(Bildquelle: Von Bundesarchiv, B 145 Bild-F088809-0038 / Thurn, Joachim F. / CC-BY-SA 3.0, CC BY-SA 3.0 de, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=5473698)

Mit Carsten Flöter hat es angefangen: 1990 küsste mit ihm das erste Mal ein Mann einen Mann im deutschen Fernsehen. 1990! So lange hat es gebraucht! Sogar der Zusammenbruch des Kommunismus fand früher statt! Und strenggenommen haben sich schon viel früher kommunistische Führer öffentlich geküsst, meist an Flughäfen, wenn beispielsweise Honecker auf Breschnew traf. Das war bereits 1979, aber die beiden waren ja auch irgendwie Brüder. Ein Bruderkuss ist kein Homokuss. Und ein Homokuss ist auch nur ein Kuss zwischen zwei Menschen, also nichts, was Kleingeistigen Angst machen sollte. Macht es aber! An sich schon wieder witzig, wenn’s nicht so albern homophob wäre.

Hercules und Sägemann haben sich heute den Konfettiregen im Bundestag auf „Phoenix“ angesehen. Sie sind ein schwules Paar, das schon vor Jahren symbolisch mit Bleistift ihre heimische Grundgesetz-Ausgabe geändert hat, damit die Homoehe mitsamt den dazugehörigen Rechten möglich wird. Es ging ihnen nicht unbedingt darum, heiraten zu können, sondern eher um die Symbolik, die hinter dem heutigen Beschluss steckt: Es geht um Gleichberechtigung und Anerkennung. Um Normalität.

Für jemanden, der Schwule und Lesben ablehnt, ist die Homoehe natürlich nicht zustimmungsfähig. So jemanden wird man nicht überzeugen können. Ist auch nicht mehr nötig, denn das Volk – und es gibt ein Volk – steht nicht hinter ihnen. Spätestens mit dem heutigen Tage sind es Menschen aus einem Gestern, das schon bald nicht mehr interessiert.

In der „F.A.S.“ der vergangenen Woche las ich heute eine Auflistung über die Kehrtwenden der Merkel’schen Politik. Plakativstes Beispiel ist wohl die „Energiewende“. Zunächst sagte sie den rotgrünen Atomausstieg ab, um dann, nach einem kleinen Zwischenfall in Japan, recht zügig die deutschen AKW abzuschalten. Nun die erzwungene 180-Grad-Drehung in Sachen schwulesbischer Ehe. Man wirft es ihr vor. Aber warum eigentlich?!

Grundsätzlich neige ich dazu, einem politischen Führer vorzuwerfen, gegen den mehrheitlichen Volkswillen zu regieren. Natürlich sind wir aus gutem Grund und zu unserem großen Glück keine direkte, sondern eine repräsentative Demokratie, die gottseidank keine Volksabstimmungen vorsieht, sodass Frau Merkel deshalb im Amt ist, weil die Menschen mehrheitlich die CDU gewählt haben. Auch verirrte AfD-Wähler müssen das akzeptieren. Für die Unwissenden: Die AfD war mal eine populistische Partei, die einen unangenehmen Erfolg bei den Beleidigten und Uninformierten hatte. Das ist (zumindest vorerst) nicht mehr der Fall, da sie selbst bei Twitter nicht mehr überzeugen kann, aber noch für einige Lacher sorgt.

Frau Merkel ist somit demokratisch legitimiert zu regieren. Dieses System ist bewährt. Auch jetzt noch, wo sie selbst gegen die Homoehe gestimmt hat, was ihr gutes Recht ist. Doch zum einen wird ihr Wendehalsigkeit vorgeworfen, zum anderen nun das heutige „Nein“. Wie sie es macht, sie macht es falsch. Und das schreibe ich hier als SPD-Parteimitglied.

Meine Partei also freut sich heute. Darüber, dass sie Merkel via Koalitionsbruch einen ausgewischt hat. Das mag so sein, aber Kanzler wird Schulz deshalb auch nicht. Mein persönlicher Tipp: Warten wir noch einmal vier Jahre, dann wird es Scholz.

Wendehalsigkeit ihr vorzuwerfen, ist albern. Denn ich sehe es eher so, dass sie – natürlich aus Gründen der Machterhaltung – sich am Volkswillen orientiert. Und das kann ich, solange es verfassungskonform ist (was bei der Homoehe noch nicht völlig klar ist), nicht schlecht finden. Im Gegenteil: Mit ihrem „Nein“ bleibt sie bei ihrer vermeintlich persönlichen Auffassung und winkt dennoch als Mitglied einer Regierungspartei das „Ja“ durch. Ich sehe keinen Grund zur Schadenfreude. Wieder im Gegenteil: Denn womit geht die SPD jetzt in den Wahlkampf? Bleibt ihr nur noch das Steuerkonzept, das übrigens wirklich erstmals für eine gerechte Umverteilung sorgt, aber vermutlich eh nie umgesetzt wird.

Ich sehe keine Niederlage für Angela Merkel. Sie ist ja keine Autokratin, die davon ausgehen kann, dass alles mit ihrem Willen konformgeht. Und ja, sie hat ihre Meinung geändert, was das Adoptionsrecht angeht. Wieder eine 180-Grad-Wende? Ja, klar! Aber warum soll denn eine Bundeskanzlerin nicht mal ihre Meinung ändern dürfen? Tut sie es nicht, wird ihr Sturheit vorgeworfen, tut sie es doch, passt es auch wieder nicht. Dennoch führt sie Artikel sechs des Grundgesetzes an, in dem sie den Schutz der Ehe von Mann und Frau begründet sieht. Offen, vor Kameras, begründet sie so ihre Ablehnung. Sie versteckt sich nicht, sie windet sich nicht. Sie ist aus ihrer Sicht verfassungstreu. Finde ich, muss man respektieren. Auch wenn ich gleichzeitig sage: Dann muss das Grundgesetz angepasst werden. Denn mir persönlich ist es völlig egal, wer wann wo wie heiratet, sofern keine Minderjährigen daran beteiligt sind.

Heute wurde Volkes Wille durchgesetzt, glaubt man diversen Umfragen, was ich tue. Ich würde behaupten, den meisten ist es eh egal, ob da nun zwei Frauen oder Männer dieselben Rechte erhalten wie der „übliche“ Mannfrau-Mix. Ich staune nur, dass es so lange gedauert hat. Für mich ist es vor allem ein Signal an die Welt: Wir zeigen, dass wir ein freies Land sind, ein liberales. Das sehe ich für Deutschland nach wie vor als sehr wichtig an, weil wir mal sehr unfrei waren und auch anderen Völkern mehr als die Freiheit geraubt haben. Homosein war mal ein Todesurteil, später dann noch immer eines gesellschaftlicher Ächtung. Wir haben einen neuen Grad an Freiheit erreicht, der hoffentlich Bestand haben wird.

Der konservative Markenkern der Union sei nun beschädigt, lese ich. Das halte ich für Unsinn, denn „konservativ“ kann ja nicht bedeuten, auf alle Jahrhunderte Dinge auszuschließen. Große Dinge in Deutschland haben sich schon immer erst dann getan, wenn Dogmen über den Haufen geworfen wurden. Dass wir wirtschaftlich so gut dastehen, was nicht bezweifelt werden kann, ist Merkels Vorgänger zu verdanken, der ebenfalls Dogmen seiner Partei ignoriert hat. Es wird seitdem immer so getan, als sei die SPD nur deshalb seit Jahren im Umfragetief. Ich glaube, so nachtragend ist der Wähler gar nicht; es liegt wohl daran, dass die SPD einfach niemanden hervorbringt, der eine gewisse Strahlkraft nach außen trägt; der Visionen transportiert, die übrigens auch ein Helmut Schmidt entgegen seiner Empfehlung, zum Arzt zu gehen, hatte. Der „konservative Markenkern“ der Unionsparteien kann ja unmöglich der sein, sich dem gesellschaftlichen Wandel zu widersetzen. Das wiederum bedient ja dann doch eher die AfD, also das Verschließen der Augen vor Entwicklungen und Wahrheiten. Gesellschaften, staatliche, streben immer in Richtung Freiheit, da Freiheit dem Menschen liegt. Autokratien haben nie ewigen Bestand, selbst Nordkorea öffnet sich – wenn auch auf einem erbärmlichen und unzureichendem Niveau. Das Freiheitsstreben des Menschen ist nie auf Dauer aufzuhalten. Er ist bereit, sie unter großen Opfern zu erreichen. Und wenn es sein muss, dann durch einen Fernsehkuss mit Robert Engel. Ich hab den damals gesehen, 1990, und fand ihn völlig belanglos.

Hercules und Sägemann sind in diesem Moment betrunken.

„Fast schon schade, dass wir bald normal sind, wenn wir heiraten!“, sagte Sägemann am Mittag.

„Wir sollten ein Dreierbündnis mit einer Frau in die eheliche Institution einführen“, schlug Hercules vor.

Unsere Gesellschaft ist heute nicht nur offener geworden, sie ist auch dem menschlichen Wesen gerechter geworden. Und das erst im Jahr 2017. Aber es hat auch bis ins 19. Jahrhundert gedauert, bis der erste Mensch geflogen ist.

Erstaunlicher ist jedoch, wie lange es für das ẞ gebraucht hat. Nun endlich kann Carsten Flöter von der LINDENSTRAẞE sprechen. Schreiben.