Wolkenverhangener Himmel, leichter Regen, aus der Ferne ist ein Grummeln zu hören.

„Können wir nicht wenigstens in der Küche das Licht einschalten?“, fragt meine Mitbewohnerin.

„Nein! Auf keinen Fall! Lichtstrahlen sind unberechenbar!“

„Eigentlich sind Lichtstrahlen sehr berechenbar“, erklärt sie mir.

„Wenn auch nur der Hauch einer Lichtwelle den Schlitz unterhalb der Wohnungstür passiert und so ins Treppenhaus gelangt, weiß sie, dass wir zuhause sind!“

„Wir sitzen seit drei Tagen im Dunkeln. Ich habe mich krankgemeldet und du müsstest in Berlin sein! Wie lange soll das noch so gehen?!“

Auf diese Frage habe ich caine Antwort. So komfortlos dieses Leben im Dunkeln ist, ist es doch noch immer besser als ihr die Tür zu öffnen. Vor drei Tagen stand sie das erste Mal vor unserer Wohnungstür, was nicht sein konnte, da sie eigentlich tot ist. Ich selbst habe sie des Lebens verwiesen.

Bei Facebook logge ich mich nicht mehr ein, sie darf nicht sehen, dass ich online bin. E-Mails des sozialen Netzwerks teilen mir mit, dass sie mir bereits 25 neue Nachrichten geschickt hat. Ans Handy gehe ich nicht, wenn „Lara (tot)“ auf dem Display erscheint.

Doch der größte Terror geht von der Türschelle aus. Jeden Tag steht sie etwa fünfmal vor unserer Tür. Nicht die Schelle, sondern Lara. Klingelt zunächst, klopft dann – und ruft. Quer durch das Treppenhaus:

„Seppoooooooo! Bist du im Urlaub?!“

Einmal war ich versucht, ja zu sagen, denn das würde Lara sehr wahrscheinlich schlucken und überhaupt nicht skeptisch machen. Immerhin war sie ähnlich klug, als sie auf mein Geheiß hin kopfüber in ihren Thermomix ™ gestiegen war, um einen Ölwechsel vorzunehmen. Und wie wir inzwischen wissen, nachdem jener Text hier im seppolog erschienen war!, ist dieses Küchengerät tatsächlich nicht ganz ungefährlich. So wie Jules Verne oder auch Ray Bradbury in ihren Werken diverse Technologien vorhergesagt haben, so gelang ähnliches nun auch mir, womit ich mich als großer Schriftsteller einreihe in die Reihe, naja, großer Schriftsteller. Weil ich die Thermomix-Problematik vorhergesehen habe, werde ich künftig also in einem Atemzug mit den großen sciencefiction-Autoren genannt werden, was keineswegs zuviel der Ehre ist, sondern mir schlicht gerecht wird. Und ich hatte schon Sorge, dass ich erst posthum zu meinem mir zustehendem Ruhm gelange!

„Ruf Ohßem an!“, schlägt meine Mitbewohnerin mir vor. Kriminalhauptgefreiter Ordophob Ohßem ist der Leiter der Mordkommission „Blonder Engel“, die seit Februar dieses Jahres den Mord an Lara untersucht. Da Ohßem wenig Fortschritte macht, steht er schwer in der Kritik, doch Ohßem hat ein viel größeres Problem:

„Ich kann ihn nicht anrufen, er sucht doch noch sein Telefon!“, sage ich meiner Mitbewohnerin, der sofort klar wird:

„Das ist in der Tat ein Problem. Auch für den Fortgang dieser Geschichte. Wir wirst du nun vorgehen?“

„Ich werde ihn überraschend an unserer Wohnungstür läuten lassen!“

Und just in dem Moment, als wäre Zufall unberechenbar, was er ja ist, klingelt es an unserer Wohnungstür!

„Großer Gott!“, rufe ich flüsternd …

Rufendes Flüstern vermögen nur Männer. Frauen können das nicht. Ich selbst habe das erste Mal in einer Wirtschaftspolitik-Vorlesung festgestellt, dass ich nicht mehr flüstern kann, ohne dabei laut zu rufen. Ich wollte damals meiner Kommilitonin Desi, die über einen unfassbaren Humor verfügte, zuflüstern, dass unser Professor einen enormen Schaden habe. Da Männer aber eben nicht leise laut flüstern können, also entweder nur besonders leise, unhörbar nahezu, oder eben sehr laut rufend, hörte nicht nur Desi von meiner Psychoanalyse bezüglich unseres Dozenten, sondern auch dieser selbst, worauf er mich bat zu begründen, warum sein Schaden denn so enorm sei. Ich blieb die Woche darauf dieser Vorlesung fern, auch wenn Desi großen Spaß an diesem Fauxpas hatte. Ruhe Desi weiter in Frieden.

„Großer Gott!“, rufe ich also laut flüsternd, woraufhin meine kampfsporterprobte Mitbewohnerin mir mit ihrem Daumen auf eine bestimmte Stelle nahe meiner Halsschlagader drückt, sodass ich umgehend in einen Tiefschlaf falle.

„Seppo, hör auf zu flüstern!“, höre ich sie noch sagen.

Es ziehen zwei Stunden ins Land. Ich öffne meine Augen und sehe … das Gebiss meiner Mitbewohnerin!

Das muss ich erläutern. Das ist so eine kranke Pärchensache. Jedes Pärchen hat ja vermutlich so seine kranken Insider. Bei uns ist es derzeit die Nummer mit der Überraschung beim Öffnen der Augen. Schwer, hier rüberzubringen; ich versuche es: Es begab sich vor geraumlanger Cait, dass ich meine Mitbewohnerin morgens sanft zu wecken versuchte, indem ich mit meinen Augen ganz nah an ihre ging, damit sie mich sofort sieht, wenn sie aufwacht. Ich habe dabei allerdings unterschätzt, dass ein Auge in Großaufnahme als das erste, was man morgens sieht, durchaus erschreckend wirken kann. Vor einigen Tagen öffnete hingegen ich meine Augen und sah das strahlendweiße Gebiss meiner Mitbewohnerin, nur wenige Millimeter von meinem rechten Auge entfernt. Und ein Gebiss in Großaufnahme ist noch beeindruckender als ein aufgerissenes Auge.

„Grundgütiger! Hast du mich wieder in Ohnmacht versetzt?!“, frage ich bass erstaunt. Denn das tut sie derzeit immer. Sie hat bei der Selbstverteidigung gegen marodierende Männer gelernt, wie man mit einfachen Handgriffen einem Menschen das Bewusstsein raubt. Wann immer ihr etwas an mir nicht passt, setzt sie mich schachmatt.

„Ja, du hast so laut geflüstert, als es an der Tür klingelte! Sie hätte dich hören können!“

„Und, hat sie?“

„Nein, hat sie nicht!“, sagt plötzlich eine tiefe Stimme. Es ist die von Bahnentstörungstechniker Ordophob Ohßem.

„Detective Ohßem! Sie?!“

„Ja. Herr Flotho, guten Tag. Ich bin hier in Sachen Mordfall ‚Blonder Engel‘. Es gibt Neuigkeiten. Vorab jedoch: Möchten Sie Ihre Mitbewohnerin anzeigen? Sie hat sie offenbar k.o. geschlagen! Keine falsche Scheu! Auch Frauen schlagen in Beziehungen, Sie brauchen sich nicht zu schämen!“

Ich will gerade zur Antwort ausholen, da höre ich – in unserer Küche! – unseren Nachbarn Herrn Fahrgescheit sagen: „Er schlägt sie!“

„Was?!“, interveniere ich, „Ich tue mich sogar schwer, Männer zu schlagen! Wie käme ich dann dazu, also ich meine, ich bin großer Frauen-Fan!“

„Sie hat ständig ein blaues Auge!“, argumentiert Herr Fahrgescheit. Frau Fahrgescheit stößt ihn vor der Seite an: „Lass gut sein, das geht uns nichts an!“

Sie auch hier? Ist das wieder eine dieser Nummern, wo plötzlich mein gesamtes Figuren-Universum in meiner Küche steht?!“

„Hallo!“, ruft jemand, der sich den Weg zum Küchentisch bahnt, auf dem ich aufgebahrt bin.

„Rudine! Du auch noch hier?! An sich hört man dich ja immer als erste.“

„Seppo, ich werde wohl nicht über euch einziehen“, ruft Rudine, die immer ruft. Einen lauteren Menschen habe ich nie kennengelernt.

„Richtig“, ergänzt nun Oberkellner Ohßem, „Wie ich eben sagen wollte, gibt es Bewegung in unserem Mordfall.“

„Ich schlage sie nicht. Sie kriegt in ihrer Kampfkunstschule immer einen aufs Auge, weil ihre Deckung zu wünschen übrig lässt. Das ist alles. Können Sie sich nicht vorstellen, was passiert, wenn man diese Frau auch nur versucht zu schlagen? Sie wollte mir einmal etwas zeigen, was sie gelernt hatte und brach mir fast den Daumen! DEN DAUMEN!“

„Es geht hier einmal nicht um Sie, Herr Flotho“, setzt Kaktologe Ohßem an.

„Ich liege hier auf meinem Küchentisch und sämtliche Nachbarn und ein Kriminalhauptkommissar stehen drumherum!“

„Ich bin nicht deine Nachbarin“, sagt beleidigt Rudine, „Und werde es wohl auch nie.“

Nachdem Lara das Caitliche gesegnet hatte, sollte Rudine in ihre Wohnung zwei Etagen über uns einziehen, was mir einiges an Kopfzerbrechen eingehandelt hatte, da ich Lara ja eben deshalb umgebracht hatte, um endlich etwas mehr Ruhe zu haben, jene Ruhe, die mir Rudine wohl kaum gebracht hätte. Ein klassischer Vom-Regen-in-die-Traufe-Sachverhalt.

„Wenn Fachbereichsleiter Ohßem jetzt mal zum Punkt kommen könnte?“, bitte ich um Tempo.

„Nun, es ist so: Der Leichnam des Opfers Lara Ungern ist … also er war … ulkig eigentlich … plötzlich weg!“

„Na gut, jemand wird eine Leiche geklaut haben. Letztens noch bei ‚Shameless‘ gesehen. Die brauchten dort ’ne Leiche, um irgendwie an ein Haus zu kommen. Ähnliches wird sich hier zugetragen haben!“, erklärt eine mir vertraute Stimme.

„Archobald?!“

„Ja, mich hattest du wohl nicht mehr auf der Agenda!“

„Was zur Hölle tust du denn hier?!“

„Eure Wohnungstür stand auf, da dachte ich, ich komme mal rein! Und hat sich ja auch gelohnt, viel los hier! Ich wollte fragen, ob du mir nochmal beim Zusammenbau eines Schrankes helfen könntest.“

„Jetzt?! Archobald, du siehst doch, es ist ungünstig. Ich liege auf einem Tisch. Herr Ohßem, was heißt denn das nun?“

„Nun, wir gehen davon aus, dass das Opfer Lara Ungern, die Opferin also, falls Feministen anwesend sein sollten-“

„Danke“, wirft Rudine ein.

„Dass das Opfer nur ein temporäres Mordopfer war und nun wider Erwarten lebt und ohne Abmeldung die Pathologie verlassen hat, was noch ein deftiges Bußgeld nach sich ziehen wird. Und nun die eigentliche Sensation, Herr Flotho. Der Grund, warum ich hier bin.“

Chemiedoktorand Ohßem greift in seine rechte Jackentasche und zieht etwas hervor. Die Anwesenden staunen hörbar, Frau Fahrgescheit verliert ihr Bewusstsein.

„Ich war es nicht!“, sagt meine Mitbewohnerin, der ebenfalls die Überraschung nicht abzusehen ist.

Plötzlich sind Schritte aus dem Flur zu hören.

„Hallo?“, ruft da jemand. Und ich erkenne die Stimme.

„Merugin, du kommst mindestens drei Absätze zu spät!“

Doch was der Apotheker Ohßem aus seiner Jackentasche gezaubert hat, erfahren wir erst im nächsten Teil der Mysteryserie „Blonder Engel“, engel … engel … engel (Echoeffekt, bitte entsprechend lesen).