Ich schreibe dieses aus dem ICE 844 auf der Fahrt von Berlin-Spandau nach Düsseldorf. Es ist 19 Uhr elf und ich kann von Glück reden, dass ich es in diesen Zug geschafft habe.

Nicht, dass ich unpünktlich war oder so. Auch der Zug war auffallend pünktlich. Sogar zu früh. Und genau das war mein großes Glück. Denn obwohl schon 20 Minuten vor dem Zug am richtigen Bahnsteig, hätte ich ihn fast nicht betreten können. Denn:

Ich war festgekettet.

Ausnahmsweise sei dem seppolog-Leser an dieser Stelle gestattet, sich für einen curzen Moment von diesem Text loszulösen, um noch einmal einen Blick auf obigen Screenshot der Wirklichcait zu werfen. Denn ich halte es für möglich, dass sich das Motiv dem jungfräulichen Betrachter nicht auf Anhieb erschließt. Also, was sehen wir?

Eine Bildbesprechung.

Vom übertrieben inflationär eingesetzten branding durch zwei stilisierte Köpfe des Autors abgesehen teilt sich das Bild für den Betrachter in zwei Hälften: Sehen wir im unteren Bereich eine Art Textil, wird der obere Teil von der Abbildung eines Gitters dominiert. Zwei gegensätzliche Materialien – eines weich, das andere hart -, die verbunden werden durch eine seltsam anmutende Kette.

Sehen wir genauer hin. Bei dem Textil handelt es sich um eine Hose; besonders findige Betrachter können in ihr eine „kurze Hose“ ausmachen, da deren Träger am linken Bildrand freimütig weißes Bein zeigt. Das einmal erkannt wird deutlich, dass der Hosenträger, also der Träger der Hose, nicht etwa der Hosenträger im Sinne von Hosenträger, auf einer Bank sitzt, die an Polsterung allerdings zu sparen scheint. Aber diese Kette?!

Hier kann ich Aufklärung anbieten: Es handelt sich um meine völlig funktionslose Hosenkette, die aber vielleicht auch Portemonnaie-Kette heißt. Sie verbindet meine Hose mit meiner Patte und das schon seit vielen Jahren, womit sie nicht mehr zur Disposition steht. Auch nicht nach dem heutigen Ereignis. Denn diese Kette verband vor etwa eineinhalb Stunden noch etwas anderes:

Mich mit der Bank.

Ich sitze so da, als ich auf meinen Zug warte und spiele mit meinem Handy. Trotzdem ich mich in Berlin befinde (Ja, ich weiß, Spandau ist nicht Berlin, ist es aber doch!), habe ich kein mobiles Internet. Nicht, dass ich es jetzt unbedingt gebrauchen könnte, aber für eine Leerlaufhandlung wäre mir das ziellose Geklicke durchaus willkommen. Das sieht meist so aus:

  1. Facebook-Chronik bis in die Unendlichkeit durchscrollen.
  2. Gucken, wie mein vergangener Post auf meiner Facebookseite ankam. Drei Likes? Geil, geht steil bergauf!
  3. Blog-Kommentare „liken“ und/oder kommentieren.
  4. „Spiegel Online“ besuchen.
  5. „DWDL“ besuchen.
  6. „Kress“ besuchen, mich in der Rubrik „Köpfe“ suchen (abermals rausgelöscht, da nicht relevant).
  7. Zurück zur Facebook-Chronik, falls sich in den zurückliegenden zwei Minuten was getan hat (finde lustiges Katzenvideo).
  8. Lustiges Katzenvideo an Freunde verschicken.
  9. Lesen, was Freunde antworten („Seppo, behalt diese scheiß Katzen endlich mal für dich“).
  10. Mit „Daumen hoch“ antworten.
  11. Auf die Whatsapp-Nachricht meiner Eltern warten (seit Minuten steht dort „schreibt …“, am Ende erscheint vermutlich nur ein kurzes Wort).

Das alles kann ich nun nicht. Kein Netz. Und die dadurch gewonnene Zeit hätte ich für meine Befreiung nutzen können. Wenn ich denn schneller auf meine Gefangenschaft aufmerksam geworden wäre.

17 Uhr 46. Der Zug kommt früher als angekündigt. (Nebenbei erwähnt kann ich nach vier Monaten des zweimaligen Bahnfahrens pro Woche nichts Negatives über dieses Bahnunternehmen sagen. Zufrieden stelle ich fest, cain Nörgler zu sein.) Ich will aufstehen, stoße jedoch auf halber Höhe auf einen ruckartigen Widerstand. Etwas – jemand?! – hält mich fest. Ich sitze nicht, ich stehe nicht aufrecht. Ich befinde mich in einer Körperhaltung der Zwischenwelt. Auf die Zuschauer dieser Szene muss ich seltsam unentschlossen wirken.

Will er sitzen? Will er stehen? Weiß er es noch nicht?

Ich will stehen!, schreit mein Unterbewusstsein und nach einem weiteren Anlauf, in den lotrechten Stand zu gelangen, was mir misslingt, erkenne ich das Problem: Meine Hosenkette hat sich ungünstig mit der gitternen Sitzbank vereint.

Hier werden Erinnerungen wach. Ich erinnere einen Aufsatz, den ich in der vierten Klasse schrieb. Ich hielt ihn für ein Meisterwerk und tue das noch heute. Er hieß „Die verbotenen Äpfel“. Allein der Titel war eine Sensation und hätte die Welt damals Notiz von diesem Werk genommen, wäre ich heute ein anderer Mensch. Vielleicht veröffentliche ich ihn nochmal; in der „Spiegel“-Bestsellerliste ist ja jüngst ein Platz überraschend frei geworden. (zwinker) Wie dem auch sei, zum Verhängnis wurde mir damals der Gebrauch des Wortes „gittern“. Ich schrieb von einer „gitternen Treppe“. Allen, aber auch wirklich allen Mitschülern war völlig klar, was ich damit gemeint hatte. Nur meine Lehrerin, Frau Dombrowski, bestand darauf, dass es das Wort „gittern“ nicht gibt. Frau Dombrowski, da Sie noch leben, wie ich weiß: Das Wort „gittern“ gibt es nun wieder! 30 Jahre nach ihrem Verriss meines genialen Aufsatzes über den Diebstahl der Äpfel vom Nachbarn findet es hier erstmals wieder Verwendung und wird in seinem Siegeszug durch die Welt der Hochklasse-Literatur unaufhaltsam sein!

Ich hänge fest. Zwei Kettenglieder sind offenbar durch eine Gitter-Zelle gerutscht, haben sich ineinander verhakt und mit der gitternen Bank

Lesen Sie genau hin, Frau Dombrowski!

verkeilt. Vor mir, keine zwei Meter entfernt, mein Zug, der mich zu meiner Mitbewohnerin bringen soll. Und ich hänge da wie ein Idiot an der Bank fest, weil ich meine, eine solche Hosenkette tragen zu müssen!

Wer ICE fährt, weiß, sie halten nicht lange. Sie haben es eilig. Was also ist zu tun? Was opfere ich nun? Den Zug? Mein Portemonnaie? Die Kette? Wie schnell kann ich die Kette von der Geldbörse lösen?

Hektisch reiße ich an der Kette, belehre mich eines Besseren und versuche es sanft. Und rufe verzweifelt dem an einer Zugtür stehenden Zugbegleiter zu:

„Halt! Ich hänge fest! Ich hänge an der Bank fest! Meine Kette!“

Fragende Blicke ernte ich als Replik.

„Hosenkette! Ich habe an meinem Portemonnaie … Wie lange können Sie warten?“

„Wir warten hier nicht! Wir sind ein ICE!“

In dem Moment gibt die Kette nach. Nein, sie reißt nicht, doch ihre verkeilten Glieder scheinen sich zu entkeilen, sodass sie wieder in die Freiheit streben können.

Es juckt mich, nun zu fabulieren, wie ich ruckartig nach vorne falle … ach, was soll’s, ich tu’s einfach.

Völlig überraschend löst sich die Kette; ruckartig krache ich nach vorne auf den Bahnsteig. Meine Stirn fängt den Aufprall ab, platzt auf, Blut spritzt an die Lok des ICEs, während Teile des Gehirns eines großen Denkers

Ich habe schließlich „gittern“ erfunden!

auf die Gleise fallen.

Nein, so war es nicht. Die Kette löste sich, ich atmete auf und rannte zur Wagentür. Denn tatsächlich kam mir die Überpünktlichkeit des ICE 844 zugute, andernfalls hätte ich ihn dieses Unglücks wegen verpasst.

Ich bedanke mich beim Leser für seine Aufmerksamkeit. Die Entstehung dieses Textes hat mir etwa 40 Minuten meiner Fahrzeit verkurzweilt. Ich hoffe, auch einige Minuten Ihrer Zeit.


Ich darf mich mit diesem Doppelschlag an Texten heute in den Urlaub verabschieden, den ich für eine Sommerpause des seppologs nutzen werde, da mir zur Zeit die Cait unter den Fingern verrinnt.