Nicht immer ist unseren Mitmenschen klar, warum wir Dinge so tun, wie wir sie tun. Es wäre auch wirklich zu viel verlangt, jede seiner Handlungen zu erklären oder zu rechtfertigen. Meist sind es ja doch nur kleinere Macken und Eigenheiten, die wir pflegen und die eben nur auf die Mitmenschen  irrational wirken. In einem Fachartikel habe ich diese Problematik jüngst abgehandelt, gefeiert von der soziologischen Fachwelt. Doch nun bin ich nicht nur jemand, der Probleme schafft und/oder auf sie aufmerksam macht, nein, ich liefere die Lösungen direkt mit. So kennt man mich, so schätzt man mich.

Damit meine Mitbewohnerin mich und mein Handeln künftig besser versteht, habe ich ihr einen Erzähler besorgt, der als Stimme aus dem Off mein Leben ab sofort gut hörbar für meine Mitbewohnerin kommentiert. Diese war sofort begeistert, als ich ihr einen kleinen Knopf, einen Lautsprecher in Miniaturformat, ins Ohr zu schieben versuchte.

„Halt mal kurz still.“

„Nicht jetzt, Seppo.“

„Nein, ich will dir was ins Ohr stecken.“

„Was?! Geht’s noch?“

„Ich hab dir einen Erzähler gekauft! Damit du ihn hörst, brauchst du diesen kleinen Knopf.“

„Muss der denn ins Ohr?“

„Ja, wohl kaum in die Nase. Moment … ja … steckt … tut’s weh?“

„Nein.“

„Kann der Erzähler kurz mal ansprechen?“

„Test, eins, zwei, drei … Dies ist ein Test. Steht die Verbindung?“

„Und, hörst du ihn?“, fragte ich.

„Ach du Schande. Der plappert mir nun den ganzen Tag ins Ohr?“

„Den ganzen Tag! Grandios, oder? Und auch nachts! Wenn es denn dann was zu kommentieren gibt!“

„Ein Strahlen erhellt Seppos Gesicht.“

„Das sehe ich doch!“, sagte meine Mitbewohnerin.

„Was siehst du?“

„Er hat gesagt, dass du strahlst.“

„Ich strahle?!“

„Er meint dein etwas debiles Lächeln.“

„Achso. Das siehst du doch!“

„Sag ich ja!“

„Das sieht sie doch!“

„Seppo blickt rufend nach oben.“

„Das sehe ich doch auch! Seppo, das ist nicht ausgereift. Er kommentiert ja wirklich alles!“

„Das wird sich schon einspielen. Es ist sein erster Tag.“

„Zärtlich streicht Seppo über das Haar seiner Mitbewohnerin.“

Diese anfänglichen Schwierigkeiten haben wir inzwischen mehr oder weniger abstellen sowie feststellen können, dass meine Mitbewohnerin nun auch über alles informiert ist, was ich tue, wenn ich beispielsweise in Berlin bin – arbeiten -, während sie beispielsweise in unserer Wohnung in Düsseldorf weilt. So auch am vergangenen Montag.

Etwaige Neuleser müssen wissen, dass ich drei Tage pro Woche in Berlin wohne und arbeite, dabei aus dem Koffer lebe. Ich bin Pendler.

Meine Mitbewohnerin liegt noch schlafend im Bett. Möglicherweise unsanft wird sie geweckt vom Erzähler, der natürlich darauf reagiert, dass ich eine Stunde vor meiner Mitbewohnerin in Berlin das Bett verlasse.

„Seppos Radiowecker piept. Schlagartig öffnen sich seine Augen. Seine Hand greift in Richtung des Radioweckers. Sie verfehlt ihn.“

„Großer Gott, RUHE!“, ruft meine Mitbewohnerin derweil rund 600 Kilometer entfernt. Doch der Erzähler wird nach Wortanzahl bezahlt und denkt gar nicht daran, seine Worte sparsam einzusetzen.

„Er reißt beim Versuch, den Radiowecker zu deaktivieren, seine Brille vom Nachtschränkchen, flucht, schaltet die Lampe ein, erreicht nun endlich den Wecker und schaltet ihn ab. Seiner Erektion schenkt er keine Beachtung. Offenbar ist er noch zu müde, doch das bleibt Spekulation.“

„Er ist nie zu müde.“

„Seppo richtet sich auf und flucht abermals.“

„Vermutlich die Dachschräge.“

„Mit dem Kopf ist er unsanft gegen die Dachschräge über seinem Bett gestoßen. Sein Handy piept. Es scheint das Signal einer Facebook-Nachricht zu sein.“

„Das weiß ich doch, ich hab ihm gerade geschrieben!“

„Seppo langt zu seinem Handy und liest eine Nachricht. Weil er zu Selbstgesprächen neigt, liest er sie laut: ‚Wie schalte ich den scheiß Erzähler ab?! Er labert mich voll und ich will eigentlich noch schlafen! Guten Morgen, übrigens.'“

„Ich bringe ihn um.“

„Seppo tippt auf seinem Handy eine Nachricht an seine Mitbewohnerin: ‚Guten Morgen! Warum bist du schon wach?!“

„Dieser Irre!!!!!! WEIL DEIN SCHEISS ERZÄHLER MICH ZUTEXTET!“

„Seppo entsteigt dem Bett, geht zu seinem Koffer. Nervös kramt Seppo in diesem, packt ihn letztlich komplett aus.“

„Ha! Jetzt merkt er, dass er sich keine Socken eingepackt hat! Die Sache fängt an, lustig zu werden!“

Und ja, ich habe trotz meiner Packliste, die ich jeden Sonntag abarbeite, vergangene Woche meine Socken vergessen. Ich trug drei Tage lang dasselbe Paar Socken. Es gibt leider Dinge, die mir eine Handwäsche unmöglich machten.

„Seppo greift zu seinen gestern getragenen Socken, hält sie vor sein Gesicht.“

„Bitte nicht, Seppo.“

„Und nimmt einen tiefen Atemzug. Sein Gesichtsausdruck ist ein angewiderter und er zieht jene Socken nun an.“

Am Mittwoch kehre ich gegen späten Abend nach Düsseldorf zurück. Als ich unsere Wohnung betrete, treffe ich auf meine völlig verstörte Mitbewohnerin.

„Seppo betritt die Wohnung.“

„Ich betrete nun die Wohnung!“, sage ich.

„ICH WEISS! ICH SEHE ES! UND ER ERZÄHLT ES MIR DOCH AUCH!“

„Sollte ein kleiner Spaß sein.“

„Seppo setzt sich neben seine Mitbewohnerin auf das Sofa. Sorgenfalten breiten sich auf seiner gesamten Körperfläche aus.“

„Du siehst krank aus, Mitbewohnerin.“

„Die Stimme. Ich höre immer diese Stimme. Ich weiß sogar, wann du wo auf dem Klo warst. Ich weiß, dass du jeden Morgen an deinen Socken gerochen hast. Und Dienstagabend.“

„Ja, und weißt du was? Ich trage sie immer noch.“

„Seppo hebt seinen Fuß an, hält ihn seiner Mitbewohnerin vor die Nase.“

„Hier. Das ist ein Geruch, den ich vor drei Tagen nicht für möglich hielt!“

Meine Mitbewohnerin stößt meinen Fuß weg. Ihr Gesicht ist blass, ihr Haar ergraut. Sie sieht um Jahre gealtert aus.

„Nimm mir diesen Knopf aus dem Ohr. Ich fand es viel besser, als ich nicht verstanden habe, warum du was wie tust. Ich hab es so gut ignorieren können!“

„Seppo legt seinen Arm um seine Mitbewohnerin. Nimmt dann ihren, den er auf seine Schulter legt.“

„Weißt du, was ich eben Lustiges im Zug gemacht habe?“, fragte ich sie.

„Ja! Natürlich weiß ich das! Er hat es erzählt.“

Rückblende zur Zugfahrt:

„Seppo will sich etwas entspannen. Er zieht seine Schuhe aus. Der Waggon leert sich nach und nach.“