann aber schon eher längere Strecken.

Eine meiner Lieblingsstrecken führt mich durch den hiesigen Volksgarten über das Uni-Gelände am Botanischen Garten vorbei, entlang der A46 zurück über den Düsseldorfer Südring, der ringförmig im Süden der Stadt liegt. Mit anderen Worten: Für Läufer ist Düsseldorf ein ausgesprochen vielfältiges Terrain, was man von Falkensee nicht sagen kann. In Falkensee herrscht morgens um sechs absolute Stille; in den ersten Tagen glaubte ich, die Apokalypse sei über Nacht über uns hereingebrochen und ich, ausgerechnet!, der einzig Überlebende. Bis ich dann fast von einem LKW überrollt worden bin, da es ja, siehe oben, keine Bürgersteige dort gibt, sodass ich mir die Verkehrswege mit Megalinern teilen muss, die mich Mikroliner natürlich nicht wahrnehmen.

Heute lief ich eine Strecke, die ich den „Zwei-Brücken-Lauf“ nenne, da sie mich über zwei der Düsseldorfer Rheinbrücken führt: Oberkasseler und Rheinkniebrücke; letzte wird seit mindestens einem Jahr saniert. So wurde das Geländer erhöht, vielleicht, um Lebensmüden das Beenden des Lebens zu erschweren. Ich habe es angedeutet probiert und in der Tat ist es jetzt nicht mehr so einfach, den Handlauf zu überwinden. Selbstmörder, und solche, die es werden wollen, müssen also nun auf die Theodor-Heuss-Brücke ausweichen, von der aus es sich aber sicher auch gut stirbt, obwohl ich nie ganz verstehe, warum man in suizidaler Absicht in Wasser springt, da man doch in der Regel schwimmen kann und die Brücken so hoch doch nun auch wieder nicht sind. Vielleicht sind es die fiesen Strömungen im Rhein, die alljährlich Todesopfer fordern, die gar nicht vorhatten, das Zeitliche zu segnen.

Beim Laufen weiß ich meist nach zwei Minuten, ob ich in guter oder mieser Form bin. Heute merkte ich sofort, dass ich in sehr hohem Tempo loslief, was grundsätzlich ein gutes Omen ist, wenn man nicht nach weiteren zwei Minuten feststellt, dass man es nicht halten kann. Ich konnte es halten, lief teilweise mit einem Tempo von vier Minuten 30, was zumindest im Bereich der „Kö“ nicht ganz ungefährlich ist, für Passanten, und von müden Beinen war ebenfalls nichts zu spüren. Denn schwere Beine sind ein untrügliches Zeichen für Müdigkeit, die, so sie nicht verschwindet, einen Lauf zur Hölle machen können.

Gerne laufe ich gemütlich. Ohnehin wird unterschätzt, dass betont langsames Laufen in der Wettkampfvorbereitung unabdingbar ist. Das langsame Laufen trainiert das schnelle Laufen. Wenn ich jedoch nach etwa 30 Minuten noch immer feststelle, dass ich überdurchschnittlich zügig unterwegs bin, stehe ich vor der Frage, ob ich nicht noch einen Zahn zulegen sollte, um einen Streckenrekord zu brechen. Den aktuellen Rekord auf der heutigen Route lief ich im September 2016. 49 Minuten nochwas brauchte ich damals, was schon eine erstaunliche Zeit ist. Und ich ahnte heute, ich bin ihr voraus.

Während mir „Wizo“ in den Ohren dröhnte …

… rechnete ich vor mich hin:

„Wie hoch muss mein Tempo jetzt bleiben, um die Strecke in 47 Minuten zu schaffen? … Vier 59? … Nein, verdammt … Neun Kilometer durch … nein, wie rechnet man das denn?! … Verdammt, wo kam denn nun dieser Radfahrer her?! … Reichen fünf Minuten zehn pro Kilometer? … Will ich das überhaupt?!“

Man hadert. Will man sich anstrengen nur wegen einer Zahl? Man muss. Denn wenn man nach einer halben Stunde realisiert, dass man einen Rekord brechen könnte, dann ist es des Sportlichen Pflicht, das auch zu tun.

„Strenge ich mich halt 20 Minuten an und freue mich danach einen ganzen Tag lang!“

Und genau das ist das Argument. Man hängt sich nochmal so richtig rein, quält sich, ärgert sich dabei, doch wenn man dann wieder zu Hause ist, freut man sich, eine neue Bestmarke erreicht zu haben und fragt sich, das ist zumindest meine Art, ob man den neuen Rekord überhaupt noch brechen kann.

Heute brauchte ich nur 47 Minuten 38. Fast zwei Minuten weniger als vergangenes Jahr. Faszinierend dieser Gedanke, dass ich schneller nie war auf dieser Strecke. Natürlich gehört auch Ampel-Glück dazu, denn meist stoppe ich vor roten Ampeln, wobei ich die Zeit weiterlaufen lassen, was meinem Durchschnittstempo allerdings sehr zusetzt, kann es an Ampeln schonmal um 30 Sekunden fallen.

Auf jenen Strecken, die ich häufig laufe, kenne ich die Ampelschaltungen. Weiß vorher schon, dass wenn ich über die Ampel an der Pionierstraße bei Grün rübergekommen bin, jene an der Graf-Adolf-Straße mich rot empfangen wird. Es sei denn: Man läuft schneller, um die Grünphase noch zu erwischen, das Muster also zu durchbrechen.

Als ich im Oktober 2013 vom Fersen- auf den Vorfußlauf umgestiegen bin, wurde ich binnen Wochen auf jeder Strecke deutlich schneller, was nun einmal in der Natur des Vorfußlaufes liegt, da der Fersenlauf eher bremsend wirkt, da der Fuß vor dem Körperschwerpunkt ausetzt, was dann die Knie auffangen, sodass man nach einigen Jahren ruinierte Knie haben dürfte …

Meine auswendig gelernten Ampelschaltungen konnte ich damals vergessen. Gewohnt rote Ampeln waren plötzlich grün, als ich kam, und umgekehrt. Grundsätzlich freue ich mich über rote Ampeln, verschaffen sie mir doch eine Zwangspause zum Durchatmen. Doch Läufer wissen, dass Pausen eher schädlich sind, stören sie doch den Lauf-Rhythmus, was manchen dazu verleitet, an roten Ampeln auf der Stelle weiterzulaufen, was übrigens falsch ist. Und dämlich aussieht. Es empfiehlt sich vielmehr, beim Laufen immer eine Strecke zurückzulegen, was auch vor Ampeln mit etwas Nachdenken möglich ist. Doch gerade dann, wenn man weiß, man steht vor einem Rekord, werden rote Ampeln zum Problem, verliert man dort gerne mal ganze Minuten. In dem Fall beuge ich die Straßenverkehrsordnung zu meinen Gunsten oder beschimpfe die Ampeln, die sich tatsächlich meist davon beeindrucken lassen und auf Grün umschalten.

Wie belohnt man sich nun nach einem Rekordlauf? Mit einem kettlebell-Training. Und dann wird gekocht. Es wird Hähnchenfleisch (weder aus der Region noch von der Frischetheke) mit Erdnussbutter geben und Prinzessbohnen in Speck.


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