Damit wir mich einordnen können: Es ist 17.54 Uhr, ich sitze im ICE 844 von Berlin-Spandau nach Düsseldorf, was inzwischen eine gewisse Routine für mich darstellt. Oder anders gesagt: Ich weiß, wie es läuft im Zug. Ich hab’s raus, mir macht cainer etwas vor. Der Intercity-Express: mein drittes Wohnzimmer. Hier sitze ich, hier lese ich, hier schlafe ich, hier schreibe ich. Wagen 21, Sitzplatz 45. Wie immer auf meinen Rückfahrten.

„Warum immer Platz 45?“, wollte kürzlich mein langjähriger Kollege Christopher von mir wissen.

„Weil das der Platz neben Nummer 47 ist.“

„Müsste das nicht 46 oder 44 sein?!“

„An sich schon, aber die Deutsche Bahn zählt irgendwie anders.“

Kapiere ich übrigens erst in diesem Moment! Sie vergibt die Platznummern gleich dem Prinzip von Hausnummern, also die gerade Zahlen von den ungeraden getrennt. Ich sag’s ja: Mir macht hier cainer was vor, wenn’s ums Bahnfahren geht. Aber warum nun ausgerechnet 45?

„Ganz einfach, Christopher. Der Nachbarplatz 47 ist nicht reservierbar, anders als die 45.“

Bahnexperte Seppo: Vermutlich hält die Bahn einige der Plätze für Kunden, die nicht reserviert haben, vor.

„Und wenn ich nun einen Platz neben einem Unreservierbaren besetze, ist die Wahrscheinlichkeit, dass ich einen Sitznachbarn bekomme, geringer, als säße ich neben einem reservierbaren!“

„Teufelskerl, Seppo!“

„Ich weiß, mir macht keiner was vor.“

Und tatsächlich, meist habe ich hier im vordersten Waggon keinen Sitznachbarn, sodass ich schlicht mehr Platz habe, den ich bei Bedarf freilich räume. Allerdings glaube ich, dass ich niemand bin, neben den man sich gerne setzt. Ich beobachte oftmals, dass die Leute an meinem freien Nachbarsitz vorbeigehen und sich lieber woanders hinsetzen. Aura.

Vergangene Woche, nur kurz nachdem ich Christopher von meinem Trick in Kenntnis gesetzt habe, betrat ich Wagen 21 und es bot sich mir ein Bild des Grauens: Platz 47 war besetzt! Meine Theorie – dahin.

Das eigentliche Problem jedoch bestand darin, dass mein Sitznachbar leider so roch, wie er aussah. Ich habe ihn fotografiert, als er schlief. Doch selbst geschwärzt würde ich das Bild nicht der Öffentlichkeit preisgeben, da es mir der Anstand verbietet.

Bereits von Weitem sah ich, dass dieser Mann schon seit längerem nicht mehr in Kontakt zu Wasser gestanden hat. Weite Teile seines Körperfettes trug er in seinem Haupthaar; einen ganzen Laib Brot hätte man mit der fettigen Masse scheibenweise schmieren können.

Über dem beigen Hemd trug er eine braune Lederweste und irgendwie dachte ich, solche Leute tragen immer eine braune Lederweste und zu allem Überfluss eine Brille mit Brillenband.

Widerwillig nahm ich neben ihm Platz und war nun eingekesselt zwischen ihm und dem Fenster, weil der feine Herr sich ja immer einen Fensterplatz reservieren muss. Anderweitig war ohnehin kein Ausweichplatz frei. Und so dauerte es nicht lang, bis sich ein beißender Geruch durch meine Nase hinein in mein Hirn bahn brach.

Ich weiß, es kann viele Ursachen dafür geben, dass ein Mensch intensiv riecht, sich nicht wäscht. Erkrankungen können der Grund sein oder Angst vor Wasser. Dennoch fiel mir jedwede Form der Empathie schwer, Empathie hatte ich auf jener Fahrt nur für mich übrig. Denn da waren auch noch die Fingernägel. Zehn Stück, alle sehr lang, nach vorn spitz zulaufend. Die eindrucksvolle Menge an Schmutz unter diesen Nägeln bildeten einen schönen Kontrast zu seinem weißen Brillenband. Weitere farbliche Abwechslung brachten Zeige- und Mittelfinger seiner rechten Hand: Anders als die anderen acht Finger waren sie bräunlich. Ich hoffe, es war Nikotin der Grund.

Ich kam nicht weg. Ich informierte umgehend via Whatsapp Freunde über meine Situation. Doch zu helfen war mir nicht. Ich konnte nur noch hoffen, dass er den Zug in Wolfsburg verlässt. Tat er nicht.

Okay, dann in Hannover?

Nein. Er regte sich nicht.

Durchhalten bis Bielefeld.

Er hielt länger durch.

Gut, dann in Hamm? Stieg er in Hamm aus?

Nein, da schlief er.

Erst in Dortmund ging er, tat vorher jedoch Ungeheuerliches!

Man kann sich ja in Dinge hineinsteigern. Zumal wenn man gerade nichts anderes zu tun hat, als seinen Körper möglichst eng an die Fensterfront zu drücken, um maximalen Abstand bewahren zu können. Ich steigerte mich in dem Moment in meine Abneigung hinein, als er eine Packung Scheibenkäse (Gouda, jung) von „Ja!“ aus seiner Tasche holte. Sie mit seinen spitzen Nägeln öffnete, die oberste Scheibe in Streifen riss, um sie dann streifenweise zu essen. Scheibe für Scheibe. Scheibenstreifenweise. Der Geruch des Käses vermischte sich mit dem ohnehin schon gewagten Mix aus Urin- und Schweißduft, was in mir eine ungeahnte Aggression hervorrief.

Ich überlegte. War das nun der Moment, wo man mal was sagt? So was wie:

„Es tut mir leid, aber ich muss Ihnen jetzt mitteilen, dass ich einen beißenden Geruch aus Ihrer Richtung kommend vernehme. Kann man da mal was machen?“

Es fehlte nicht viel. Ein Mann im Alter von, na, wie alt wird er gewesen sein?, 55 Jahren muss doch wissen, dass unsere Gesellschaft ein Mindestmaß an Körperhygiene so übel nicht findet. Sieht er im Spiegel nicht, dass das einzelne Haar auf seinem Kopf gar nicht mehr auszumachen ist, weil es mit den anderen zu einem Klumpen Fetts verschmolzen ist? Zu einer talgigen Masse, die er zu einem Hut formen könnte?! SIEHT MAN DAS NICHT?!?!?!?!?!!1111!??!?

Bin ich nun ungerecht? Intolerant auf jeden Fall, da mache ich mir weniger Illusionen drüber als die meisten anderen – aber auch ungerecht? Ich kenne sein Schicksal ja nicht. Vielleicht durfte er zur Zeit kein Wasser an seine Haut lassen. Vielleicht hat er eine Phobie vor Nagelpflege. Oder einfach eine schlimme Kindheit. Oder alles.

Als er einschlief, bei Hamm, da erwischte ich mich bei dem Gedanken:

„Mit etwas Glück ist er gerade gestorben und ich kann ihn unauffällig unter den Sitz schieben.“

Doch sein gelegentliches Schnarchen sprach dann doch eher für Schlaf.

Dortmund. Er ging. Doch zu meinem Schrecken blieb sein Geruch. Den ließ er einfach im Zug. Bis Düsseldorf, wo ich dann ausstieg, blieb mir sein Lockstoff in der Nase hängen. Beim Aufstehen hatte ich sogar vermieden, seinen verwaisten Sitzplatz auch nur zu berühren. Wieder zuhause duschte ich umgehend und natürlich ist mir klar, dass selbst tägliches Duschen strenggenommen ungesund ist. Aber keinesfalls wollte ich meine mich Zuhause erwartende Mitbewohnerin in Kontakt mit dieser Kontaminierung bringen.

Übrigens: Wer im Glashaus sitzt und so weiter … denn ich habe heute den ganzen Tag auf übelste Weise Schweiß abgesondert, was schlicht der Schwüle in Berlin geschuldet ist. Es ist ja durchaus denkbar, dass ich in diesem Moment alles andere als angenehm dufte. Was mir unangenehm wäre angesichts der sehr hübschen Dame zwei Plätze weiter neben mir. Es gibt aber auch schöne Frauen! Sie ist gerade mit ihrem Handy beschäftigt. Schreibt vielleicht jemandem:

„Boah, Alter, hier sitzt so ein glatzköpfiger Typ im Wagen, der nicht nur die ganze Cait mit seinem Getippe nervt, sondern auch noch übelst riecht. Ich hoffe, das sind Schweißflecken auf seiner Hose.“

Das hoffe ich auch.


Der Leser möge noch einmal einen Blick auf das heutige Beitragsbild werfen. Es steht in cainem Zusammenhang zu diesem Text, da ich ursprünglich über etwas anderes schreiben wollte, was ich auf dieser Fahrt nach Düsseldorf noch gerne nachholen werde!