Als Kind glaubte ich immer, die Höhe der Berge bemesse sich von ihrem Fuße aus. Wenn ein Berg also 1.881 Meter hoch ist, dann könne man an dessen Wurzel stehend 1,8 Kilometer in die Höhe blicken und seinen Gipfel in Augenschein nehmen, das möglichst staunend.

Der Tegelberg, neben dem sich unsere Ferienunterkunft befindet, erstreckt sich 1.881 Meter in die Höhe, allerdings eben nur über Normalhöhennull, was aber auch schon ganz imposant sein kann, zumal wenn wir unser Vorhaben umsetzen, den Tegelberg zu be- und anschließend wieder zu entsteigen. Dann nämlich ist nicht mehr die eigentliche Höhe des Gipfels interessant, sondern allein die Steigung, die dessen Besteigung dem Herzkreislaufsystem abverlangt.

Zwar wohnen wir irgendwie neben dem Tegelberg, dennoch fahren wir mit dem Auto zu dessen Fuße, weil der Schein der Berge trügt. Eben weil sie doch recht groß sind, wirken sie auch dann noch als naher Nachbar, wenn sie einige Kilometer entfernt stehen. Berge sind übrigens immer in Bewegung, allerdings erwarten wir nicht, dass wir den Tegelberg morgen früh beim Blick aus dem Fenster unserer in der Tat gemütlichen Wohnung nicht mehr sehen werden, weil er woanders hingegangen wäre. Der Tegelberg bleibt an diesem Orte und es klingt nun etwas pathetisch, vielleicht auch übertrieben als Folge meines Rausches, den mir dieser Urlaub verschafft, aber ich habe mich in diesen Berg verliebt. Ich würde sogar befürchten, ihn zu vermissen, wenn mein Mitbewohnerin und ich wieder in die Heimat fahren. Ins graue, verdreckte Düsseldorf.

Noch bevor wir den Forggensee umwandern werden, nehmen wir uns den Tegelberg vor. Gleich neben ihm steht ein größerer Berg, der Säuling, der aber irgendwie nicht mein Interesse weckt. Vielleicht, weil er nicht über eine Seilbahn verfügt, womöglich aber auch, weil ich ihn anders als den Tegelberg nicht aus meiner Kindheit kenne. Denn nach 1989 bin ich zum zweiten Mal in Füssen, allerdings dieses Mal ohne meine Eltern. Ich mache derzeit exakt die Art von Urlaub, die ich als Kind gehasst habe. Wandern fand ich als Kind beschissen, was für eine gesunde Kinderseele spricht, denn Kinder, die gerne mit ihren Eltern wandern, gehören auf dem Schulhof verprügelt. Ein normal entwickeltes Kind sollte so etwas hassen und eben andersartige Kinder verprügeln, was jeder Schulpsychologe übrigens rät.

„Ich bin damals mit meiner Familie mit der Tegelbergbahn da hochgefahren, dieses Mal gehen wir hoch! Und wieder runter!“, erkläre ich meiner Mitbewohnerin das erste Ziel dieses Urlaubes.

Noch sind wir unbefleckt an diesem zweiten Urlaubstag und gehen die Dinge naiv an. Das beginnt schon bei meiner Kleidungsauswahl.

„Soll ich das rote oder das blaue Kleid anziehen?“, frage ich meine Mitbewohnerin. Kleiner Scherz. Das hat sich nie ereignet. Und rot geht, glaube ich, gar nicht, habe ich bei Heidi Klum gelernt. Wobei es eine Staffel später dann doch oder erst recht ging. Wie dem auch sei, tatsächlich frage ich:

„Was ziehe ich eigentlich an bei unserer Bergtour?! Mir fällt gerade auf, dass ich nur Hemden mithabe. Und Jeans. Aber kalt ist es ja nicht. Müsste gehen.“

Wie sehr ich mich irren sollte! Kalt ist es wirklich nicht, wir haben Glück mit dem Wetter. Die Sonne scheint meist, während Regen ausbleibt.

Vier Euro kostet das Parkticket am Fuße des Berges. Bis 22 Uhr dürfen wir hier parken. Am Kassenhäuschen der Bergbahn besuchen wir noch die Toiletten und während der Leser sich uns dort nun urinierend vorstellen darf, nutze ich die Toilettenpause, um einmal deutlich hervorzuheben, in welch gutem Zustand sich alle, wirklich alle, Toiletten – ob öffentliche oder private – in dieser Region befinden. Liegt es an der Kurtaxe? Liegt es am soliden Finanzhaushalt Bayerns? Öffentliche Toiletten in meinem Heimatbundesland NRW sind meist von oben bis unten zugeschissen. Hier jedoch sind sie grundsätzlich in einem Ausmaß sauber, das ich nicht für möglich hielt. Respekt!

Wir starten den Aufstieg. Belächeln die Menschen, die die Bergbahn nehmen, um nach oben zu kommen. Nachdem wir gestern bereits 15 Kilometer gewandert waren, scheint es uns ein Leichtes, nun 1,8 Kilometer nach oben zu laufen, die es ja nicht einmal sind, siehe oben.

Zehn Minuten später bin ich schweißnass. Meine Mitbewohnerin läuft neben mir. Wir reden kaum miteinander, wir sparen uns die Luft fürs Atmen. Halten dann inne, setzen uns auf eine Bank.

„Das geht ja doch recht steil nach oben“, stelle ich fest.

„Das ist ja auch ein Berg, Seppo!“, sagt sie.

„Ja, aber soooo steil? Das kann doch jetzt unmöglich bis nach oben so weitergehen!“

Geht es auch nicht, es wird schlimmer. Um das aber nicht misszuverstehen: Es ist irgendwie geil. Hier wird der Körper gefordert, hier zeigt sich nun, ob mein heimisches Sporttreiben sich auszahlt. Und das tut es. Wir wandern ein beachtliches Tempo. Die Pumpe rast, doch genau das ist ja ihr Job. Und wer pumpt, der schwitzt. Röchelnd informiere ich meine Mitbewohnerin:

„Dass wir so schnell schwitzen, ist ja eben das Resultat vom Sporttreiben! Der Sportliche schwitzt schneller als der Unsportliche, wodurch er seinen Körper effizienter kühlen kann.“

Dieser Effekt hat jedoch zwei Nachteile. Rein optisch muten wir zum einen wie die letzten Flachlandhonks an, denen scheinbar der familienfreundliche Tegelberg ein Problem ist. Zum anderen wird der Kühlungseffekt zum Problem. Denn nun wird uns kalt. Insbesondere ich kämpfe mit meinem durchnässten Baumwoll-T-Shirt unter dem ebenfalls durchnässten Baumwoll-Hemd. Als Läufer hätte mir klar sein müssen, dass ich völlig falsch gekleidet bin für so eine Wanderung. Uns kommen Wanderer entgegen, die es richtig machen: Da tragen die Männer so genannte tights, unabhängig davon, wie albern sie damit aussehen. Sie tragen Windjacken, sie tragen Thermowäsche (immerhin haben wir Thermoskannen dabei), wie ich sie vom Laufen kenne. Wie ich sie sogar mit in den Koffer gepackt habe! Aber für das Laufen eben. Ich darf aber schon einmal anmerken, dass ich bis zum letzten Urlaubstage im Hemd wandern werde. Zwar gibt es zwischenzeitlich Überlegungen, mir bei „Intersport“ in Füssen angemessene Klamotte zu kaufen, doch vereiteln sehr restriktive Öffnungszeiten letztlich diesen Plan. In Füssen werden die Türen ab 18 Uhr verschlossen. Also findet jede Wanderung auch in Jeans statt, in der klebend meine Beine hängen. Diesen Zustand verfluche ich an jedem Urlaubstag, bin aber dabei auch stolz auf meinen Trotz. Vielmehr widern mich solche Menschen an, die für einige wenige Kilometer für überteuertes Geld überdimensionierte Wanderbekleidung erwerben, die sie womöglich nie wieder benutzen werden. Selbst meine Wanderschuhe sind billige „Multifunktionsschuhe“ für 60 Euro. Am Ende unseres Wanderurlaubes werden meine Mitbewohnerin und ich nicht eine Blase beklagen.

„Als Kind hatten meine Eltern mir so einen Wanderstock gekauft“, erzähle ich meiner Mitbewohnerin.

„Stört der nicht eher?“

„Ich schlug damit meinen Bruder.“

„Willst du jetzt einen Wanderstock?“

„Nein. Mein Bruder ist ja nicht hier. Aber alle, die uns entgegenkommen, haben diese nordic walking-Stöcke. Das ist doch albern!“

Als ich vor rund zwanzig Jahren durch die Berge wanderte, hatten die Menschen jeweils nur einen Stock. Nun haben sie in jeder Hand einen. Ich bezweifle ernsthaft, dass dieses Vorgehen großen Nutzen spendet – zumindest eine Hand sollte man im Falle eines Sturzes freihaben, um sie sich beim Abstützen zu brechen.

Nach einer halben Stunde haben wir uns daran gewöhnt, dass es teilweise recht steil nach oben geht. Die Aussichten, die sich uns bieten, sind der Lohn des Ganzen. Und weil dieses unsere erste Bergbesteigung ist, sind wir nahezu geflasht. Und ein wenig habe ich das Gefühl, dass diese Darbietung der Natur genau mein Ding ist. Sehen Sie nun, was ich sehe!

Wegweiser zeigen uns zwischendurch an, wie viele Stunden wir noch zu gehen haben, bis wir die Berghütte erreichen.

„Da steht eindreiviertel Stunden. Heißt für uns eineinhalb“, sage ich zu meiner Mitbewohnerin.

„Weil wir so schnell sind?!“

„Naja, ich nehme doch an, dass sie mit Durchschnittswerten arbeiten. Die können ja nicht ‚eine Stunde‘ drauf schreiben und Senioren wundern sich dann, dass sie vier Stunden unterwegs sind!“

Ich liege nicht ganz falsch, tatsächlich sind wir auch im weiteren Urlaubsverlauf immer deutlich schneller unterwegs, als es uns die Beschilderung, die mich ähnlich wie die Toiletten fasziniert, prophezeit.

Auf der Hälfte unseres Weges steht eine kleine Berghütte, die zur Einkehr lädt. Dass ausgerechnet heute dort Ruhetag ist, ficht uns nicht an, essen wir also das Mitgebrachte, das man dort an den anderen Tagen eben nicht verzehren darf. Für mich gibt es Teewurst.

„Dass du immer Wurst essen musst!“

… und für sie Obst.

„Kaffee oder Tee?“, biete ich ihr an.

„Beides.“

„Der Tee könnte etwas scharf sein“, warne ich.

„Ist das Ingwer-Tee?“

„Ja, aber ich hab noch ’ne Ingwer-Knolle mit reingetan. Kann mir ja niemand erzählen, dass in Ingwer-Tee …“

„Ja, hast du mir gestern schon mitgeteilt.“

„Ich vermute, dass wir in einer Stunde oben sind. Aber wir gehen erst weiter, wenn ich getrocknet bin.“

Das ist in diesem Wanderurlaub immer mein Vorgehen: Sobald ich komplett durchnässt bin, stelle ich mich in die Sonne, um zu trocknen. Doch die zweite Hälfte unseres Aufstieges findet ohne Sonne statt. Es wird deutlich kühler, die nasse Klamotte klebt an mir, der kahle Kopf schmerzt der Kälte wegen.

„Setz dein Käppi auf!“, rät meine Mitbewohnerin mir.

„Das ist nass. Dann wird der Kopf noch kälter.“

Der Vorteil des Kälteeinbruches ist jedoch der, dass wir den Rest des Weges noch schneller zurücklegen. Wir ersehnen die beheizte Hütte auf dem Gipfel, träumen von den heißen Getränken, die man uns dort kredenzen wird. Aber vorher kommen Stufen. Und was für welche! Kniehohe! Meiner Mitbewohnerin, die etwas kleiner als ich ist, gehen die Stufen fast bis zum Kinn (Hier übertreibt der Autor maßlos). Wir fluchen beide. Finden es nicht mehr so witzig. Doch es ist der Endspurt. Wir sind oben! Der Lohn der Anstrengung!

Umgehend kehren wir in der Berghütte ein. Ich bestelle einen Tee mit Rum, sie eine Flädlesuppe.

„Ich betrinke mich jetzt einfach“, kündige ich an, „Dann wird der Abstieg nicht so anstrengend.“

„Runter geht schneller.“

„Ich würde mich gerne umziehen.“

Am Nebentisch sitzt ein älteres Pärchen. Das deutlich klüger ist als wir, denn das zieht sich tatsächlich um. Wir beobachten, wie der Herr in einem frischen Hemd von der Toilette wieder zurückkehrt, wonach es ihm seine vermeintliche Frau nachtut. Wir hingegen versuchen am Kaminofen sitzend zu trocknen. Doch der Ofen ist leider aus.

Als wir dann wider Erwarten trockengelegt sind, uns gestärkt haben, verlassen wir die Hütte und lassen uns von den Panoramen in den Bann ziehen, die sich uns bieten.

„Da unten, das ist der Forggensee. Könnten wir ja mal drumherum laufen!“, überlegt meine Mitbewohnerin.

„Sieht nicht groß aus. Machen wir!“

Fotos vermögen es leider nicht, die Aussicht originalgetreu wiederzugeben:

Steigungen und Gefälle bilden sie leider schlecht ab. Und so kann der Leser womöglich nur erahnen, wie gefangen ich vom Ausblick war. Es hatte etwas Orgastisches.

„So, genug geguckt. Ab nach unten. Die Parkuhr tickt“, durchbreche ich den romantischen Moment. Fünf komma nochwas Kilometer zog sich der Weg nach oben, wir nehmen denselben zurück. Obwohl uns der alternative Weg sehr reizt, führt er doch am Schloss Neuschwanstein vorbei. Da er aber deutlich länger ist, entscheiden wir uns, an einem anderen Tag mit der Bergbahn nach oben zu fahren, um diesen Weg zu nehmen … vielleicht dazu später einmal mehr.

Natürlich ist ein Abstieg deutlich weniger anstrengend als der Aufstieg. Aber geübte Wanderer werden wissen, dass stetiges Bergablaufen zu Schmerzen führen kann und für die Knie alles andere als doll ist, anders als das Hochlaufen. Doch letztlich sind wir erheblich schneller unten als oben und runden die Wanderung im Kneipp-Becken ab.

„Lustig, hier stand ich vor 20 Jahren schon einmal drin!“

Es ist etwa halb sieben am Abend, der Parkplatz schon einigermaßen leer, die Sonne untergegangen. Wir stehen wieder am Fuße des Berges und blicken stolz und auch etwas wehmütig gen Gipfel.

„Schon krass, dass wir da eben noch waren!“, stelle ich fest.

„Ja, aber dieses Hoch und Runter immer!“

Hier zeichnet sich erstmals ab, dass meine Mitbewohnerin von den Bergen spürbar weniger begeistert ist als ich. Insbesondere das Bergablaufen kostet sie Nerven, die ich zu besänftigen versuche:

„Nach drei Tagen stellt sich ein Trainingseffekt ein. Dann lachen wir über diesen Aufstieg. Es wartet ja noch die Zugspitze …“

Was mich am Wandern fasziniert ist wohl die Nähe zur Natur oder zu dem, was wir noch für Natur halten. Es sind die Steine, die unter den Schuhen die steintypischen Geräusche von sich geben. Es sind die kleinen Hindernisse auf den unbefestigten Wegen, die man bewältigt. Es sind die Bergbäche, auf die man immer wieder trifft, die nie zu versiegen scheinen. Es ist die Luft, die man atmet, die eine ganz andere ist hier in den Bergen. Es ist eben dieses Alles, das die abgestumpften Sinne zu neuem Leben erweckt, Geist und Körper so umarmend erfüllt.

Und vor allem ist es das geile Gefühl, nach einer Wanderung zuhause anzukommen, die Beine hochzulegen zu können und zu wissen, dass man gerade etwas geleistet hat. Durch nichts als durch körperliche Betätigung bauen wir Stress besser ab. Abends gehen wir dann essen, oft kochen wir auch selbst in unserer Unterkunft, wobei mir einfällt, dass ich dringend über den Rauchmelder schreiben sollte, der in unserer Ferienwohnung auf jeden Fall intakt ist, wie meine Mitbewohnerin zweimal beweisen wird.

Und dann tue ich abends etwas, was ich zuhause nie tue. Und das eben macht Urlaubsseppo ™ aus. Ich verrate nicht, was wir tun. Aber hier komme ich auf den Geschmack. Beide sind wir ausgesprochen zufrieden.

Morgen steht eine Bootsfahrt zu den Forggenrobben auf dem Programm. Das sind die einzigen in Süddeutschland freilebenden Robben. Es gibt sie natürlich nicht. Aber man hat es mir geglaubt. Die Bootsfahrt wird ebenfalls nicht stattfinden. Sie wird der running gag unseres Urlaubes. Mal fällt eine Fahrt aus, mal ist das Boot kaputt – erst am letzten Urlaubstag werden wir sie antreten und auf einen Herrn treffen, der mich unbedingt in ein Gespräch verwickeln will. Und selbstverständlich scheitert. Doch dazu später vielleicht mal mehr.


Auf meiner Facebook-Seite veröffentlichte ich bereits einige mehr Fotos von diesem Urlaub. Weitere folgen vermutlich, da ich es nicht lassen kann. Schauen Sie gerne mal vorbei!

Bitte beachten Sie auch den vielbeachteten ersten Urlaubsbericht, der den Leser um den Forggensee führt.