„Nimm dieses!“, denke ich, als ich meinen Kopf mit einer Reizunterflutung überrasche. Auf die Idee brachte mich mein Kumpel Merugin, der sich derzeit in Konflikt mit der Drogenmafia befindet, was hier aber keine Rolle spielen soll.

„Was brauche ich alles dazu, Merugin?“, wollte ich von ihm wissen, als er mir von dem neuen Konzept des Kopf-vor-den-Kopf-Stoßens erzählte.

„Du brauchst nur einen Stuhl und eine möglichst weiße Wand, auf jeden Fall aber eine einfarbige Wand. Am besten aber eine weiße. Grau geht auch.“

Okay. Stuhl habe ich, Wand mehr als eine. Eine rot, drei silber, eine grün, eine braun und alle anderen weiß.

„Dann stellst du den Stuhl unmittelbar vor die weiße Wand und setzt dich.“

„Und dann?“

Dann solle ich die Wand angucken.

„Nicht anstarren. Einfach nur angucken.“

Und so sitze ich nun nachts um kurz vor eins auf meinem Stuhl und gucke die weiße Wand an. Nein, ich starre nicht, ich gucke. Ganz, wie mir geheißen.

„Und dann? Was muss dann passieren?“

„Der Rest kommt von ganz allein. Dein Kopf wird reizunterflutet sein. Und dann wirst du es erleben!“

Was ich erleben werde, hat Merugin mir nicht verraten, da man das schlecht in Worte fassen könne, woran auch ich hier scheitern werde.

Ich sitze nun seit etwa einer Stunde vor der weißen Wand. Bislang habe ich lediglich festgestellt, dass die Wand mitnichten völlig weiß ist. Erschreckend viele Schattierungen durch Verschmutzung zieren die Rauhfaser, sodass ich erwäge, am kommenden Wochenende hier einmal Pinsel und Eimer zu schwingen, da ich mir unmöglich eine solch dreckige Wand zumuten kann. Doch ich nehme an, ich muss diesen Umstand der Verschmutzung beiseite schieben. Es geht bei der Reizunterflutung eher um etwas anderes. Glaube ich. Denn wissen tue ich nichts.

Ja, was weiß ich eigentlich? Welcher Erkenntnis kann man sich sicher sein, wenn man auf eine weiße Wand guckt? Ich realisiere immer mehr, dass es gar keine Gewissheit gibt! Auf fast existenziell bedrohliche Weise wird mir dieses glasklar! Ja nicht einmal das Weiß der Wand ist so gewiss, wie ich eben noch geglaubt hatte! Wenn selbst das in Frage gestellt werden kann, was ist dann noch sicher?!

Mir wird schummerig. Ist es das, was Merugin meinte mit Kopf-vor-den-Kopf-Stoßen?! Ich schreibe ihm bei Whatsapp:

alter, ich starre, nein, gucke!, auf meine dreckige tapete und fühle mich plötzlich verloren! muss das so?!

Die zwei Häkchen bleiben grau, meine Anfrage damit ungelesen. Mein Blick verharrt noch einige Minuten auf dem Handy, als ich sehe, dass Rudine, meine Hassfreundin, online ist, und klappe das Handy wieder zu. Nein, es ist kein Klapphandy, es hat aber so eine Klapphülle. Diese samt Handy schiebe ich zurück in meine Hosentasche und konzentriere mich wieder auf die Wand. In genau dem Moment vibriert das smartphone. Das müsste Merugin sein, doch es ist nur meine WordPress-App, die mir meldet:

marylandth und 79 anderen gefällt dein Beitrag Eignet sich Schreiben als bloßer Caitvertreib, ohne …

Ja, das war in der Tat ein guter Artikel, denke ich, schalte das Handy ab und schiebe es ein weiteres Mal in meine Hosentasche. Es soll mich nicht mehr stören. Beim Andiewandstarren. Gucken! Nicht starren!

Man kann seinen Kopf nicht vor den Kopf stoßen. So einfach geht das nicht mit dem Gehirn. Es lässt sich nicht so einfach reizunterfluten. Im Gegenteil, ist mein Eindruck. Es legt jetzt erst so richtig los! Merugin hat mich verarscht! Das Gucken auf die Wand bedeutet das Abschalten des permanenten Hintergrundrauschens, das, auch wenn im Hintergrund, das Gehirn doch unentwegt ablenkt. Lässt man es hingegen in Ruhe, das Hirn, läuft es plötzlich zu Hochtouren auf.

Warum eigentlich?

Weil das Hirn offenbar anders nicht kann. Es ist wie der untaugliche Versuch, an nichts zu denken. Geht halt nicht. Und nun sitze ich vor einer Wand und denke offenbar mehr denn je.

Hinzukommt, dass es kurz nach zwei in der Nacht ist. Worte zu finden, fällt mir gerade zunehmend schwer, übermüdet bin ich obendrein. Aber nicht das Gehirn. Es kann das Denken einfach nicht einstellen. Alle anderen Organe können zumindest in einen Sparmodus herunterfahren, während dieses sich selbst im Schlaf die tollsten Dinge ausdenkt, an die man sich meist leider nicht mehr erinnert.

Was, wenn ich nun nicht nur einige Minuten vor dieser Wand ausharre, sondern einige Tage, Wochen, Monate gar? Ich glaube, ich würde dem Wahnsinn anheim fallen, da ausbleibender input vermutlich dazu führt, dass das Gehirn sich diesen selbst ausdenkt. Die weiße Wand ist mein Elfenbeinturm.

Ich fühle mich zunehmend entspannt. Ich denke klarer. Gut, ich löse keine Probleme, aber ich habe auch derzeit caine ungelösten. Zumindest in der Theorie habe ich sie alle bereits gelöst, die praktische Umsetzung folgt. Problemlösung funktioniert sowieso am besten dann, wenn das Gehirn nicht abgelenkt ist – und: entspannt. Aber wie entspannt man sein Gehirn? Die weiße Wand scheint mir eine Lösung zu sein, die für Außenstehende natürlich etwas krank im Sinne von wahnsinnig wirken muss. Möglicherweise sind sie im Recht. Das ist mir aber egal. So, wie wir immer mehr Dinge völlig egal sind. Das übrigens ist die größtmögliche Form der Entspannung, die ich für mich bislang erreicht habe. Vieles juckt mich einfach nicht mehr, was mich vor wenigen Jahren noch beunruhigt hätte. Mein Selbstbild ist mir inzwischen wichtiger als das Bild, das andere von mir haben; ich habe da einen bitteren Lernprozess durchlebt.

Das also sind diese Gedanken, die ich vor einer weißen Wand bekomme. Eine graue Wand führt zu Suizid, das haben wir in Anlehnung an den Großmeister deutschen Humors bereits gelernt. Ich teste es besser nicht.

Ich hole mein Telefon wieder hervor, schalte es ein und erhalte eine Whatsapp-Nachricht von Merugin:

du hast dich jetzt ernsthaft vor eine weiße wand gesetzt?! :)))))