Die Caiten, in denen das Wochenende zum maximal langen Ausschlafen genutzt wird, sind vorbei. Das hat womöglich damit zu tun, dass man älter geworden ist, was in meinem Falle bedeutet, zumindest statistisch betrachtet die erste Lebenshälfte bereits vollendet zu haben: Das Gros des Lebens liegt somit hinter mir; ab jetzt bin ich dem Tod näher als meiner Geburt. Diese Überlegung gewinnt an Brisanz, sollte ich heute noch tödlich verunglücken. Leider ist das so abwegig gar nicht, aber drücken wir mir die Daumen, nein, drücken wir uns die Daumen, wenn auch nicht gegenseitig, damit wir das Wochenende in vollen Zügen genießen können.

Wenn die Abrufzahlen des seppologs heute besonders niedrig sein sollten, müsste ich davon ausgehen, dass einige meiner Leser leider verstorben sind. Stellen Sie sich vor, das Lesen dieses Textes wäre das Letzte, was Sie in Ihrem Leben tun! Wäre das nicht traurige Caitverschwendung?! Es ist also an Ihnen, jetzt zu entscheiden: Weiterlesen oder die möglicherweise letzten Minuten dem liebsten Menschen widmen? Denn auch der könnte gerade ohne es zu wissen seine letzten Atemzüge tun. Zeit ist so dramatisch wertvoll. Wie soll man damit vernünftig haushalten? Dem oder der Liebsten nicht mehr von der Pelle rücken?! Und dann wider Erwarten 120 Jahre alt werden, genervt vom jahrzehntelang ohn Unterlass auf die Pelle gerückten Partner, sich selbst hinrichtend, um endlich Ruhe vor ihm zu finden?

Meine Mitbewohnerin ist von der 120 noch weit entfernt, wollte sich dennoch vor einigen Stunden noch das Leben nehmen. Was fatal wäre für meine Texte, denn was wäre ich hier im Blog ohne sie? Was wäre ich im Leben ohne sie?!

Dass wir mal bis zwölf oder auch nur elf ausschlafen, kommt nicht vor. Oder bis zehn? Könnte ich mich gerade nicht dran erinnern. Da müssten wir uns schon am Vorabend ordentlich einen ins Gesicht gestellt haben, um das zu schaffen. Wir sind vielleicht reifer geworden, wenn es denn überhaupt ein Zeichen von Reife ist, zu sagen: „Lass uns den Tag nutzen – und das schon ab morgens!“ Womöglich hat das wirklich etwas mit dem Alter zu tun.

Als Kind war für mich sonntagmorgens immer die spannende Frage, ob meine Mutter mich um halb zehn wecken würde. Denn das bedeutete immer: Kirche. Halb elf Gottesdienst. Der katholischen Kirche, für die evangelische kann ich nicht sprechen, würden weniger Menschen weglaufen, hätten ihre Gottesdienste einen gewissen Unterhaltungswert. Stattdessen sitzt, steht oder kniet man da und lauscht einem Mann (Der nicht mit Frauen oder Männern schlafen darf – das muss man sich mal reinziehen! Wie aberwitzig, wider die Biologie.) und will eigentlich nur schnell die Hostie verschlingen, weil die Kommunion meist gegen Ende erfolgt. Für mich immer noch unverständlich: Irgendwann kam in den Gottesdiensten immer der Punkt, wo Pfarrer Schneidewind (so hieß und heißt er wirklich) rief: „Gehet hin in Frieden!“ Man möchte meinen, er schickte uns dann nach Hause, aber nein, der Gottesdienst ging danach noch weiter.

Doch einmal im Monat gab es speziell für Kinder so einen „Familiengottesdienst“. Der war etwas lockerer, zumindest gewollt lockerer. Da durften wir Kinder dann auch mal zum Altar, was ich nie mitgemacht habe, weil ich nicht wusste, warum ich meinen Sitz- gegen einen Stehplatz am Altar eintauschen sollte. Und es gab diese „Band“. Auch wenn ich weiß, dass es falsch von mir ist, mich darüber lustigzumachen, tue ich es dennoch. Zu dieser „Band“ gehörten die besonders frommen Kinder. Die, die es auf dem Schulhof völlig zurecht nicht ganz einfach hatten. Die standen dann da vor der Gemeinde mit Gitarre und Querflöte und sangen christliche Lieder, die sie etwas aufgepeppt hatten. Anders als ihnen war mir schon als Kind bewusst: Einen Platz in der Hölle haben sie sicher. Dass ich dennoch nach wie vor Kirchensteuer abführe, hat mit der Rolle der Kirche in unserem zerbrechlichen Gesellschaftsgefüge zu tun. Abseits von Skandalen leistet die Kirche Gutes für dieses. Aber über Sinn und Unsinn von Gottesdiensten muss jeder für sich selbst entscheiden.

Jetzt gerade ist es acht Uhr 25. Eben stürzte mein Browser ab, was eine mühselige Rekonstruktion dieses Textes erforderlich gemacht hat und weitere vier Stunden zuvor wurde ich das erste Mal wach, also um vier Uhr 25.

Ich liege da und bin hellwach. Neben mir liegt, keine Überraschung, meine Mitbewohnerin. Ich vernehme ihr sanftes Atmen. Sehen tue ich sie nicht. Und selbst wenn es hell wäre, sie nimmt „Zudecken“ sehr wörtlich, meist ist lediglich ihr Haarschopf zu sehen. Mich wundert gelegentlich, dass sie sich nachts nicht erstickt.

Ich nehme mir vor, wieder einzuschlafen. Gehe aber vorher zur Toilette. Meist renne ich wovor, vor eine Wand, vor unsere Kommode zum Beispiel. Oder ich stolpere über diverse Sportgeräte, die vor meinem Bett liegen. Ich habe beispielsweise auf meiner Fußoberseite eine Narbe, weil ich vor einem Jahr an einer Kugelhantel hängengeblieben war, wobei ich mir den Fuß aufgerissen hatte. Man glaubt immer, man verletze sich, weil sie einem aus der Hand fallen, aber nein, es reicht, wenn sie nur so dahstehen.

Ich setze mich auf den Toilettentopf und stelle fest: Ich bin wirklich ausgesprochen wach. Ob ich den Tag einfach schon etwas früher beginne? Vielleicht blogge ich was! Oder suche eine neue Serie bei Netflix oder Prime. Gestern war ich auf „Rick and Morty“ gestoßen. Endlich mal wieder eine Trickfilmserie nach den „Simpsons“ und „Family Guy“, die mir außerordentlich gefällt! „Mindhunter“ habe ich ebenfalls für mich entdeckt, während ich große Probleme mit „Narcos 3“ habe. Ich vermisse Escobar. „Atypical“ kann ich jedem nur empfehlen, sehr lustig, sehr schön irgendwie. „Peaky Blinders“ habe ich dreimal gesehen, aber nur die erste Folge. Ich komme irgendwie nicht rein. Das gleiche gilt für „Berlin Station“. „Babylon Berlin“ hätte ich gerne gesehen, kommt in den Feuilletons so gut weg, ist aber nur bei Sky zu sehen. Die ARD trägt die Hauptlast der Finanzierung, zeigt dieses Meisterwerk aber erst in mehr als einem Jahr! Hat sich von „Sky“ über den Tisch ziehen lassen …

Ich gehe wieder ins Bett. Räuspere mich. Bewege mich hin und her. Sie hat aber auch einen tiefen Schlaf … Ich bewege mich zu ihr hin … lege meinen Arm um sie … endlich wird sie wach.

„Bist du schon wach?!“, fragt sie schlaftrunken.

„Gut, dass du fragst. Ja. Du auch?“

„Du bist so laut.“

„Entschuldigung. Mir ist langweilig.“

„Wie spät ist es denn?!“

„Fast acht.“

„Es ist noch so dunkel.“

„Ist ja auch nur fast acht.“

Sie greift nach ihrem Handy. Der Raum wird vom Display-Licht erhellt.

„Es ist erst kurz vor vier!“, sie missgestimmt.

„Sollen wir ‚Scrabble‘ spielen?“, frage ich.

„Um vier?!“

„Ich bin ausgeschlafen.“

„Ich aber nicht!“

„Kann ich lesen?“

„Hier?! Bei Licht?!“

„Ja, natürlich bei Licht!“

„Ja, meinetwegen.“

Ich schalte meine Lampe neben dem Bett an, warte bis die Energiesparbirne auch wirklich hell genug ist und durchwühle meinen Zeitungsstapel neben dem Bett.

„Ich glaube, ich gehe mal ins Treppenhaus und gucke, ob die Sonntagscaitung schon da ist.“

„Ja, aber kommentiere bitte nicht alles, was du tust.“

„Okay.“

Ich schließe die Wohnungstür auf und sprinte halbnackt nach unten zur Haustür. Am äußeren Türgriff klemmt meine Zeitung, die ich mir schnappe und wieder nach oben hechte. Nun gilt es, das Konglomerat an Artikeln möglichst leise zu entblättern. Nachts um vier sind Zeitungen sehr laut.

„Etwas leiser“, bittet meine Mitbewohnerin unhöflich wie bestimmt.

Um erstmal nicht weiterblättern zu müssen, lese ich aus Verlegenheit einen Artikel über den neuen Audi A8, der mich so gar nicht interessiert. Es folgt ein Text im Buch „Wohnen“ über einen Wohnkomplex in London, der optisch ein Schandfleck, aber nun wieder sehr begehrt ist. Dann erfahre ich, wie der Regenradar auf unsere Handys kommt. 16 Mikrowellen-Stationen stehen in Deutschland verteilt und messen via Mikrowellen die Bewegung von Wolken. Und wie der Zufall es so will, ist nicht meine Heimatstadt Münster Deutschlands Regenstadt, sondern: Füssen! Was für ein Zufall! Genau dort haben wir vor einer Woche noch Urlaub gemacht. Nirgendwo regnet es mehr als im Allgäu. Umgehend muss ich von diesem kuriosen Zufall meine Mitbewohnerin in Kenntnis setzen:

„In Münster regnet es gar nicht am meisten! Sondern in … na, rate!“

„Großer Gott, ich will schlafen!“

„In Füssen! Füssen hat seit 1920 den deutschen Regenrekord!“

In einem weiteren Artikel lese ich über die Bedeutung der horizontal erzählten Serie für den Buchhandel. Warum auch immer, aber die Umsätze des Buchhandels steigen wieder. Dann lese ich, dass Kohls Witwe alles erbt, was ich ungerecht finde, bis ich merke, sie erbt nur alles von Kohl, nicht von jedem in Deutschland Verstorbenen.

Ich arbeite mich zum Hauptbuch der Zeitung vor. Dieser Teil ist seit Monaten immer sehr anstrengend, weil es nur um Trump und die AfD geht. Lange hatte ich geglaubt, ein Trump sei in Deutschland unwählbar. Und dann haben wir (ich nicht) wieder Nazis in den Bundestag gewählt. Nun glaube ich, dass leider alles möglich ist. Unübertroffen in der Fülle an Trump-Artikeln ist allerdings donnerstags „Die Zeit“. Ich meine, sie beschäftigt inzwischen einen eigens abgestellten Karikaturisten, der nichts anderes tut, als jede Woche Trump zu (über-)zeichnen. Für sein orangefarbenes Haar hat sich die Einführung des Farbdruckes in Zeitungen auf jeden Fall gelohnt.

Weil mir über so viel Trump langweilig wird, entscheide ich, meine Uhren neu zu stellen. Ich habe mehrere Armbanduhren und werde unruhig, wenn diese nicht sekundengleich die Uhrzeit anzeigen. Es kann nicht sein, dass die eine fünf Uhr eins anzeigt, eine andere aber fünf Uhr drei. Doch welche Uhrzeit legt man als Referenz fest? Meine Funkuhr? Deren Uhrzeit unterscheidet sich von der auf http://www.atomuhr.de angezeigten um eine Minute. Welche nun nehmen? Wenn die Uhrzeit über das Internet übertragen wird, gibt es doch sicherlich einen Zeitverlust bei der Übermittlung der Bits. Aber gleich um eine Minute?! Und auch die via Funk übertragene Zeit braucht ja einige Zeit, bis sie bei meiner Funkuhr angekommen ist. Oder ist das gar eingepreist?! Ich entscheide mich für atomuhr.de, auch wenn ich glaube, sie weicht von der Atomzeit ab.

Ich nehme Uhr Nummer eins. Warte, bis deren Sekundencaiger auf 60 beziehungsweise null steht und stoppe sie. Drehe dann den Minutenzeiger auf die eins. Die Uhr zeigt nun fünf Uhr fünf an. Ich gucke auf meinen Laptop und warte, bis atomuhr.de auf „05:05:00“ springt und lasse dann die Krone meiner Uhr einrasten. Nun geht diese sekundengenau. Das wiederhole ich um fünf Uhr sieben mit der zweiten Uhr und so weiter.

Überlege dann, sämtliche Wanduhren in unserer Wohnung ebenfalls zu synchronisieren. Tue das und habe hernach das Gefühl, die Zeit endlich in den Griff bekommen zu haben. Und dann habe ich bei Netflix „The Babysitter“ geguckt: Einer der wenigen Netflix-Originale ohne Adam Sandler, was ich nicht mehr für möglich hielt. Gibt es einen zweiten Schauspieler, der ausschließlich in schlechten Filmen mitspielt?!

Jetzt ist es neun Uhr. Meine Mitbewohnerin kam eben herein.

„Du bist ein sehr kranker Mann“, sagte sie.