10.44, Düssledorf Hauptbahnhof, Gleis 18

Große Überraschung: Mein ICE 547 ist acht Minuten vor Abfahrt bereits am Bahnsteig. Das gab es an einem Sonntag noch nie. Was ist der Grund? Vermutlich verspätet sich irgendwo bei Köln ein Oberleitungsschaden. Ich sitze am Gang in Wagen 21 und werde begleitet von einer Gruppe aus Männern, die für meinen Geschmack zu viel reden. Und vor allem laut lachen. Ich sehe keinen Grund zu lachen.

„Mach mal einer Fenster auf!“, sagt der eine. Riesengag. Fenster auf im ICE. Die Gruppe lacht. Er ist vermutlich der Komiker in der Gruppe. Fenster auf! Ich liege lachend am Boden. Im ICE!  Ihm wird das Lachen vergehen, da ich wirklich den Eindruck habe, dass die Klimaanlage entweder nicht vorhanden, aus oder kaputt ist.

„Ich suche meinen Hut!“, sagt einer.

„Der ist bestimmt noch beim Peter“, sagt ein anderer.

„Oder der hängt noch am Haken!“, will es ein wieder anderer wissen. Nun verkneift sich der Komiker der Gruppe das nicht, was mir auch durch den Kopf schießt und als wenig witzig verwerfe:

„Wer, der Hut oder Peter?!“ Die Gruppe grölt.

Derweil hat auch mein Kollege den Waggon betreten. Er hat offenbar früher als ich den Sitzplatz reserviert, da er einen Fensterplatz bekommen hat. Noch ist neben mir, am Fenster, der Platz frei; wäre schön, es bliebe so.

ICEs mögen zu den schnelleren Zügen gehören, doch komfortabel sind sie nicht – zumindest nicht die zweite Klasse. Es ist sehr eng und mitunter stickig. Der Zug fährt nun los und ich mache mich an eine Serie, die ich mir gestern aufs Handy geladen habe. Eine „Arte“-Produktion. Bedeutet: entweder richtig gut oder richtig schlecht. Es geht um Canapés. Nein, um „Cannabis“. Ein alter Scherz von mir, den ich hier gerne wiederverwerte.

11.01, Düssledorf Flughafen

Habe nach Wochen endlich herausgefunden, wie man die Lehnen nach hinten schiebt. Es funktioniert exakt so, wie man es erwarten würde. Leider hatte ich aber andere Erwartungen.

11.05, irgendwo nördlich Düssledorfs

Ich verstehe die Serie jetzt schon nicht. Es geht um Drogen und Leute, die damit handeln. Ich ahne, dass die Serie sehr schonungslos sein wird. Darauf will ich vorbereitet sein und stelle meine Sitzlehne wieder hoch. Nur so ist höchstmögliche Aufmerksamkeit möglich. Dass ich nebenbei schreibe, ist natürlich konterpro-, nein, kontraproduktiv. Duisburg. Die Frisur sitzt.

11.10, Duisburg Hauptbahnhof

Das Drogengeschäft, so entnehme ich es der Serie, scheint erträglich zu sein, jedoch auch nicht ungefährlich. Gerade hängt jemand kopfüber an der Decke, unter ihm eine grüne Tonne. Er schreit. Anders als der Zuschauer weiß er schon, was sich in der Tonne befindet.

Nun wird ihm ein Ohr abgschnitten. Es fällt gehörlos zu Boden und in der Tonne ist Wasser. Darin wird er in diesem Moment eingetunkt; ich nehme an, sein Tod als Ziel ist der Hintergrund dieser akrobatischen Aktion, während der Komiker der mich begleitenden Reisegruppe einen Pädophilenwitz macht. Dieses Mal lacht keiner. Da hat er sich offenbar verhoben. Ich kenne das. Wenn man im Übereifer mal versehentlich geschmacklos wird. Wie jüngst die „Taz“ mit ihrer Titelseite zum Tode Helmut Kohls. Ich fand die Schlagzeile im Zusammenhang mit dem Foto durchaus humorig. Isoliert betrachtet nicht schlecht gemacht. Allerdings geschmacklos. Ich erinnere mich gut, wie die „Titanic“ dereinst über den Suizid Hannelore Kohls scherzte. Ich gestehe zwar Satire Grenzenlosigkeit zu, fand das aber ganz subjektiv daneben. Die Aktion der Taz ebenfalls. Aber das spielt keine Rolle, es gibt cainen Grund, das aufzubauschen, weil es letztlich zu belanglos ist und nur einer den Schaden hat: die Taz selbst. Man mag über Kohl denken, was man will; Angriffsfläche genug bietet er ja. Aber zweifellos war es der richtige Mann zum richtigen Zeitpunkt. Die Nummer der Wiedervereinigung hätte einen ganz anderen, einen sehr üblen Verlauf nehmen können. Ihm, aber auch anderen Größen wie Bush sen., Thatcher und Gorbatschow ist einiges zu verdanken. Allerdings hätten die Westmächte etwas offener sein können, was die Ausdehnung der Nato angeht, die an sich ja nicht vorgesehen war. Ich fand’s geil, wie Kohl auf den Eierwerfer zugerannt ist. Schade, dass er ihn nicht erwischt hat. Auch Kohl bedauerte das im Nachhinein. Man wirft nicht mit Eiern. Essen Hauptbahnhof. Die Bundespolizei trinkt „Red Bull“. Bin gespannt, wie das Wetter in Berlin-Spandau ist; meist ist es dort schlecht.

11.28, irgendwo im Ruhrgebiet

Die Männergruppe schweigt. Der Pädophilenwitz wirkt wohl nach, hat die Stimmung gekillt. Humor darf ebenfalls alles, nur eben nicht immer Applaus erwarten.

11.39, nördlich von Bochum

Die Männergruppe diskutiert darüber, ob Philipp Lahm schwul ist. Dass das vielleicht keine Rolle spielt, kommt ihr nicht in den Sinn und ich überlege, ob der eine, mir schräg gegenüber Sitzende, nicht ein Hinterlader ist. Ich schmunzele ob dieses Begriffes, denn ich wurde hier im seppolog mal als homophob beschimpft. Dabei gibt es auch heterosexuelle Hinterlader. Und ich bin auch nicht hinterladerphob. Es ist mir schlicht gleichgültig und ich verachte etwaige Empfindlichkeiten in Bezug auf diese Thematik. Von mir aus darf jeder mit jedem schlafen, solange Tiere dabei keine Rolle spielen.

Sabrina USA, eine durchaus gute Freundin von mir, hat – der Themenwechsel ist etwas unglücklich geraten – seit einiger Zeit einen Hund, der weitestgehend auf Bewegung verzichtet, sie dennoch auf Trab hält. Nennen wir den Hund Nelson. Nelson sieht aus wie unecht. Er sieht aus wie gemalt. Wie ein Plüschtier. Es ist wirklich Wahnsinn. Ich beneide sie um den Hund. Denn ich will auch einen Hund. Und wenn ich keinen habe, soll auch kein anderer einen haben. Das ist nur fair.

Derweil, wir stehen im Bahnhof Dortmund, ist meine Mitbewohnerin in Niedersachsen, wo sie derzeit weilt, erwacht. Sie berichtet, dass sie viel Wasser getrunken habe, sodass ich darauf schließe, dass sie mit Nachdurst zu kämpfen hat. Würde Nelson Nachdurst heißen, hätte auch Sabrina USA mit Nachdurst zu kämpfen.

Die Drogenserie wird zum Problem: Ich komme irgendwie nicht rein. Aber die „imdb“-Bewertung ist ein Knaller. Kann also nur gut sein. Ich kann mir also nicht leisten, erst in Folge acht mit ihr warm zu werde, zumal sie nur sechs Episoden umfasst.

Meine Mitbewohnerin schreibt mir, sie habe nicht heute Morgen viel Wasser getrunken, sondern gestern Abend! Das ist ein erheblicher Unterschied und zeugt von verantwortungsvollem Verhalten. Gute Frau. Genau die richtige an meiner Seite. Ich kippte sonst auf diese.

11.51, hinter Dortmund

Ich starte die Serie von vorn. Zum dritten Mal.

11.53, noch weiter hinter Dortmund

Schrecksekunde: „Bild.de“ titelt „Schüsse auf Trump“. Eine seltsame Faszination ergreift mich, sehe die USA bereits im Bürgerkrieg versinken, mittendrin Sabrina USA mit dem bewegungslosen Nelson. Ich setze meine Brille wieder auf und lese „Flüsse im Sumpf“; es geht wohl um ein kurioses Naturschauspiel. Schnellstens dementiere ich in Wagen 21, was ich eben im Eifer der vermeintlichen Eilmeldung rausposaunte:

„Pardon, Trump wohlauf, es ging um Flüsse im Sumpf.“

Einige Mitreisende geben sich enttäuscht, einer nestelt an seinen Socken und munkelt:

„Ergüsse im Strumpf?!“

Ich schmunzele und beginne die Serie noch einmal von vorn. Es riecht nach Schweiß im Waggon, ich bin es aber nicht, da ich ein hochaggressives Deodorant benutze, das mir schon einmal – und hier lüge ich nicht! – die rechte Achselhöhle blutig geätzt hatte.

12.03, Hamm Westf. Hauptbahnhof

Mein linkes Auge zuckt. Früher hätte ich einen Schlaganfall als Ursache ausgemacht und die Notbremse gezogen. Inzwischen weiß ich es besser. Anders als der mir gegenüber Sitzende. Er scheint zu glauben, ich zwinkere ihm unentwegt zu. Denn er zwinkert zurück. Schamvoll ziehe ich mir mein Käppi ins Gesicht und starte die Serie von vorn. Ich habe Angst, nun auf die Toilette zu gehen.

Jetzt verstehe ich, warum ich die Serie nicht verstehe. Sie spielt in mehreren Ländern dieser Welt. Entsprechende Einblendungen waren mir bei den ersten vier Malen des Guckens offenbar entgangen. Ich bin nun wieder an der Stelle, an der der Typ kopfüber der Tonne baumelt. Gleich purzelt wieder sein Ohr über den Betonboden. Ich bin kein Typ, der gerne Gewalt im Fernsehen sieht. Ich überdenke also meine Entscheidung, ins Drogengeschäft einzusteigen. Bin eh nicht der Typ dafür. Ich bin zu weich.

Also rufe ich Fadi an. Fadi ist so etwas wie ein Drogengroßhandel. So wie „Metro“, nur für Drogen.

„Fadi, folgende Situation: Ich lasse das mit den Drogen. Ich habe Sorge, demnächst kopfüber und ohne Ohr …“

„Seppo?! Nenn mich nicht beim Namen, du Idiot!“

„Ich soll dich nicht ‚Fadi‘ nennen?! Wie dann?!“

„Halt deine Schnauze! Außerdem schuldest du mir eine Menge Mäuse!“

„Mäuse?! Achso, Geld.“

Da versucht jemand, wie ein Gangster zu klingen.

„Du bringst meine Lieferung gefälligst unters Volk und kommst dann mit der Knete rüber!“

„Knete? Achso, Mäuse.“

Gut, das lief jetzt ganz anders, als ich es erwartet hatte. Ich muss nun das Zeug also verkaufen, möglichst gewinnbringend. Aber das soll nicht des Lesers Sorge sein. Vielleicht hilft mir die Lektüre meiner Serie weiter. Ich muss an meinen Halbbruder denken. Er verkauft „Florida Water“. Ganz legal. Zacharias, so heißt er, hat dieselben Eltern wie ich, ich aber nicht wie er. Darum Halbbruder. Ich komme gerade drauf, da er mich gestern besucht hatte. Anders als ich ist er der Sohn, den seine Eltern immer wollten.

12.25, keine Ahnung, wo

Ich beschließe, diesen Text als vollendet zu betrachten, da mich das Schreiben erheblich vom Kneistern der Serie ablenkt. Es hängt schon wieder jemand kopfüber einer Tonne und ich weiß nicht, ob es derselbe wie eben ist oder wieder ein anderer. Nächster Halt wird Bielefeld sein. Noch habe ich cainen Sitznachbarn. Gegen 15 Uhr werde ich am längsten Bahnhof Deutschlands einfahren und kurz erwerbstätig sein.

Der Gestank im Zug nimmt zu.


Hier geht es zum ersten Teil, zum Sonntagmorgen!